Nach der Krise ist vor der Krise: Lebensmittelsicherheit zwischen Weltanschauung und globalisiertem Handel

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Transkript:

Jahrestagung 2011 Nach der Krise ist vor der Krise: Lebensmittelsicherheit zwischen Weltanschauung und globalisiertem Handel Prof. Dr. Dr. Andreas Hensel Präsident Bundesinstitut für Risikobewertung 14. April 2011 Haus der Deutschen Wirtschaft Berlin

BfR-Präsident Prof. Dr. Dr. Andreas Hensel: "Lebensmittelsicherheit zwischen Weltanschauung und globalisiertem Handel" Der Präsident des Bundesinstituts für Risikobewertung (BfR), Prof. Dr. Dr. Hensel setzte sich in seinem Vortrag mit der "Lebensmittelsicherheit zwischen Weltanschauung und globalisiertem Handel" auseinander. Ein Schwerpunkt war dabei die Diskrepanz zwischen Risikowahrnehmung und Risikobewertung, die Hensel unter anderem am Beispiel des Dioxin-Falls darstellte. Es bestehen große Herausforderungen durch die Globalisierung Hensel sah große Herausforderungen in der heutigen Globalisierung. Im Hinblick auf die hohe Sicherheit deutscher Lebensmittel und dem weltweiten Interagieren von Land- und Ernährungswirtschaft hinterfragte er: Wir regulieren in Deutschland sehr streng und dabei frage ich mich, was eigentlich in anderen Ländern passiert. Eine weltweite systematische Untersuchung von Lebensmitteln sah er jedoch als nicht machbar an. Wenn Sie fragen, vor welchen Lebensmittelrisiken sich der Verbraucher fürchtet, sehen Sie, dass es vor allem Vergiftungen sind. Die Geschmäcker in den verschiedenen Ländern seien zwar unterschiedlich vom Isländer Eishai über schwedischen milchsauren Hering, die Ängste der Verbraucher wären aber ähnlich: Wenn in der Meinungsumfrage Eurobarometer europaweit gefragt wird, vor welchen Lebensmittelrisiken sich der Verbraucher fürchtet, sehen Sie, dass es vor allem um die Angst vor Vergiftung geht: Lebensmittelvergiftung, Chemikalien, Pestizide, Lebensmittelzusatzstoffe, Verschmutzungen oder sekundäre Kontaminationen stehen ganz vorn. 2

Heutzutage ist die Auswahl, frische und leckere Lebensmittel auszusuchen, der höchste Genuss Ein anderes Ergebnis der Eurobarometeruntersuchung zeigt, mit welchen Aspekten der Verbraucher heute Lebensmittel verbindet: die Auswahl, frische und leckere Lebensmittel auszusuchen und zu kaufen, sei heutzutage der höchste Genuss. Danach folge, diese Mahlzeit mit Freunden und Familie zu genießen: Man will nicht satt werden, sondern verbindet eigentlich freudvolle Ereignisse mit dem Essen. Allerdings käme das Sorgen machen dann gleich dahinter, erklärte Hensel. Die Überprüfung der Kalorien und Nährstoffe verbinden über 50 % der Befragten mit dem Essen. 3

Sie können nicht jedes Schnitzel untersuchen Die Verantwortlichkeit für die Lebensmittelsicherheit sieht das BfR in einer so komplexen Welt nicht allein beim Staat. Hensel nannte folgendes Beispiel: Selbst wenn es von NGOs gefordert wird, können Sie nicht jede Futtermittelcharge untersuchen, schon gar nicht auf Dioxin. Sie können auch nicht jedes Schnitzel untersuchen. Mit der Aufnahme in die Basis-Verordnung 2002 sei die gesetzliche Grundlage dafür geschaffen worden, dass die Hersteller für die Sicherheit verantwortlich seien. Das bedeute einerseits, dass die Gewährleistung der Sicherheit eine größere Rolle spiele. Es bedeute aber auch für alle, dass die Entscheidungen immer mehr von Unsicherheit geprägt seien. Wenn Sie es mit Krisen zu tun haben, die durch Lebensmittelrisiken ausgelöst werden, haben Sie es immer mit der kollektiven Gefühlslage einer Population zu tun Der BfR-Präsident erläuterte: Sicherheit ist ein menschliches Grundbedürfnis, und die Gewährleistung von Sicherheit sollte die Unsicherheit minimieren. Das bedeutet dann aber auch, dass man Sicherheitsziele hierarchisieren muss. Das Problem sei jedoch, dass das Sicherheitsgefühl ein individuelles Empfinden sei: Wenn Sie es mit Krisen zu tun haben, die durch Lebensmittelrisiken ausgelöst werden, haben Sie es immer mit der kollektiven Gefühlslage einer Population zu tun. Man muss sich darüber klar sein, dass dies ganz stark mit der Wahrnehmung und den Gefühlen zu tun hat und nicht nur mit Zahlen und Ratio. Hundertprozentige Sicherheit kann man nicht erreichen Ohnehin sei Sicherheit immer relativ, erklärte Hensel weiter. Eine hundertprozentige Sicherheit könne man nicht erreichen. Das sei das Paradoxon: Ein Staat, der alle Risiken ausschließen soll, muss alles wissen, alles können oder dürfen. Das wäre dann allerdings das Ende jeder Freiheit! Ein Stoff an sich kann giftig sein, die Dosis aber entscheidet Hinzu käme die Problematik der Vorsorgeschwelle, deren darunter liegende Werte als vernachlässigbares Risiko schwer vermittelbar seien. Entscheidend sei die Konzentration, so Hensel: Deshalb bin ich auch ein Vertreter der expositionsbezogenen Risikobewertung. 4

