Transkript Portraitfilm CÉCILE

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Seftigenstrasse 41 3007 Bern Telefon +41 31 384 29 29 info@kinderschutz.ch www.kinderschutz.ch «Es soll aufhören!» Kinder als Betroffene von Partnerschaftsgewalt verstehen und unterstützen Audiovisuelle Themenmappe zur Sensibilisierung und Wissensvermittlung www.kinderschutz.ch/partnerschaftsgewalt Transkript Portraitfilm CÉCILE 00:17 Als ich jünger war, wo die Angst da war, habe ich das nicht wirklich wahrgenommen. 00:25 Es ist mir erst später bewusstgeworden, woher die Angst gekommen ist, dass ich sie immer noch in mir trage, obwohl das Ganze vorbei ist. 00:38 Ich weiss viele Momente, wo ich geweint habe und er mich darauf angesprochen hat, wieso weinst du? 00:45 Ich habe nie ehrlich gesagt wegen dir. Du machst mir Angst. Das ist nie vorgekommen. 00:53 Das ist mir auch erst später bewusstgeworden, dass ihn nie mit meiner Angst konfrontiert habe. Ich habe tausend andere Gründe gesucht. Ich habe gesagt, ich habe mein Lieblingsspielzeug verloren, obwohl ich es noch hatte. 01:10 Kaum war ich daheim, wollte ich gleich wieder flüchten. 01:14 Ich bin aus der Schule gekommen und dachte, ist er vielleicht schon früher von der Arbeit zurück? Oder erwartet mich nur meine Mutter? 01:16 Ich habe die Tür geöffnet und hallo gerufen, wie man das macht, wenn jemand zuhause ist, und je nach dem, was für ein Hallo zurückgekommen ist, war es von meiner Mutter, dann habe ich mich befreit gefühlt. 01:50 Es war meistens vor dem Schlafengehen. Ich und meine Schwester haben oben gespielt, und wenn es unten lauter geworden ist, hatten wir so unseren Blick, oh, oh, da passiert was. Ich bin dann wie erstarrt. Maria hat mich dann in ihre Obhut genommen. Und dann lagen wir zusammen unter dem Bett oder unter der Bettdecke. Seite 1/6

02:26 Es war so eine aufsteigende Lautstärke. Und irgendwann hat man nur noch ihn allein brüllen gehört, und wie er von einem Zimmer ins andere gewechselt ist, vom Wohnzimmer in die Küche, von der Küche ins Wohnzimmer. Die Spannung, die Schritte vom Wohnzimmer in die Küche, da habe ich immer ganz genau hingehört, ob es abweicht Richtung Treppenhaus, falls die Schritte in eine andere Richtung gehen. Ich hatte Angst: Jetzt komme ich noch dran. Erst hat er Mami zusammengeschissen, jetzt komme ich noch dran. 03:05 Vielleicht streiten sie, weil ich doch nicht so schnell gelaufen bin im Sportunterricht? Vielleicht haben sie das heute herausbekommen? Ich habe das halt auf mich bezogen. Oder sie sind doch nicht so glücklich mit uns, mit mir und meiner Schwester? 03:19 Und darum hatte ich immer so die Angst, jetzt kommt er rauf und 03:28 Es schnürt einem die Luft ab. Es zieht sich alles zusammen. Man hat das Gefühl, das Herz ist eine Tonne schwer. Man hat das Gefühl, das Leben geht morgen früh nicht mehr weiter Ich weiss nicht, wie ich am nächsten Morgen noch erwachen soll... 03:53 Es soll einfach aufhören. Man kennt das sonst eigentlich nicht. Es ist die erdrückende Angst, die einen nichts Anderes mehr sehen lässt. Hier und jetzt ist die Angst, und die lässt einen keine Sekunde weiterdenken. 04:09 Der einzige Wunsch, den man verspürt, ist, es soll aufhören. Es soll wieder so sein wie früher. 04:14 Es kommen einem auch so Flashback-ähnliche Erinnerungen. Wie es einmal im Zoo gewesen ist, und wie gern der Vater einen da gehabt hat, mit was für einer Liebe er dir entgegengekommen ist. Und warum ist das jetzt nicht mehr so? Es soll wieder so sein, wie damals. Es soll aufhören so zu sein, wie es jetzt ist. Das war, glaube ich, das erdrückendste Gefühl. 