Vorlesung Niederdeutsch in Geschichte und Gegenwart. Niederdeutsche Sprachgeschichte

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Transkript:

Vorlesung Niederdeutsch in Geschichte und Gegenwart Niederdeutsche Sprachgeschichte

Niederdeutsche Sprachgeschichte: Periodisierung Gängige Epocheneinteilung (seit Scherer 1878): Hochdeutsch: - Ahd.: 750-1050 - Mhd.: 1050-1350 - Frnhd.: 1350-1650 - Nhd.: 1650 - Gegenwart Niederdeutsch: - And. (As.): 800-1150 - Mnd.: 1150-1600 - Nnd.: ca. 1600 - Gegenwart

Mittelniederdeutsch: Planetenbuch (um 1400) Einige Vokabeln: Z. 225: sunder wan ohne Arglist, Z. 228: nomen benennen, Z. 229: Den denen, Z. 236: dure teuer, kostbar, Z. 240: nummer niemals, Z. 241: neyn kein, Z. 242: schen Geschehen, Z. 245: dusdane so beschaffene, Z. 245: heuet hebt, erhebt, Z. 249: harde sehr

Mittelniederdeutsche Sprachmerkmale Orthographie Allgemein: - Kleinschreibung der Substantive - graphematische Variation (227: amptesman / 234: ammetmanne; 241: dingk / 255: dink)

Mittelniederdeutsche Sprachmerkmale Orthographie Vokalismus: - kein postvokalisches <h> ( Dehnungs-h ) (225: vollendan, 226: wan, 242: schen); somit oft keine Längenkennzeichnung in geschlossener Silbe - kein <ie> für langes i (242: hir) - Graphie <y> für /î, i/ (229: syne, 237: synt) - Graphie <ey> für /ei/ (241: neyn) - Graphie <v> statt <u> (233: vnde, vns) - keine Umlautkennzeichnung (228: nomen, 230: jummer, 236: dure, 240: nummer, 249: nutte, 253: mothen)

Mittelniederdeutsche Sprachmerkmale Orthographie Konsonantismus: - keine regelmäßige Kürzenkennzeichnung durch Doppelkonsonantengraphien (227: -man, 228: kan, 229: al, 232: wil) - Schreibung des epenthetischen <p> (227: amptesman) - postkonsonantisches <h> (232: segghen, 253: mothen) - Schreibung von auslautendem Plosiv nach /ŋ/ (dingk > Ding) - Graphie <v> statt <f> (243: vrucht) - Graphie <u> statt <v> (245: heuet, 246: leuet)

Mittelniederdeutsche Sprachmerkmale Morphologie Verben: -erhaltene Flexionsformen im Präteritum (225: hadde > nnd. harr, 226: settede > sett) -Infinitiv auf -nde (230: to donde zu tun ) -keine Synkope bei Verben der 3.Ps.Sg. (233: leret > lehrt, 245: heuet > heevt, 246: leuet > leevt)

Mittelniederdeutsche Sprachmerkmale Morphologie Substantive/Adjektive/Pronomen: - Pluralbildung (227: amptesman -männer, 234: ammetmanne, 238: sternen > Steerns) - keine e-apokope bei Substantiven (229: sake > Saak, 235: nature > Natur) und Adjektiven (235: dure > düer) - erhaltene Genitive (239: godes, 240: desser) Unveränderliche Wörter: - keine e-apokope bei vnde und (233) - keine e-apokope beim Adverb harde sehr (249) - edder oder

Ostkolonisation

Ausdehnung der Hanse Der Danziger Hansekaufmann Georg Gisze (Bildnis von 1532) in London

Ausdehnung der Hanse

Lübeck als Zentrum des mittelniederdeutschen Kulturraums Lübeck als führende nd. Metropole des 14./15. Jhs. - im 15. Jh.: ca. 25.000 Einwohner (zweitgrößte Stadt des dt. Reiches, nach Köln) - günstige Lage zwischen Nord- und Ostsee > Lübeck als Handelszentrum - Sammelpunkt für die nach Osten ziehenden Siedler > Beteiligung Lübecks an den dortigen Städtegründungen (Vergabe des lübischen Rechts) - dadurch auch Lübeck als Ort des Sprachausgleichs (im Mündlichen) - Zentrum von Kunst und Literatur - Zentrum des Buchdrucks -> Lübecks Sprache als normgebendes Muster Domänen der sog. Hansesprache : 1) Handel: Schriftstücke zur Regelung der geschäftlichen Angelegenheiten der Hansekaufleute 2) Recht und Diplomatie: Stadtrechte, Privilegien, Urkunden, Protokolle usw. 3) Literatur: mnd. Drucke v.a. aus Lübecker Offizinen

