Leseprobe aus: Monographie Mary Wigman Dargestellt von Gabriele Fritsch-Vivié (Seiten S. 7-8 und S. 150-151) Interessante Experimente vermitteln den Eindruck, dass der reine Tanz, also ohne Begleitung, als künstlerische Original-Schöpfung zu bestehen vermag. Münchner Neueste Nachrichten vom 27. Januar 1914 1999 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg.
Vorbemerkung Die Darstellung einer Frau von epochaler Größe und Wirkung wie Mary Wigman, die man nur in einer so flüchtigen Kunst wie der des Tanzes kennt und auch darin nur mehr im Abglanz der Bilder und Berichte über sie, unterliegt unvermeidlich einer subjektiven Sicht. Wohl gibt es sehr viele persönliche Zeugnisse, Tagebücher, theoretische Abhandlungen aus verschiedenen Zeiten, Vorträge, Artikel, Aufzeichnungen aller Art, dazu Berichte und Rezensionen über ihr künstlerisches Wirken und immer wieder Biographisches. All dies ist meist spontan, manchmal in späterer Erinnerung, und sicher auch manches Mal mit Blick auf eine öffentliche Einsichtnahme geschrieben worden (ausgenommen die frühen Tagebücher). Mary Wigman war sich eines weitergehenden Interesses nicht nur an ihrem Werk, sondern auch an ihrer Person bewußt. Dabei schrieb sie kurz und oft stichwortartig nur über Persönliches und über ihre künstlerische und pädagogische Arbeit, wenig über Zeiterscheinungen, Ereignisse in ihrer Umgebung oder über Dinge, die sie beeindruckten oder beeinflußten. Briefe, die über ihre ungezählten Freundschaften und die ausführlichen Gespräche hätten Auskunft geben können, hat sie nicht aufbewahrt, weil sie sonst in der Papierflut untergegangen wäre, wie sie einmal sagte. Ihre schriftlichen Zeugnisse konnten fast alle über den Krieg gerettet werden, sie sind heute als Nachlaß in der Akademie der Künste in Berlin einsehbar. Einen weiteren Teil bewahrt ihre Nichte Marlies Heinemann auf, der an dieser Stelle für ihre liebevollen und sorgfältigen Bemühungen um das Werk Mary Wigmans gedankt sei. 7
Der Tanz wurde Mary Wigman mehr als alles andere zum Symbol des Lebens, seines unbedingten Jetzt in dynamischer Veränderung. Und wenn sie sich selbst auch immer wieder im Blick der Öffentlichkeit sah, ging es ihr doch ausschließlich um den Tanz, was ist mir Zukunft, was Vergangenheit, Gegenwart bin ich, mein Leben ist Tanz 1. So sei die Beschreibung ihres Lebens der Rahmen um das, was sie wirklich gewesen ist, eine Künstlerin und Persönlichkeit mit Charisma durch sehr unterschiedliche, doch immer ganz außerordentliche Zeitläufte hindurch, die sich bei allem Selbstbewußtsein nur als wirkenden Teil eines großen Ganzen sah.
Zeittafel 1886 Am 13. November wird Karoline Sophie Marie Wiegmann in Hannover als Tochter des Kaufmanns Heinrich Friedrich Wiegmann und seiner Frau Amalie, geborene Jacobs, geboren. (Künstlername Mary Wigman ab 1918) 1892 Einschulung in die Höhere Töchterschule, Hannover. 1900 10 Schulentlassung, Sprachaufenthalte in England, in der französischen Schweiz, zwei Verlobungen aufgelöst. 1910 12 Hellerau, Schülerin bei Emile Jaques-Dalcroze. 1912 / 13 Reise nach Rom vom November 1912 bis April 1913. 1913 Monte Verità, Schülerin bei Rudolf von Laban. 1914 19 In München und Zürich in Rudolf von Labans «Schule für Kunst», in den Sommermonaten auf dem Monte Verità. Erste Tänze: Hexentanz (I); Lento; Ekstatische Tänze 1918 19 Davos, Genesungsaufenthalt, Erfolg als Tänzerin. Erste Tournee nach Deutschland, nach Mißerfolgen erste Erfolge in Hamburg und Dresden. 1920 Dresden (bis 1942), Erfolg und Anerkennung; Eröffnung der Wigman-Schule. 