Fukushima oder die Angst vor der Wolke Kindermedien zum Thema Atomkraft von Mirijam Seitz Angesichts der aktuellen Lage in Japan hat sich auch in Deutschland die Frage nach der Nutzung der Atomkraft als Energiequelle neu gestellt. Für Eltern und Pädagogen gilt es, zu überlegen, wie sie mit Kindern und Jugendlichen über dieses technisch hoch komplexe und emotional schwer zu fassende Thema sprechen können. Ein Gesprächsanlass können Kindermedien sein, die den Erwachsenen im Idealfall helfen, die schwierigen Sachverhalte mit den Kindern gemeinsam zu durchdringen. Solche Medien sind allerdings rar. Im deutschsprachigen Raum ist es die Autorin Gudrun Pausewang, deren Name untrennbar mit der Warnung vor der atomaren Gefahr verbunden ist. In der Sammlung Stottele stößt man bei der Suche nach Kindermedien zum Thema auf zwei sehr unterschiedliche Bilderbücher, die als zeitgeschichtliche Dokumente äußerst aufschlussreich sind. Sie belegen, wie sich die Sichtweise auf die Nutzung der Atomenergie und dessen Vermittlung an sehr junge Kinder in den vergangenen Jahrzehnten gewandelt hat. Das Kernkraftwerk als integraler Bestandteil der Landschaft Titel und Abbildung aus dem Bilderbuch Wie arbeitet ein Kernkraftwerk von 1971 Das Sachbilderbuch Wie arbeitet ein Kernkraftwerk, das 1971 im Ellermann Verlag erschien, wirkt für den heutigen Betrachter/Leser kurios. Hier werden die komplexen Abläufe in einem Atomkraftwerk anschaulich dargestellt und erklärt. Gefahrenpotenziale werden allerdings lediglich kurz angeschnitten und dies auch nur, um hinterher in beruhigende Verweise auf die hohen Sicherheitsvorkehrungen innerhalb der Kraftwerke zu münden. Ansonsten wird in diesem Buch das fortschrittliche Potenzial der Kernenergie betont. Die kolorierten Tuschezeichnungen vermitteln den Eindruck der harmonischen Einbettung der Atomkraftwerke in die Landschaft. So mag es wenig verwundern, wenn das Buch mit zukunftsgewissem Fortschrittsglauben folgendermaßen endet: Es sind neue Kernkraftwerke geplant und im Entstehen. Sie werden in Zukunft unsere Häuser, Fabriken und elektrischen
Verkehrsmittel mit Strom versorgen. Hier scheint in der Kernkraftwelt noch alles unter Kontrolle zu sein. Ganz anders steht der heutige Rezipient dem unter dem Eindruck der Atomkatastrophe von Tschernobyl entstandenen Bilderbuch Die Kinder in der Erde von Gudrun Pausewang und der Illustratorin Annegret Fuchshuber gegenüber. Dieses Bilderbuch, an dessen Entstehung die Stifterin unserer Sammlung, Gisela Stottele, als Redakteurin maßgeblich beteiligt war, erzählt ein Märchen vom Bündnis der misshandelten Mutter Erde mit den Kindern. Für junge Leser/Betrachter, die noch nicht mit dem Thema Atomkraft in Berührung gekommen sind, lässt sich das Buch auch als reine Umweltschutzgeschichte lesen. Sowohl im Text als auch im Bild gibt es jedoch deutliche Hinweise darauf, dass die Gefahrenpotenziale der Atomenergie hier als alle anderen schädlichen Einflüsse des Menschen auf seine Umgebung überschattende gesehen werden. Mutter Erde, in den Illustrationen als großes Bodengesicht dargestellt, lässt die Anklage, die sie an die Menschen richtet, in folgende Worte münden: Und jetzt habt ihr in euren Atommeilern sogar noch schlummernde Kräfte geweckt, die so unbändig sind, daß ihr sie nie beherrschen könnt. Seid ihr denn von allen guten Geistern verlassen? Die Erwachsenen wollen diesen Hilfeschrei nicht hören. Die Kinder jedoch versuchen auf Geheiß der Erde, die Großen von den Gefahren ihrer rücksichtslosen Lebensweise zu überzeugen. Die Erwachsenen sind zunächst nicht zu überzeugen. Eindrücklich ist an dieser Stelle das Bild eines kleinen Jungen, der vor der trüben Kulisse eines Kraftwerks und an gelben Atommüllfässern vorbeispaziert. Erst als die Kinder im Leib der Erdmutter verschwinden, erkennen