Der Stoff an sich kann giftig sein, die Frage ist jedoch, wie viel davon in einem Lebensmittel enthalten ist und wie oft oder wie intensiv man dem Stoff ausgesetzt ist. Wir hatten vorhin unter Bezug auf Radioaktivität gehört, dass es in Deutschland kein Lebensmittel ohne Radioaktivität gebe. Wir müssen nur lange genug messen, irgendwo gibt es immer einen Kernzerfall. Mit Dioxin sähe es genauso so aus, erklärte der BfR-Präsident weiter. Jeden Winter hätte Deutschland eine Dioxin-Last, die sich aus allen Schornsteinen über das Land lege. Deshalb hätte man in der Dioxin-Krise auch offen sagen können: Was wollt Ihr eigentlich? In jedem Schnitzel sind Dioxine. Es gibt nichts, was kein Dioxin enthält. Es ist aber so wenig, dass es nicht schadet. Diese ehrliche Relation könne der Verbraucher in der Regel schwer annehmen. Unsicherheiten des Verbrauchers muss man mit Aufklärung begegnen! Unsicherheiten des Verbrauchers muss man mit Aufklärung begegnen! Diesen Ansatz und eine durchaus positive Resonanz auf Wissensvermittlung, machte Hensel an Zuschauern von Wissenschaftssendungen, z. B. zur Herstellung von Lebensmitteln, fest sowie an dem großen Erfolg des Erlebnisbauernhofs auf der Internationalen Grünen Woche Anfang Januar. Etwas Verständliches zum Anfassen und ein Bild erklären mehr als tausend Worte begründete Hensel. Die subjektive Risikowahrnehmung kann durch die Verantwortlichen die Auswirkungen des objektiven Risikos vervielfachen Die Art der Kommunikation sei entscheidend, aber auch die Risikowahrnehmung beim Empfänger. Dabei spielen Risikomanager, Politiker und die Medien eine große Rolle. Die subjektive Risikowahrnehmung d. h. Leugnung, Skandalisierung, Uminterpretation des vorhandenen Risikos kann durch die verantwortlichen Risikomanager, Politiker oder ähnliche die Auswirkungen des objektiven Risikos vervielfachen. Fast jede mediale Krise erfüllt diesen Tatbestand, so Hensel. Bei einem Risikoranking wären das Rauchen von zwei Zigaretten mit Teer genauso gefährlich wie hundertfünfzig 200 g-steaks vom Holzkohlegrill zu essen. Das Leben ist voll von Risiken eigene akzeptable Risiken werden definiert je nach Sicherheitsempfinden, erklärte Hensel. Interessant sei das Risikoranking, bei der man vorhandene 5

Risiken in ein Verhältnis setze: Wir haben hier die Verhältnismäßigkeit, eins zu Restrisiko, Nullrisiko gegen Restrisiko bei einer Chance von 1:1.000.000 Eintrittswahrscheinlichkeit. Mit anderen Worten, das ist genauso gefährlich wie das, wenn man eine ganz bestimmte Gefahr, einen Hazard definiert. Wenn man entsprechende Rechnungen anstelle, so ergebe sich, dass das Rauchen von zwei Zigaretten mit Teer genauso gefährlich sei, wie hundertfünfzig 200 g- Steaks vom Holzkohlegrill zu essen oder aber ein halbes Blatt Basilikum. Die Leute stürzen sich von Bergen runter und haben dann Angst vor Dioxin Allerdings hätten die meisten Menschen andere Entscheidungskriterien, was mit ihrer individuellen Risikowahrnehmung zu tun habe: Wir alle haben eine ausgeprägt selektive Risikowahrnehmung: Egal was wir machen, welche Hobbys wir haben: wir leben in einer Spaßgesellschaft. Die Menschen stürzen sich mit Snowboards von Bergen herunter - Angst jedoch haben sie vor Dioxin. 6