04:44 Es gibt immer wieder Wochenenden oder Ausflüge, die wir mit meinem Vater allein gemacht haben, die sehr schön gewesen sind, wo ich keine Streitereien gespürt habe. Ja, es gibt viele solcher Erinnerungen. 05:09 Meistens war es mein Vater, der laut war. Meine Mutter war immer der sichere Pol. Und einmal hat sie wirklich auf den Tisch gehauen, man hat dann auch sie gehört, und das hat sich so bedrohlich angehört, weil es etwas war, das ich nicht gekannt habe. Da habe ich gewusst, jetzt stimmt etwas nicht mehr. Seite 2/6

05:37 Und da hat meine Schwester gemeint, so das war s jetzt, wir packen unsere Koffer, wir ziehen aus. Sie hat unsere Koffer gepackt, unsere sieben kleinen Sachen, und wir sind zwei Strassen weiter zu unserer Grossmutter gegangen, völlig verweint, und haben gesagt, Mami und Papi streiten, wir können nicht mehr. Dürfen wir hier schlafen? Ich glaube sie hat sogar wohnen gesagt, weil sie davon ausgegangen ist, dass wir nie mehr zurückgehen. Und ich bin mit blindem Vertrauen mit ihr gegangen, weil ich gedacht habe, sie wird s schon wissen. 06:23 Früher hatten meine Schwester und ich ein sehr gutes Verhältnis, wenn ich an meine Kindheit denke Sie hat immer auf mich aufgepasst, hat mich überall hin mitgenommen. Und dann ist sie ins Teenage-Alter gekommen, und ich war das kleine Kind, das noch nicht so weit war. Später hatte sie dann einen Freund in Biel und war jedes zweite Wochenende bei ihm, und sonst war sie daheim. Also wirklich daheim war sie für mich eigentlich nicht, weil sie von Freitag bis Sonntag die Tür zu hatte. Und so habe ich ihren Schutz verloren. 07:05 Und ich habe auch eine starke Freundin verloren an meiner Seite. Sie war die einzige Person, die mir so ganz nah gekommen ist und für mich da war, ja. 07:19 Und es hat lange gedauert - wir sind beide ausgezogen, sie in eine WG, ich in eine WG, ich war achtzehn, sie war zwanzig - da haben wir erst wieder eine Bindung gefunden, die auch bis heute sehr stark ist, und darüber bin ich froh. Anne Voss 07.40 Das geht dir nah. Cécile Ja. 07:44 Ich bin halt auf der Strecke geblieben. Ich könnte sagen, ich habe meine Schwester an ihren Freund verloren. Aber ich könnte auch sagen, ich habe sie an meinen Vater verloren, denn sie ist ja ihm aus dem Weg gegangen. 08:06 Ich bin da völlig aus der Bahn geglitten. Ich habe den aggressiven Vater völlig ausgeblendet. 08:14 Ich hatte meinen Freundeskreis. Mir war wichtig, ob mich meine beste Freundin auch so gern hat wie ich sie, ob der Typ mich auch so herzig findet, wie ich ihn herzig finde. Seite 3/6

08:32 Was zu der Zeit auch noch war: hab ich noch genug Grass bis Ende der Woche? Ja, ich habe damals sehr viel und oft geraucht - also gekifft. Ich bin da richtig reingerutscht. Es hat keinen Morgen gegeben, wo ich nicht zwei Joints geraucht habe. Und ich denke, mit den Drogen habe ich das Abschalten gelernt. 09:00 Als Kind wünscht man sich nie, dass sich die Eltern trennen. Aber später, als ich dann auch selber Beziehungserfahrungen sammeln konnte und gesehen habe, dass meine Mutter nicht mehr glücklich ist und mir das mit der häuslichen Trennung erklärt hat, da habe ich dann gedacht, doch, eine häusliche Trennung ist vielleicht gut, aber ich habe nicht gewollt, dass sie sich scheiden lassen. 