ERZÄHLEN UND ARGUMENTIEREN IN DEN NATURWISSENSCHAFTEN: FIGURATIVES DENKEN



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Transkript:

ERZÄHLEN UND ARGUMENTIEREN IN DEN NATURWISSENSCHAFTEN: FIGURATIVES DENKEN UND FIGURATIVE SPRACHE IN DER PHYSIK Hans U. Fuchs Juni 2008 Zentrum für Mathematik und Physik ZHAW

Inhalt Teil 1 Teil 2 Part 3 Part 4 These, Fragen, Folgerungen Figurative und erklärende (argumentative) Strukturen in der Physik Soziale Wurzeln des Narrativen und der Naturwissenschaft? Folgerungen Hans U. Fuchs, ZHaW 2008 2

Teil 1 These, Fragen, Folgerungen THESE Die Physik makroskopischer Prozesse benutzt die selben figurativen Strukturen wie alltägliches Verstehen und Erzählen. Die Behauptung in anderer Form Physik erklärt und argumentiert, also haben die formalen Modelle narrative Struktur. Umgekehrt haben (alltägliche, nicht-naturwissen-schaftliche) Erzählungen erklärende Strukturen, die wir aus den Naturwissenschaften kennen. Erzählen und Erklären sind nicht scharf getrennt. Hans U. Fuchs, ZHaW 2008 3

ZWEI FRAGEN IM ZUSAMMENHANG MIT DER THESE Wenn Erzählung und Argumentation die selben Schemas/Muster benutzen, was ist dann Wissenschaft(lichkeit)? Wenn sich Erzählungen hauptsächlich aus sozialem Austausch (im Kind) entwickeln, kann dann Wissenschaft eine narrative Form haben? Verwendet Wissenschaft die selben Verstehensformen wie die, die sich aus der sozialen Interaktion entwickel? Hans U. Fuchs, ZHaW 2008 4

KONSEQUENZEN AUS DER THESE Es muss möglich sein, mit narrativem Verstehen (narrativer Intelligenz) ein substanzielles Verständnis eines naturwissenschaftlichen Themas aufzubauen, und zwar ohne die Erklärungen unnötig zu vereinfachen oder gar zu verfälschen (no dumbing down ). Die Natur mentaler Modelle in den Naturwissenschaften sagt uns etwas über uns selbst als körperliche und soziale Wesen. Hans U. Fuchs, ZHaW 2008 5

Teil 2 Figurative und erklärende (argumentative) Strukturen in der Physik THESEN DER NEUEREN KOGNITIVEN WISSENSCHAFT UND SPEZIELL DER KOGNITIVEN LINGUISTIK 1. EMBODIMENT Menschliches Verstehen ist verkörperlicht (embodiment thesis). Modelle stellen unsere Vorstellungen dar, nicht die Welt. WORDS AND STATEMENTS THE WORLD Hans U. Fuchs, ZHaW 2008 6

2. EMBODIED STRUCTURES OF UNDERSTANDING Die einfachsten verkörperlichten (figurativen) Strukturen unseres Verstehens sind Vorstellungsschemas (image schemas), die metaphorisch auf andere Gebiete projiziert werden. Vorstellungsschemas ergeben sich aus der Schematisierung (Abstraktion) alltäglicher wiederkehrender körperlicher Erfahrungen. (Johnson, 1987; Lakoff, 1987) Grundlegendste verkörperlichte Schemas wie oben/unten, innen/aussen, nah/fern, Gleichgewicht, Objekt, Prozess, Pfad (Weg) werden metaphorisch auf abstraktere Gebiete projiziert. (Lakoff, 1990) Hans U. Fuchs, ZHaW 2008 7

3. FORCE DYNAMIC GESTALTS (Fuchs, 2007) Phänomene werden als Ganzheiten (Gestalten) wahrgenommen, die durch einige wenige Schemas strukturiert werden: Intensität/Qualität Skalenschema (vertikalisiert) Substanz/Menge Substanz-/Objekt-Schema Kraft/Macht Gestalt der direkten Manipulation, force dynamic schemas (Talmy, 2000) Diese Struktur des Verstehens/Erklärens/Erzählens taucht in den verschiedensten Phänomenbereichen auf (Natur, Emotionen, soziale Phänomene ) Hans U. Fuchs, ZHaW 2008 8

3. FORCE DYNAMIC GESTALTS (CONDINUED ) Alex story On a winter day, when he was five years old, Alex came home from kindergarten. He talked to his grandmother about how the teacher had told them they should close the door or cold would come in. His grandmother wanted to know from Alex what cold was. He said that cold was a snowman. A snowman was very cold and if he hugged Alex, the boy would get cold too and could get sick. Alex and his grandmother were outside and decided to build a snowman. When his grandmother wanted to build a big one, Alex said that a big snowman would be so cold it could even kill young Alex. Alex thought it would be better to build a small snowman. Now his grandmother wanted to know what he thought heat was. Alex said, heat was a man of fire, or maybe a dragon. Alex could play with little dragons, they were not so hot and dangerous, but a really big dragon would be so hot and strong, its fire could kill the boy. (Fuchs, 2007, p. 27) Hans U. Fuchs, ZHaW 2008 9

