Gewinnen durch Verlieren Ich möchte heute einmal über Ziele der Therapie von Alkoholikern und Tabletten-abhängigen sprechen. Welche Ziel verfolgen wir hier in Bad Tönisstein? Viele von euch werden sagen, das ist doch klar: nicht mehr trinken müssen, keine Tabletten mehr nehmen. Das ist natürlich richtig und ein wichtiges Ziel. Aber es ist noch nicht alles. Ich möchte in meinem Vortrag zwischen Globalziel und Einzelziel unterscheiden. Das Globalziel: Die Abhängigkeit darf nicht mehr als eine äußere feindliche Wirklichkeit gesehen werden, über die der Abhängige Kontrolle ausüben muß, sondern als ein nicht mehr zu löschender Teil seiner Persönlichkeit. Es geht im Grunde um Versöhnung, um Aussöhnung mit der scheinbar unerträglichen Wirklichkeit, Alkoholiker zu sein. Du hast lange gekämpft: Nein, ich bin doch kein Alkoholiker. So lange du gegen deine Abhängigkeit ankämpfst, hast du keinen inneren Frieden, sondern einen inneren Bürgerkrieg. Wie kommt es zu dieser Aussöhnung? Welche Schritte führen dazu? 1. Zugeben und Akzeptieren der Niederlage Beides ist wichtig. Zugeben und akzeptieren. Wir sprechen hier in Bad Tönisstein von Kapitulation.,,Der Alkohol ist stärker als ich. Ich bin ihm gegenüber machtlos. Diese eigene Begrenzung anzuerkennen ist ein Akt der Demut. Wir alle wollen Macht haben und hassen Schwäche. Sie scheint unser Leben zu zerstören. Genau das Gegenteil ist für den Alkoholismus der Fall. Im Zugeben und Annehmen meiner Schwäche, meiner Machtlosigkeit gegenüber dem Alkohol werde ich zum Gewinner. Mein Leben wird zu einem gelingenden Leben. Erst im Zugeben der Niederlage werden die vorher blockierten Kräfte frei, um erfolgreich mit der Krankheit leben zu können. 2. Ich wähle die Nüchternheit. Das übersteigt die Entscheidung, nicht mehr Trinken zu wollen. Diese Entscheidung ist natürlich notwendig und die Voraussetzung für alle kommenden Schritte.,,Ich wähle die Nüchternheit" meint aber auch eine neue Einstellung zum Leben, einen neuen Blick für den eigenen Wert, den Wert meiner Mitmenschen und dazu eine Entscheidung zur Freiheit von jeder Art von Abhängigkeiten. Dazu ist es nötig, alte Pfade, die sich als lebensbehindernd erwiesen haben, zu verlassen und neue Wege 1
ohne die Hilfe von Drogen zu gehen. 3. Annahme von Hilfe. Gegenüber dem alkoholisierten Allmachtsdenken der,,nassen" Phase und dem Denken:,,Ich kann das alles selbst, ich brauche keine Hilfe", ist es für die Heilung notwendig, Hilfsquellen außerhalb meiner selbst zu suchen und anzunehmen. Wo findet der Alkoholiker diese Hilfsquellen? Ihr habe bereits einen wichtigen Schritt in dieser Richtung getan. Ihr habt euch entschlossen, in Bad Tönisstein Therapie zu machen. Das ist ein gewaltiger Schritt heraus aus dem Denken, ich brauche keine Hilfe, ich kann es allein. Wobei es gar nicht so wichtig ist, wie die Motivation am Anfang deiner Therapie ausgesehen hat. Mancher von euch ist vielleicht gekommen, weil er Druck vom Arbeitgeber oder der Familie bekommen hat. Wenn er aber einmal hier ist und der Alkohol aus Kopf, Körper und Seele heraus ist, und er in der Aufnahmegruppe sitzt und sich Gedanken macht über Geschichte und Folgen seines Trinkens, dann wird ihm klar: Ich bin nicht für meinen Chef hier, auch nicht für meine Frau und meine Kinder, sondern für mich. Mein Leben soll wieder gut werden und gelingen. Dann hat auch mein Arbeitgeber und meine Familie etwas von meiner,,trockenheit". Aber ich tue es in erster Linie für mich selbst. Schauen wir uns nun einmal die Hilfsquellen an, die zur Verfügung stehen. a) Therapieprogramm Etwa das Programm von Bad Tönisstein. Wir sind jetzt etwa 25 Jahre alt. Ich weis nicht, wie viele Alkoholiker im Laufe dieser~ Jahre hier waren. Ich habe allein 700 Patienten im Laufe meiner l5jährigen Arbeit als Therapeut gehabt. Sicher sind es aber viele Tausende, die hier waren. Und die Hälfte davon, kann man sagen, ist,,trocken" geblieben. Trocken, weil sie sich auf das Therapieprogramm in Bad Tönisstein eingelassen haben und auch nach der Entlassung danach gelebt haben. Es könnte auch die Weisheit der 12 Schritte des AA-Programms sein, die aus der Isolation des Alkoholismus heraus führen. b) Andere Menschen Ganz entscheidend für die Heilung vom Alkoholismus ist die aktive Zuwendung zu anderen Menschen. Der,,nasse" Alkoholiker ist ein einsamer Mensch. Mag er auch in der Kneipe lauthals parlieren, im Grunde seines Herzens ist er total einsam. Aus dieser Einsamkeit gilt es aufzubrechen und sich den Mitmenschen zuzuwenden. Das kann zuerst in der Therapiegruppe in Bad Tönisstein geschehen. Im sich mitteilen 2