09:29 Unser Auszug war eine häusliche Trennung, das war so mit ihm vereinbart, unsere Mutter hatte auch die Hoffnung, dass sie dadurch vielleicht wieder zusammenkämen, aber für ihn war es einfach so: du nimmst mir meine Kinder weg, du reisst unsere Familie auseinander. Das hat ihm, glaube ich, ein ziemliches Loch ins Herz gebrannt. Und das hat er uns extrem spüren lassen, vor allem meine Mutter. Ich glaube, ihm ist gar nicht bewusst gewesen, dass das auch auf uns gewirkt hat. 10:00 Am Telefon sind dann Drohungen gefallen, wenn er besoffen angerufen hat. Ich bringe erst euch um und dann mich, und dann siehst du was du davon hast, dann hast du gar nichts mehr. Ich bin eigentlich mit offenen Türen aufgewachsen, aber dort in der Wohnung habe ich die Tür von innen abgeschlossen. 10:39 Als ich 16 oder 17 war, hat sich meine beste Freundin das Leben genommen. Ich habe es bei ihr nicht geahnt. Sie hat mir nie gedroht, dass sie sich das Leben nimmt. Ich habe nichts von ihren Problemen gewusst. Sie hat sich wortwörtlich aus meinem Leben gerissen. 11:00 Ich konnte fast nicht mehr schlafen. Ich habe gar nicht mehr geschlafen. Ich habe meine Lehre aber durchgezogen. Ich habe immer noch diesen Push in mir gehabt. Aber dann hat jeder Morgen damit angefangen, dass ich ins Kissen gebissen habe. Es lag so eine Last auf mir, ich wollte einfach nicht mehr. Gleichzeitig konnte ich nicht mit mir selber allein in einem Raum sein. Ich bin raus zur Arbeit. Ich habe in drei Wochen fast elf Kilo abgenommen. Ich habe nicht mehr gegessen, nicht mehr geschlafen. Ich glaube, ich habe gar nichts mehr getan. Ich habe nur noch existiert und funktioniert. Seite 4/6

11:40 Dann hat es angefangen, dass ich mir in der Nacht die Haut aufgekratzt habe. Ich bin aufgewacht, und es war Blut im Bett, was ich nicht nachvollziehen konnte. Und da habe ich Angst bekommen, nicht nur vor meinen Träumen, sondern auch Angst, dass ich mir etwas antue, ohne dass es mir bewusst ist. 12:00 Eine Freundin hat es dann irgendwie geschafft, an mich ranzukommen und hat festgestellt, hey, dir geht es ja mega schlecht. Ich hatte es ihr nicht gesagt, aber sie hat es gemerkt und hat mich zum Arzt gefahren. Da bin ich dann in Tränen ausgebrochen und habe gesagt, ich habe Angst vor mir, ich habe Angst. Ganz klar habe ich gesagt, ich habe Angst, ich weiss nicht mehr, was los ist, ich erkenne mich nicht mehr. 12:32 Und dann haben sie mich ins Kriseninterventionszentrum gebracht. Da war ich in einem geschützten Raum. Das hat mir wahrscheinlich am besten getan. Einfach die Ruhe, in dem geschützten Raum. Und da habe ich auch zum ersten Mal mit Psychologen über meine Vergangenheit gesprochen. Über die Schritte im Haus, die mir früher solche Angst gemacht hatten. Eigentlich habe ich gar nicht gross über meine verstorbene Freundin geredet. Sondern ich habe viel von meiner Vergangenheit ausgepackt. 13:02 Ich hatte ja sonst nie viel Kontakt zu meinem Vater, aber da hat er mich angerufen. Und er hat völlig normal mit mir geredet. Hast du Lust, mit mir einen Kaffee zu trinken? Das habe ich gar nicht von ihm gekannt. Und das hat mir sehr gut getan. Ich hatte noch nie so ein Gespräch mit ihm. 13:39 Er hat nicht gross gefragt. Ich habe halt angefangen, von mir zu erzählen. Dass es mich traurig - Man kann sich das so vorstellen, als würden sich zwei Zwölfjährige zum ersten Date treffen, und keiner traut sich zu reden. So ist das mit meinem Vater gewesen. Wir haben uns stockend unterhalten, das Thema ganz sanft angesprochen, auf Reaktionen gewartet und jedes Wort zweimal im Mund rumgedreht, bevor wir es rausgelassen haben. 