Sadi Carnot s story Sadi Carnot (1796-1832) Réflexions sur la puissance motrice du feu D'après les notions établies jusqu'à présent, on peut comparer avec assez de justesse la puissance motrice de la chaleur à celle d'une chute d'eau [ ]. La puissance motrice d'une chute d'eau dépend de sa hauteur et de la quantité du liquide; la puissance motrice de la chaleur dépend aussi de la quantité de calorique employé, et de ce qu'on pourrait nommer, de ce que nous appellerons en effet la hauteur de sa chute, c'est-à-dire de la différence de température des corps entre lesquels se fait l'échange du calorique. Hans U. Fuchs, ZHaW 2008 10

WAS IST DER UNTERSCHIED ZWISCHEN (NATUR)WISSENSCHAFT UND (ALLTÄGLICHEN) ERZÄHLUNGEN? These: Der Unterschied besteht in den (kognitiven) Werkzeugen, die in der Wissenschaft zum Tragen kommen aber nicht in den Wurzeln des Verstehens und Erzählens. Der Viererzyklus (Fuchs, Weber) Basiert auf Theorien der Evolution des menschlichen Geistes (siehe Egan, Donald, Gebser). Hans U. Fuchs, ZHaW 2008 11

Teil 3 Soziale Wurzeln des Narrativen und der Naturwissenschaft? Dautenhahn K., 2002: The origins of narrative. International Journal of Cognition and Technology, 97-123. We stress the transactional nature of narratives and the way that narratives convey meaning, can create intersubjectivity and are embedded in a social context. A narrative consists of verbal (spoken or written) or non-verbally enacted social transactions Hans U. Fuchs, ZHaW 2008 12

Dautenhahn K., 2002: The origins of narrative. International Journal of Cognition and Technology, 97-123. According to Bruner (1991), narrative is a conventional form that is culturally transmitted and constrained. Narrative is not just a way of representing or communicating about reality, it is constituting and understanding (social) reality. Unlike scripts (Schank and Abelson, 1977) that describe regular events, narratives are about unusual events, things worth telling (Bruner, 1991). Narratives describe people or other intentional and mental agents, acting in a setting in a way that is relevant to their beliefs, desires, theories, values, etc., and they describe how these agents relate to each other. Narratives describe agents, acting in a setting in a way that is relevant and they describe how these agents relate to each other. Das tönt gar nicht so verschieden von erklärenden (narrativen?) Formen in der Physik Vielleicht wäre diese Frage etwas Forschung wert Hans U. Fuchs, ZHaW 2008 13

Teil 4 Folgerungen KONSEQUENZEN AUS DER THESE Es muss möglich sein, mit narrativem Verstehen (narrativer Intelligenz) ein substanzielles Verständnis eines naturwissenschaftlichen Themas aufzubauen, und zwar ohne die Erklärungen unnötig zu vereinfachen oder gar zu verfälschen (no dumbing down ). Die Natur mentaler Modelle in den Naturwissenschaften sagt uns etwas über uns selbst als körperliche und soziale Wesen. Hans U. Fuchs, ZHaW 2008 14

LITERATUR Bruner J (1991): The narrative construction of reality. Critical Inquiry 18(1), 1-21. Carnot S. (1824): Réflexions sur la puissance motrice du feu. Édition critique avec Introduction et Commentaire, augmentée de documents d archives et de divers manuscrits de Carnot, Paris : Librairie philosophique J. Vrin (1978). English: Reflections on the Motive Power of Fire. E. Mendoza (ed.), Peter Smith Publ., Gloucester, MA (1977). Deutsch: Betrachtungen über die bewegende Kraft des Feuers, in Ostwald, Willhelm, Ostwalds Klassiker der exakten Wissenschaften, Frankfurt am Main: Verlag Harri Deutsch (2003). Dautenhahn K., 2002: The origins of narrative. International Journal of Cognition and Technology, 97-123. Donald M. (1991): Origins of the Modern Mind. Three Stages in the Development of Culture and Cognition. Harvard University Press, Cambridge MA. Egan K. (1988) Primary Understanding. Rutledge, NY. Egan K. (1997): The Educated Mind. How Cognitive Tools Shape Our Understanding. The University of Chicago Press, Chicago. Fuchs H. U. (2007): From image-schemas to dynamical models in fluids, electricity, heat, and motion. Zentrum für Mathematik und Physik, ZHaW. Hans U. Fuchs, ZHaW 2008 15

Gebser J. (1949): Ursprung und Gegenwart I+II. (Band 2 und 3 der Gesamtausgabe, Novallis Verlag) Johnson M. (1987): The Body in the Mind. The Bodily Basis of Meaning, Imagination, and Reason. University of Chicago Press, Chicago. Lakoff G. (1987): Women, Fire, and Dangerous Things. University of Chicago Press, Chicago. Lakoff G. (1990): The invariance hypothesis: Is abstract reason based on image-schemas? Cognitive Linguistics 1(1), 39-74. Talmy L. (2000): Toward a Cognitive Semantics. Volume I: Concept Structuring Systems, Volume II: Typology and Process in Concept Structuring. The MIT Press, Cambridge, MA. Hans U. Fuchs, ZHaW 2008 16