Fast 30 Prozent der Verbraucher sehen Lebensmittel als gesundheitliches Risiko an Problematisch bei der Risikowahrnehmung sei die Risikoverstärkung : Was zu einem bestimmten Zeitpunkt zum Risiko werde, hänge ganz entscheidend von der Medienberichterstattung ab. In einer BfR-Untersuchung nannten die meisten Bundesbürger bei der Frage nach den größten gesundheitlichen Risiken die Antwort Lebensmittel unmittelbar nach Klimawandel, Umwelt, Verschmutzung und Strahlung. Lebensmittel werden dieser Untersuchung nach als größere Risiken gesehen als ungesunde Lebensweise, Rauchen oder beispielsweise Alkohol, Drogen und Medikamente. Hensel resümierte: Das heißt, das Risiko von Essen wird in der Wahrnehmung überbewertet. Vielleicht liegt es daran, dass in diesem persönlichen Bereich Risiken nicht richtig eingeordnet werden. Eingriffe des Menschen werden immer höher als natürliche Gefahren bewertet Die subjektive Risikoeinschätzung bezeichnete der BfR-Präsident als intuitive Toxikologie. So würden etwa die Risiken von Pestiziden weit überschätzt und die der natürlichen Karzinogene unterschätzt: Eingriffe des Menschen werden immer höher als die natürliche Gefahr bewertet, obwohl alle wirklichen Gifte, also Pflanzengifte oder Bakteriengifte viel giftiger sind, als synthetische. Fast jede Pflanze bestehe aus Pflanzengift, aber die Konzentration sei entscheidend. 7

Wir überschätzen die eigenen Handlungsmöglichkeiten, weil wir sie als kontrollierbar empfinden Die subjektive Risikoeinschätzung hänge von vielen Faktoren ab, z. B. von der Kontrollierbarkeit, die Hensel als funktionalen Optimismus bezeichnet: Wir überschätzen die eigenen Handlungsmöglichkeiten, weil wir meinen, die die Kontrollierbarkeit zu haben. Auch die Unmittelbarkeit und die Betroffenheit würden eine Rolle bei der subjektiven Risikoeinschätzung spielen. Wer selbst betroffen ist, will viel eher strenge Regulationen, als wenn Negatives irgendwo passiert. Wenn eine Folge direkt eintritt, reagieren wir sofort. Wenn eine Gefahr schleichend und unmerklich auftritt, wird sie eher unterschätzt. Auch die Frage, ob Wissenschaftler Gefahren erklären können, spiele eine Rolle: Wenn sie sofort eine Erklärungsmöglichkeit bieten, wird das Risiko geringer empfunden als wenn Wissenschaftler sich streiten. Die Verbraucher informieren sich zu 90 Prozent in den Medien Der Frage, wo Menschen ihre Informationen herbekommen, ging eine Umfrage des BfR nach. In fast 90 % der Fälle waren es die Medien, vor allem die Leitmedien, und vorne an das Fernsehen, aus denen Verbraucher von Themen wie Pestizide, Gammelfleisch, Cumarin oder Blei im Spielzeug hörten. 8