14:17 Ich habe ihm gesagt, dass mich der Streit zwischen ihm und meiner Mutter ziemlich beschäftigt, und er hat geantwortet, dass ich ja hoffentlich weiss, dass das nichts mit mir zu tun hat. Dass sie einfach Differenzen hätten. Und das hat mir so die Abgrenzung geben zu sagen, hey, das ist eine Beziehung, die in die Brüche geht, nicht eine Vater-Tochter-Beziehung. 14:49 In der Zeit haben mein Vater, ich und mein bester Freund den Keller bei meinem Vater - also in unserem alten Haus renoviert. Wir haben ein kleines Studio daraus gemacht. Mein Freund war Maler, und mein Vater brauchte jemanden, der ihm mit den Gipsplatten hilft Es Seite 5/6

war so schön. Wir haben zusammen Musik gehört, wir haben zusammen gearbeitet. Ich bin ja auch Handwerkerin, und ich habe da so viel gelernt. Es war so schön, ihn nicht betrunken oder wütend anzutreffen. Ich hab gefunden, er hat sich wirklich gemacht. Und er hat gesagt, komm doch hierher zurück, du kannst hier wohnen, du hast doch gerade keine Wohnung. 15:40 Ich habe überlegt, ja, ja, ich glaube, ich würde ihm mega gut tun, vor allem nach dem Gespräch im Kriseninterventionszentrum. Da habe ich mich so verbunden gefühlt mit ihm, wie seit der Kindheit nicht mehr, eigentlich - wo noch wirklich alles gut gewesen ist. Und leider ist er dann in derselben Woche verstorben. Nicht durch einen Selbstmord, sondern er ist auf dem Sofa friedlich eingeschlafen. Und dann durften ich, meine Mutter und meine Schwester, das Haus übernehmen. Ja. Und nun sind wir wieder hier, in diesem Haus. 16:40 Ich bin dann drei Monate auf Reisen gegangen. Und da habe ich von null auf hundert aufgehört zu kiffen, zu konsumieren, alles. Ich habe einfach alles stehen und liegen lassen. Und dabei habe ich gemerkt, wie man Gras eigentlich unterschätzt. Ich kam zurück und hatte das Gefühl, es ist alles in mich eingebrochen. Alles, was ich durchs Kiffen verdrängt hatte, eben. Ich hatte Konflikte mit meinem Vater, bin rausgegangen, habe einen Joint geraucht, und es war mir völlig egal. Ich habe mich betäubt. Ich habe alle meine Gefühle einfach nur betäubt und abgestellt. Aber, dass das Unterbewusstsein mitgegessen hat in solchen Situationen, das habe ich völlig unterschätzt. Und nach den drei Monaten quasi Entzug, zurück in der Schweiz, da ist alles, was in mir ist, eingestürzt. Ich hatte das Gefühl, mein Unterbewusstsein kriecht mir aus dem Mund und gerät mir vor Augen. 17:44 Da war ich 19, jetzt bin ich 22 - und bin ich immer noch dabei, was mir früher passiert ist, zu verarbeiten. 17:56 Klar, ich meine, das, was noch weh tut, ist der Verlust. Ja, ich vermisse ihn. Das ist es, was mir extrem weh tut, die Sehnsucht, die ich nach ihm habe. Das können viele vielleicht nicht verstehen, die das mitbekommen haben mit seinen Drohungen, mit dass ich meinen Vater wirklich sehr, sehr, geliebt habe oder immer noch liebe. 18:37 Was mich jetzt, vier Jahre nach seinem Tod, immer noch sehr beschäftigt: Ich wünschte, ich hätte ihm helfen können. Ich weiss gar nicht mal, ob ich ihn jetzt mehr vermisse als damals, als er noch gelebt hat. Ich habe ihn schon da so sehr vermisst. Es ist schlimm, jemanden zu vermissen, der noch auf der Welt ist. Fast schlimmer, als jemand zu vermissen, der nicht mehr auf der Welt ist. 19:11 Man vermisst jemanden, der auf der Welt ist, das ist unbegreiflich. Aber, wenn der Mensch nicht mehr derselbe ist, der er einmal gewesen ist, nicht derselbe sein kann, weil er eingesperrt ist in sich selbst - weder er noch du hat den Schlüssel dazu - das ist fast tragischer als das Vermissen jetzt. Jetzt weiss ich, er hat seinen Frieden. Hoffentlich. Seite 6/6