Seite 1 von 8 Horizont 1806 endete das Reichsrittertum und Dürnau wurde württembergisch. Freiherr von Degenfeld, Eigentümer des Dürnauer Wasserschloßes, trat in französische Dienste am Hofe Bougainville. Im Rahmen der württembergischen Landesvermessung wurden 1844 die Gebäudebestände, auch in Dürnau, genauer erfasst; wenig später wurden diese in der Bestandsbeschreibung des Oberamtes Göppingen bezeichnet als Dem Zerfalle nahe und ganz und gar unbewohnt. Ein Jahr später erfolgte der Abriss des größten Teils des Schlosskomplexes. Damit wurde der Blick frei zum Horizont. Wie gelangt man ans Ende der Welt und darüber hinaus?
Seite 2 von 8 Wie erobert man den Horizont und wie greift man in den Raum, der dahinter liegt? Louis Antoine de Bougainville umsegelte im 18. Jahrhundert als erster Franzose die Welt, immer auf der Suche nach dem südlichen unbekannten Land das es gar nicht gibt wie der Engländer Cook zwei Jahre später beweisen sollte. Mein Kartograph zeichnet die ganze Erde auf ein Stück Papier und so kann ich sie zusammengefaltet in meiner Rocktasche bei mir tragen, schrieb Bougainville an den Freiherrn von Degenfeld und weiter Doch es gibt keinen Ort mehr, den ich noch erreichen können wollte; es ist alles erreicht. An der Pointe de la Loge, in der Normandie, setzte er sich auf einen Sessel und schaute die restliche Zeit seines Lebens durch ein winziges Fenster seines Schlosses aufs offene Meer hinaus. Heute eifern ihm Tausende nach und treffen sich an jedem 18. Juni an jenem Küstenabschnitt um von dort aus gemeinsam den Horizont zu betrachten.
Seite 3 von 8 Die Linie des Horizonts existiert überhaupt nur dadurch, dass man ihrer nicht habhaft werden kann. Daher eignet sie sich so wunderbar als reale Metapher für eine irreale Vorstellung. Als gäbe es das Göttliche tatsächlich in der Welt, und die Unendlichkeit im Endlichen. Einzig, um sich darin zu verlieren. Betrachten Sie nun einmal all die Dinge, die Ihnen evtl. den Blick zum Horizont verstellen. Den Baum. Die Mauer des Hofes. Die nächste Häuserzeile mit der Filiale der Kreissparkasse. Hinter dem Von-Degenfeld-Weg am Ortsrand, die Streuobstwiesen. Die Mobilfunkantenne auf freier Flur. Das Klärwerk am Riesbach was eben in Nord-Nord-Westlicher Richtung liegt. Um den Blick zum Horizont freizulegen, betrachten Sie diese Hindernisse zuerst sehr aufmerksam, oder stellen sie sich diese vor und denken sie Sie dann aus Ihrem Bild weg. Überlegen Sie nun, was Sie erblicken würden, wenn diese direkten Hindernisse auf dem Weg zum Horizont ausgeräumt wären. Betzgenried Schopflenberg weitere Streuobstwiesen hügeliges Umland
Seite 4 von 8 das Filstal den Schurwald den Stuttgarter Kessel. Denken Sie sich auch diese Hindernisse weg. Worauf stieße Ihr Blick als Nächstes? Dunst in der Rheintalebene, Heidelberg im Nebel Denken Sie das alles weg. Schauen Sie noch weiter. Ab einer gewissen Entfernung ist Ihrer freien Sicht die Erdkrümmung im Weg. Erdkrümmung wegdenken. Immer noch in Nord-Nord-Westlicher Richtung Koblenz, Köln, Amsterdam, die britischen Inseln, London, auch im Nebel, wegdenken. Die norwegische Küste rechts, hinter der Nordsee, wegdenken.
Seite 5 von 8 Irland, Island, Grönland. Kanada von der Ostküste bis nach Vancouver. Am Golf von Alaska wird der Blick frei über die weite Strecke des Pazifischen Ozeans, links unten blau und wunderbar. San Francisco die Erdkrümmung immer weggedacht. Bis Sie auf Hawai stoßen, auf Maui, und weiter auf Samoa, Tonga, die Antipoden-Inseln, auf das ewige Eis der Ost-Antarktis und über den südlichen Ozean Richtung Afrika. Moment. Was? Australien? Kuala Lumpur!
Seite 6 von 8 Madagaskar. Mauritius! Vor Ihnen Afrika. Sie lassen dort den Kilimandscharo rechts und Namibia links liegen und denken sich auch diesen Kontinent bis in seinen Norden hinauf in Gänze weg. Rechts hinter dem Kilimandscharo die Arabischen Emirate. Auch Südeuropa, wegdenken. Südfrankreich. Die unübersichtlichen Alpenländer: Südtirol, Zillertal, Wien die ganze Schweiz mit dem Berner Oberland wegdenken. Lindau und den Bodensee
Seite 7 von 8 wegdenken. Den Südschwarzwald, das Allgäu Sie gelangen schließlich auf die Schwäbische Alb. Blaubeuren, Laichingen, Trackenstein den Kornberg über der A8. Die südlichen Ortsteile von Dürnau, die Bäckerei Böhringer an der Gammelshauser Straße. Das Feuerwehrgerätehaus, die Gemeindeverwaltung. Die verbliebenen Gebäude des Wasserschloßes. Sie sehen, sich selbst von hinten,
Seite 8 von 8 bei dem Versuch, einen ungehinderten Blick zum Horizont zu erhaschen. Nur noch Sie selbst, stehen Ihrem freien Blick im Weg. Denken Sie sich weg.