Der Begriff Grenzwert wird mit Schwelle zwischen giftig und nicht giftig verwechselt Deutschland stehe bei der Furcht vor Pestizid-Rückständen in der Europäischen Union sehr weit oben. Hierzu habe das BfR eine eigene Untersuchung gemacht und darum gebeten, Eigenschaften Lebensmitteln zuzuordnen, die mit oder ohne Pflanzenschutzmittel hergestellt wurden. 85 % der Befragten benannten gesund für Lebensmittel, die ohne Pflanzenschutzmittel hergestellt wurden, während die Eigenschaft giftig für Lebensmittel mit Pflanzenschutzmitteln zugeteilt wurde. Ursache sei, dass der Begriff Grenzwert falsch verwendet und in Zusammenhang mit giftig oder nicht nicht giftig gebracht würde, kritisierte Hensel. Mit der Konzeption zu Höchstgehalten für eine lebenslange Aufnahme hätte das Empfinden von Verbrauchern und Medien nichts mehr nichts zu tun. Die Folge sei ein völlig falsches Verständnis von Lebensmittelsicherheit. Auf die Frage, ob Pestizid-Rückstände in Lebensmitteln enthalten sein dürfen, hätten zwei Drittel aller Deutschen geantwortet, dass es nicht legal sei. Beim Dioxin-Vorfall wurde der Begriff Höchstgehalte missverstanden Auch in der Dioxin-Krise sei das Thema Höchstgehalte missverstanden worden, sagte Hensel, denn allein zu erklären, dass es unterschiedliche Höchstgehalte in verschiedenen Lebensmitteln gäbe, sei schwierig: Wir alle essen jeden Tag ungefähr siebzig Pikogramm Dioxine am Tag und zwar jeder. Dass sich die Dioxingehalte in den letzten Jahren zum Positiven entwickelt habe, erläutert Hensel anhand einer Grafik zu Dioxinen in Muttermilch: Der Dioxingehalt der Muttermilch zeigt einen deutlichen Rückgangüber die letzten Jahrzehnte. Gleiches gelte beispielsweise für die Kuhmilch. Etwa im Jahr 1986 wurde mit umfangreichen Messungen und entsprechenden Maßnahmen begonnen. Heute sei ein niedriger Wert erreicht, der sich in einer Industrienation wahrscheinlich nicht mehr weiter verringern lasse. 9

Man hat eine Überschreitung gefunden und die Ursache behoben - das System funktioniert! Bei den Höchstwerte trete nicht die biologische Relevanz zu Tage, sondern der Vorsorgegedanke des Staates: Zur Sicherheit wird ein Höchstgehalt festgesetzt, damit der Staat eine Eingriffsmöglichkeit hat. Produkte sind bei Überschreitung nicht mehr verkehrsfähig. Das war der Hintergrund der Betriebssperrungen, nicht etwa weil Lebensmittel giftig waren. Höchstgrenze wären auch so niedrig angesetzt, um jede Überschreitung und ihre Quellen finden zu können, um dagegen vorzugehen. Genau das sei auch in der Dioxin-Krise passiert: Man hat eine Überschreitung gefunden und die Ursache behoben. Insofern ist das, was mit der Höchstmengenfestlegung intendiert ist, tatsächlich eingetreten. Das System funktioniert. Das BfR habe zum letzten Dioxin-Fall frühzeitig erklärt Keine unmittelbare gesundheitliche Gefährdung. Trotzdem sei es zur Krise gekommen. Hensel konstatierte: Der Dioxin-Fall ist ein weiterer Beleg dafür, dass relativ unbedeutende Risiken einen erheblichen Platz in der öffentlichen Wahrnehmung einnehmen, während andererseits schwerwiegende Risiken unterschätzt oder verdrängt werden. 10

Den Medien geht es nicht um Wahrheit, auch nicht um Information, sondern um Aufmerksamkeit Dies werde sich in der Berichterstattung aber nicht ändern: Den Medien geht es nicht um Wahrheit, auch nicht um Information, sondern um Aufmerksamkeit. Das heißt, dass Sie mit normalen Aussagen keinen Zugang finden. Es gebe inzwischen so viele Online-Redaktionen, die keine Zeit mehr hätten, Berichte zu reflektieren. Manche Nachrichten würden ungeprüft oder wenig geprüft in die Medien gestellt. Das quantitative Auftreten der Nachrichten werde gleichgesetzt mit Konkretheit und Wahrheit. Kritisch betrachtet Hensel auch die Auswahl der Talkshowgäste im Fernsehen zu Lebensmittelthemen, gerade beim Beispiel Dioxin: Die Sender schienen vermieden zu haben, einen Gast einzuladen, der sich auskennt. Wir hatten eigentlich keine echte Krise. Es waren im Wesentlichen mediale Probleme und keine Gesundheitsprobleme. Schließlich zog der BfR-Präsident sein Fazit: Jeder Tag der Dioxinkrise hat die Volkswirtschaft zwischen 30 und 40 Millionen Euro gekostet. Was den eigentlichen Verbraucherschutz anbelangt, erlaube ich mir zu sagen: Wir hatten eigentlich keine echte Krise. Gammelfleisch, Dioxine und andere Themen der letzten Zeit waren im Wesentlichen mediale Probleme und keine Gesundheitsprobleme. Politik und Gesellschaft sollten eine Antwort auf die Frage finden, wie sie mit solchen hochgepuschten Krisen umgehen will. 11