Der Übergang zur frühneuhochdeutschen Schriftsprache

Der Übergang zur frühneuhochdeutschen Schriftsprache

Der Übergang zur frühneuhochdeutschen Schriftsprache Übergangsprozess nicht abrupt, sondern in Etappen (bezogen auf die Schriftsprache): Dreiphasenmodell von Artur Gabrielsson (1983)

Der Übergang zur frühneuhochdeutschen Schriftsprache Übergangsprozess nicht abrupt, sondern in Etappen (bezogen auf die Schriftsprache): Dreiphasenmodell von Artur Gabrielsson (1983) 1) Bewahrung des nd. Grundcharakters, aber mit hd. Entlehnungen: z.b. Präpositionen (nach, bei, zu, auf, durch), Pronomina (ich, mich, er, ihr, wir), prominente Lautmerkmale (z.b. neue Diphthonge ei, au, äu), formelhafte Wendungen (betzeugen offentlich, thun kundt), Fachwortschatz (Rechnung, empfangen, offentlich)

Der Übergang zur frühneuhochdeutschen Schriftsprache Übergangsprozess nicht abrupt, sondern in Etappen (bezogen auf die Schriftsprache): Dreiphasenmodell von Artur Gabrielsson (1983) 1) Bewahrung des nd. Grundcharakters, aber mit hd. Entlehnungen: z.b. Präpositionen (nach, bei, zu, auf, durch), Pronomina (ich, mich, er, ihr, wir), prominente Lautmerkmale (z.b. neue Diphthonge ei, au, äu), formelhafte Wendungen (betzeugen offentlich, thun kundt), Fachwortschatz (Rechnung, empfangen, offentlich) 2) Hd.-nd. Mischsprache mit systematischer Anwendung von Korrespondenzregeln zur Übertragung von nd. Wörtern ins Hd. z.b. wenn nd. î, dann hd. ei, wenn nd. û, dann hd. au, wenn nd. t, dann hd. z Entstehung hyperkorrekter Formen: kieken > *keichen gucken, Tass Tasse > *Zasse, Lappen Lappen > *Lapfen

Der Übergang zur frühneuhochdeutschen Schriftsprache Übergangsprozess nicht abrupt, sondern in Etappen (bezogen auf die Schriftsprache): Dreiphasenmodell von Artur Gabrielsson (1983) 1) Bewahrung des nd. Grundcharakters, aber mit hd. Entlehnungen: z.b. Präpositionen (nach, bei, zu, auf, durch), Pronomina (ich, mich, er, ihr, wir), prominente Lautmerkmale (z.b. neue Diphthonge ei, au, äu), formelhafte Wendungen (betzeugen offentlich, thun kundt), Fachwortschatz (Rechnung, empfangen, offentlich) 2) Hd.-nd. Mischsprache mit systematischer Anwendung von Korrespondenzregeln zur Übertragung von nd. Wörtern ins Hd. z.b. wenn nd. î, dann hd. ei, wenn nd. û, dann hd. au, wenn nd. t, dann hd. z Entstehung hyperkorrekter Formen: kieken > *keichen gucken, Tass Tasse > *Zasse, Lappen Lappen > *Lapfen 3) Hd. mit nd. Reliktformen

Das älteste Niederdeutsch: Altsächsisch Bedas Allerheiligenpredigt ( Beda-Homilie ) [Homilie = Predigt innerhalb der Heiligen Messe] Predigt über den Ursprung des Allerheiligenfestes (Übersetzung einer lat. Vorlage, 1. Hälfte 10. Jh.)

Das älteste Niederdeutsch: Altsächsisch

Das älteste Niederdeutsch: Altsächsisch kalend erster Tag des Monats, gewarf ging (< gewerfan gehen ), wither wieder

Das älteste Niederdeutsch: Altsächsisch thanana daher, gewarf ging (< gewerfan gehen ), wither wieder, ahter durch hin, gêra Jahr, vergômelôsôn versäumen, gefullôn vollständig erfüllen, gethingi Versammlung