sie, wie falsch sie sich verhalten haben, und verfallen in große Trauer. In dieser lethargischen Zeit kann die kranke Erde langsam wieder genesen. Lebenszeichen wie eine Schwalbe oder Löwenzahn durchbrechen das dunkle Grau der Bilder. Schließlich gibt die Erde den Eltern die Kinder zurück. Die Generationen beginnen gemeinsam, wieder gutzumachen, was sie der Erde angetan hatten. Unter anderem bedeutet dies, dass sie sogar ihre Atommeiler ab[bauten], auf die sie so stolz gewesen waren. Die Darstellung der Kinder im Erdinneren, die das Kernstück dieses Buches ist, verweist auf Sibylle von Olfers Bilderbuchklassiker Etwas von den Wurzelkindern (EA 1906). In Die Kinder in der Erde wird das romantische Kinderbild, die Idee des guten, mit der Natur verbundenen Kindes, angesichts gleichzeitig schlimmster äußerlicher Bedrohung aufrechterhalten. So vermag es das Buch auch, seinem Anspruch als Märchen entsprechend, positiv zu enden.
Die Autorin dieses längst vergriffenen Buches, Gudrun Pausewang, mittlerweile 83 Jahre alt, ist in den letzten Wochen eine in den Medien viel gefragte Frau. 1 Dies ist darin begründet, dass ein anderes Buch der Schriftstellerin den kinderliterarischen Diskurs über die nukleare Gefahr zumindest im deutschsprachigen Raum beherrscht. Es handelt sich dabei um das bereits ein Jahr vor dem Bilderbuch entstandene Jugendbuch Die Wolke. Darin wird die Geschichte des Mädchens Janna-Berta erzählt, das vor der Gefahr eines Atomunfalls in einem deutschen Kraftwerk fliehen muss. Das 1988 nach längeren politischen Diskussionen mit dem deutschen Jugendliteraturpreis ausgezeichnete Buch ist bis heute als Schullektüre fest verankert und animierte darüber hinaus zu verschiedenen Adaptionen. 2006, 20 Jahre nach Tschernobyl, entstand der gleichnamige Film, in dem die Geschichte aktualisiert und der Plot um eine Liebesgeschichte der hier als Hannah vorgestellten Protagonistin angereichert wird. Zwei Jahre später widmete der Ravensburger Buchverlag, an den Erfolg des Buches anknüpfend, eine Graphic Novel im Manga-Stil. Das Jugendbuch Die Wolke und seine Adaptionen: Film von 2006 und Graphic Novel von 2008 Auch im Bereich des Sachbuchs für Kinder und Jugendliche lassen sich, wie schon am eingangs besprochenen Buchbeispiel ersichtlich, interessante Tendenzen des Umgangs mit dem Thema beobachten. So widmete sich beispielsweise die populäre WAS IST WAS -Reihe in ihrem insgesamt dritten Band, der noch 1975 verlegt wurde, dem Titelthema Atom- Energie. Heute trägt Band 3 nur mehr den Titel Energie. Auf der Internetseite der Reihe wird der aktuelle Band folgendermaßen vorgestellt: Dieser WAS IST WAS-Band erklärt das Thema Energie sachlich, ohne dabei einseitig zu sein. Der Autor, Dr. Erich Übelacker, beschreibt die gewaltigen Zukunftschancen, welche die Kernenergie bietet, genauso wie die ungeheuren Gefahren, die uns beim Versagen der Kerntechnik oder gar durch einen Atomkrieg drohen. Dabei erklärt er alle wichtigen Begriffe zu diesem Thema. 2 Ein Schwerpunkt des Bandes liegt also weiterhin auf der Atomenergie. Auch in Band 24 der Reihe, der sich dem Thema Elektrizität widmet, findet sich ein Kapitel über die Funktionsweise von Kernkraftwerken und die Frage, warum bei uns keine solchen Kraftwerke mehr gebaut werden. Innerhalb des WAS IST WAS-Internetauftritts, den man als Teil des Medienverbunds bei der Betrachtung der Reihe einbeziehen kann, werden unter der Rubrik Technik/Energie/Umwelttechnik gegenwärtig Fakten zur japanischen Atomkatastrophe 3 geliefert. Höchst brisant ist in diesem Zusammenhang, dass im gleichen Bereich einige als Werbung für die Energiegesellschaft RWE gekennzeichnete Artikel zu finden sind, in denen die Betreibergesellschaft mehrerer deutscher Atomkraftwerke über Solarenergie, Energieträger und Kraftwerke mit fossilen Brennstoffen informiert. Für Kinder dürfte wohl kaum ersichtlich sein, auf welche Weise hier Werbung und Information miteinander verquickt werden. 