und im Sorge tragen für andere. Später dann kann das in der Selbsthilfegruppe aber auch in der Familie, im Freundeskreis und im Kreis der Kollegen fortgesetzt werden. c) Transzendente Quellen Eine weitere Hilfsquelle können transzendente Quellen sein. Nicht wenige Alkoholiker finden nach dem,,trockenwerden" wieder einen Zugang zu ihrem religiösen Glauben. Sie fangen wieder an zu beten und vertrauen sich Gott an. Ich erlebe das immer wieder hier in der Klinik, aber auch mit Ehemaligen. Eine spirituelle Sehnsucht wacht auf. Für andere sind es ethische Werte, die für sie nun sehr wichtig werden. Etwa Nächstenliebe, Sorge für andere, Verantwortlichkeit, Mitgefühl, verantwortlicher Umgang mit sich selbst. Andere fragen intensiv nach dem Sinn ihres Lebens. Die Frage: Was will ich eigentlich mit meinem Leben anfangen?, kommt hier zur Sprache. Was will ich mit dem Rest meines Lebens anfangen? 4. Bereitschaft zur Veränderung Eine Münze hat 2 Seiten. Wenn du ein Markstück anschaust, dann ist da auf der Vorderseite eine 1, darunter,,deutsche Mark". Auf der Rückseite ist ein Adler und darum die Schrift,,Bundesrepublik Deutschland". So ist es auch mit der Therapie. Die Vorderseite heißt,,entscheidung zur Trockenheit, Entscheidung zur völligen Alkohol- und Tablettenabstinenz". Die Rückseite, die ist genau so wichtig und heißt,,veränderung, Richtungswechsel". Manche Patienten und auch deren Angehörige meinen, es genüge, wenn der Patient nicht mehr trinke, sonst brauche er sich nicht zu verändern. Das geht aber nicht. Wer trocken bleiben und nüchtern werden will muss destruktive Verhaltensweisen und Einstellungen verändern. Er muss z. B. lernen, für sich und seine Überzeugungen einzustehen und sich nicht einfach immer anzupassen, um dann aus Frustration und Ärger zu trinken. Auch einen konstruktiven Umgang mit Arger und anderen Gefühlen muss er lernen. Wer sein altes Denk- und Verhaltensmuster auch nach der Therapie beibehält, steht auf wackligem Boden und der Rückfall ist vorprogrammiert. Der Abhängige braucht eine tiefe und starke Motivation, ein anderer zu werden, da wir uns nur sehr ungern verändern und in eine neue Richtung gehen wollen. Überlege einmal, was dich in diese neue Richtung bewegen könnte. Im einzelnen hat die Veränderung zwei Aspekte: Egoreduktion Tiebout spricht von dem aufgeblähten Ich (inflated Ego) des 3
Abhängigen, das sich ausdrückt in Allmachtsgefühlen' Ungeduld und Mangel an Frustrationstoleranz. Tiebout spricht auch vom,,king-baby", der mit dem naiven Anspruch vor die Welt tritt, dass alles nach seinen Wünschen zu gehen hat. Aufgabe dieser Unreife, diesem falschen Verständnis der eigenen Wichtigkeit und der eigenen Macht ist andauerndes Ziel. Entwicklung der verborgenen Möglichkeiten Der Abhängige muss seine positiven Seiten entdecken und diese kultivieren. Dadurch gewinnt er Selbstbewusstsein und Selbstrespekt. In jedem Menschen sind eine Fülle von Möglichkeiten und Begabungen. Der Abhängige kann diese allerdings erst richtig entdecken, wenn er das alte,. mit all seiner Unreife beladene Ich loszulassen beginnt. 5. Loslassen der Kontrollhaltung In der nassen Phase meint der Abhängige, er könne das ganze Leben managen, er habe totale Kontrolle. In der Surrender-Phase erkennt der Abhängige dagegen, dass seine Kontrolle über die meisten Aspekte des Lebens äußerst beschränkt ist. Er erkennt seine Machtlosigkeit über seine Gefühle, andere Menschen, Ergebnisse seiner Handlungen und vieles mehr. Erkennt der Abhängige dieses nicht und hält er seine grandiose Idee, dass er alles im Griff hat weiter aufrecht, dann führt dies leicht zurück zum aufgeblähten Ich. Gibt der Abhängige jedoch seine Kontrollhaltung auf, und erkennt er demütig seine Begrenzungen und Fehler an, dann kommt er in eine zufriedene und gelöste Position. Er ist fähig, Glied der menschlichen Gesellschaft zu werden und fühlt sich seinen Mitmenschen verbunden und nahe. Surrender to life ist nicht Resignation sondern eine kooperative Beziehung zum Leben und seinen Kräften. Dieses Surrender to life ist mir während meiner Ausbildung in Hasselten/USA in einer unvergesslichen Erfahrung deutlich geworden. Ich wohnte damals in einem Dorf am St. Croix River. Nach Dienst ging ich während des Sommers oft am Abend zum Schwimmen in diesen Fluss. Ich schwamm bis zur Mitte des Stromes und ließ mich dann einfach von der Strömung treiben. Ich brauchte nicht zu paddeln und zu strampeln, sondern mich einfach der Strömung anvertrauen. Ich hatte ein tiefes Gefühl von Getragen werden. Sich dem Fluss des Lebens überlassen, in dem Vertrauen, dass er mich trägt. Das meint Surrender to life. Als Glaubender ging mir damals auch mehr und mehr auf, dass sich dem Leben anvertrauen auch heißt, sich dem Geber und Schöpfer allen Lebens, Gott, anzuvertrauen. Dann erwacht auch ein neues Interesse an anderen Menschen und dann an Dingen und Schönheiten 4
der Welt. Franz Strieder 5