1 U. a. widmete ihr der hessische Rundfunk in der Sendung hauptsache kultur am 25.03.2011 einen Beitrag, in dem sie vor allem auf ihr Buch Die Wolke angesprochen wird (www.hr-online.de/website/ fernsehen/sendungen/index.jsp?jmpage=1&rubrik=56469&mediakey=fs/hauptsachekultur/20110325_ hk_die_wolke&type=v&jm=2&key=standard_document_41099191, Stand: 31.03.2011.). 2 www.wasistwas.de/shop/band-energie-p-8.html, Stand: 31.03.2011. 3 www.wasistwas.de/technik/alle-artikel/energie-umwelttechnik.html, Stand: 31.03.2011.
Ein Klassiker des Kinderfernsehens zum Thema ist die Atom-Maus von 1988, eine Extra- Ausgabe der Sendung mit der Maus, die in der Bibliothek der Sachgeschichten auch als DVD erhältlich ist. In sieben Einzelbeiträgen zeigen Armin Maiwald und Christoph Biemann darin, was ein Atom ist, wie mit Atomkraft Strom gewonnen wird und welche Gefahren diese Art der Energieerzeugung mit sich bringt. Sehr anschaulich wird hier beispielsweise das Prinzip der Kettenreaktion mit Hilfe von Tischtennisbällen und Mausefallen dargestellt. Betroffenheit stellt sich beim erwachsenen Betrachter ein, wenn Armin Maiwalds Stimme das Versenken von Fässern in die Schachtanlage Asse mit dem Satz begleitet: Na, wenn das mal alles dreißigtausend Jahre lang gut geht. Der Umgang mit dem Thema ist hier zwar insgesamt ernsthaft, aber nicht verstörend. Auch die Möglichkeiten der zur Entstehungszeit dieser Maus-Folge noch in den Kinderschuhen steckenden erneuerbaren Energien werden angedeutet. Ähnlich wie in dem im gleichen Jahr erschienenen Bilderbuch Die Kinder in der Erde wird das Motiv eines Spielzeugwindrads mit der Perspektive der Stromerzeugung durch Windkraft verbunden. Das hoffnungsfrohe Ende der Atom-Maus ermuntert die zuschauenden Kinder, eigene Ideen zu finden, die in der Zukunft die Gefahren der Atomkraft eindämmen können: Vielleicht seid ihr ja die Erfinder der Zukunft, denen das einfällt, was wir uns heute noch gar nicht vorstellen können. Nun sind die hier exemplarisch vorgestellten Kindermedien zum Großteil schon relativ alt, häufig entstanden als Reaktion auf die Katastrophe in Tschernobyl. Einen kleinen Ausblick auf die Art und Weise, wie die nukleare Bedrohung in gegenwärtigen Kindermedien verhandelt wird, kann eine Sondersendung des Kindernachrichtenmagazins Logo 4 geben. Neben Berichten über das Erdbeben und den Tsunami in Japan bestand in dieser Sendung die Gelegenheit für die im Studio anwesenden Jugendlichen, Fragen zum Thema zu stellen, für deren Beantwortung der Physiker Volker Erbert zur Verfügung stand. Unter anderem wurden in der Sendung die Funktionsweise eines Kernkraftwerks und der Vorgang der Kernschmelze erklärt, die möglichen Schutzvorkehrungen besprochen und die Frage nach der Gefährdung in Deutschland erörtert. Nach der Sendung konnten auch die Zuschauer vor den Bildschirmen per Internetchat 5 Fragen an den Experten stellen. Es bleibt abzuwarten, welche Neuerscheinungen die Katastrophe in Japan auf dem Kindermedienmarkt nach sich zieht. Möglicherweise werden auch Werke japanischer Autoren zu uns gelangen, wird die Auseinandersetzung mit dem Unglück unter anderem im Manga, einem zentralen Medium der Vermittlung japanischer Kultur an europäische Jugendliche, stattfinden. Begrüßenswert wäre es in jedem Fall, wenn die Diskussion des Themas Kindern auch im Gewand gegenwärtiger Kinderliteratur eröffnet würde. Bis dahin muss auf die wenigen Materialien zurückgegriffen werden, die bereits vorhanden sind. 4 www.tivi.de/tivivideos/beitrag/1295126?view=flash#10400, Stand: 3.4.2011. 5 Das Chatprotokoll ist einsehbar unter: www.tivi.zdf.de/tivi-treff/chat/protokoll.php?chatid=497302, Stand: 3.4.2011.
Medien zum Thema Kindermedien Burlaka, W. J.; Liptschenko, Oleg (Ill.), 1994, Katja, Kotja und die künstliche Sonne, Esslingen: Esslinger. Fuchs, Erich, 1971, Wie arbeitet ein Kernkraftwerk, München: Ellermann. (ED 5430 F951 W64) 6 Hage, Anke, 2008, Die Wolke. Eine Graphic Novel von Anke Hage nach dem Roman von Gudrun Pausewang, Ravensburg: Ravensburger Buchverlag Otto Maier. Hesse, Karen; Brandt, Heike (Übers.), 1997, Phoenix Rising, Würzburg: Arena. Köthe, Rainer, 2001, Elektrizität, Nürnberg: Tessloff, Reihe Was ist was, Bd. 24. Maiwald, Armin, 2006 [Erstausstrahlung 1988], Bibliothek der Sachgeschichten, A2-Atom- Maus, Hamburg: Edel Germany. Novelli, Luca; Braun, Anne (Übers.), 2008, Marie Curie und das Rätsel der Atome, Würzburg: Arena. Pausewang, Gudrun; Fuchshuber, Annegert (Ill.), 8 1993 [EA 1988], Die Kinder in der Erde. Ein Märchen, Ravensburg: Otto Maier. (ED 5540 P334 K5.993 ) (nicht mehr aufgelegt) Pausewang, Gudrun, 1989 [EA1987], Die Wolke. Jetzt werden wir nicht mehr sagen können, wir hätten von nichts gewusst, Ravensburg: Ravensburger Buchverlag Otto Maier. Rusch, Regina, 1996, Mitten im Frühling, Würzburg: Arena. (nicht mehr aufgelegt) Schnitzler, Gregor (Regie), 2006, Die Wolke. Nach einem Roman von Gudrun Pausewang, München: Concorde Home Entertainment (DVD). Staguhn, Gerhard, 2 2005, Die Jagd nach dem kleinsten Baustein der Welt, München: dtv, Reihe Hanser. Übelacker, Erich, 2008, Energie, Nürnberg: Tessloff, Reihe Was ist Was, Bd. 3. Sekundärliteratur: Kessler, Rainer, 2000, Grenzsituation und nukleare Gefahr. Studien zur Jugendliteratur und ihrer Vermittelbarkeit; zur Funktion von Grenzsituation, Denkstil, Charakter und Reifung sowie Dystopie und Utopie in der deutsch- und englischsprachigen Jugendliteratur, Frankfurt u. a.: Peter Lang. kjl&m 2009, Heft 09.4, Thema: Die angekündigte Katastrophe oder: KJL und Umweltschutz. Lindenpütz, Dagmar, 4 2005, Natur und Umwelt als Thema der Kinder- und Jugendliteratur, in: Lange, Günter (Hrsg.), Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur, Bd. 2, Baltmannsweiler: Schneider, S. 727-745. 6 Unter dieser Signatur finden Sie das jeweilige Buch in der Sammlung Stottele.