1921 Will Goetze musikalischer Leiter an der Wigman-Schule. Kammertanzgruppe, Die sieben Tänze des Lebens, Partnerschaft mit Hans Prinzhorn, Beginn der ausgedehnten Tournee- Reisen. 1922 / 23 Gründung der «Mary- Wigman-Gesellschaft» durch Prinzhorn. Erweiterung der Gruppe zur «Mary-Wigman- Tanzgruppe». Skizzen aus einem Tanzdrama, Trennung von Prinzhorn, Aufenthalt in Uttwil (jeweils im Sommer bis 1929). 150 1924 Szenen aus einem Tanzdrama, Gründung der «Gesellschaft von Freunden der Mary-Wigman- Tanzgruppe» durch Ernst Schlegel, Verwaltungsrat der Schule. Partnerschaft mit Herbert Binswanger, Tanzmärchen. 1925 / 26 Beginn des Zyklus Visionen: die Gestalttänze; weitere Tänze: Totentanz (II), Hexentanz (II), Drehmonotonie. 1927 / 28 12. Dezember: Eröffnung des Erweiterungsbaus der Schule. Die Feier (II.). 2. Tänzerkongreß in Essen, Auflösung der ersten Tanzgruppe aus finanziellen Gründen. 1929 / 30 Will Goetze und Ernst Schlegel verlassen die Schule, Hanns Hasting neuer musikalischer Mitarbeiter. Trennung von Herbert Binswanger. Schwingende Landschaft. Partnerschaft mit Hanns Benkert, dieser wird neuer Verwaltungsrat der Schule. 1930 Choreographie Totenmal, Solo: Tanz des Leides von Albert Talhoff, München, mit neuer Tanzgruppe. 1930 33 Opfer (1931); Der Weg (1932). Jeweils November bis März: dreimonatige Tourneen durch die USA mit Schwingende Landschaft; Opfer; Der Weg. 1933 Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft. Erzwungene Gleichschaltung durch Mitgliedschaft in NSLB und Reichskultur- / Reichstheaterkammer. Finanzschwierigkeiten, Auflösung der Tanzgruppe. 1934 Frauentänze mit neuer Tanzgruppe bei den Tanzfestspielen 1934; Gastlehrvertrag an der «Deutschen Tanzbühne». 1935 Tanzgesänge bei den Tanzfestspielen 1935. Veröffentlichung von Deutsche Tanzkunst. 1936 Gastlehrvertrag an den «Deutschen Meisterwerkstätten für Tanz». Choreographie und Solo Totenklage in «Olympische Jugend»
bei den Olympischen Spielen. Tanz- Wettspiele. Danach Auflösung der letzten Tanzgruppe. Keine staatliche Unterstützung mehr. 1937 41 Nur noch Solo-Gastspiele, Herbstliche Tänze. Trennung von Hanns Benkert. 1942 31. März: Verkauf der Schule, Umzug nach Leipzig, Gastlehrvertrag an der Hochschule für Musik, letztes Soloprogramm: Tanz der Brunhild, Tanz der Niobe, Abschied und Dank, letzte Vorstellung am 27. April in Leipzig. 1943 6. Juli: Choreographie «Carmina Burana» von Carl Orff, Opernspielstätte, Leipzig. 1945 Ende des Krieges und der NS- Herrschaft, politische Auftritte, ab September Wigman-Schule in ihren Privaträumen. 1946 16. Juli: Schüleraufführung Aus der Not der Zeit. Zusammenarbeit mit der Hochschule für Musik, Leipzig. 1947 22. März: Inszenierung «Orpheus und Eurydike» von Ch. W. Gluck, Spielstätte Dreilinden, Leipzig. 1948 57 Sommerkurse in der Schweiz (Zürich, Magglingen, Montreux); Reisen in Europa. 1949 4. Juli: Umzug nach West-Berlin, Aufbau des Wigman-Studios, Rheinbabenallee 35. 1953 Chorische Studien, Solo Die Seherin / Die Straße 11. Januar in Berlin und 26. / 27. Juni bei den Ruhrfestspielen Recklinghausen. Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik. 1954 «Saul» von G. F. Händel, Mannheim; Schillerpreis Mannheim. 1955 «Catulli Carmina» und «Carmina Burana» von Carl Orff, Mannheim. 1957 «Le sacre du printemps» von Igor Strawinsky, Choreographie und Inszenierung, Berlin; Bundesverdienstkreuz. 1958 «Alkestis» von Ch. W. Gluck, Mannheim; Reise in die USA. 1961 «Orpheus und Eurydike» von Ch. W. Gluck, Choreographie in der Inszenierung von Gustav Rudolf Sellner, Berlin. 1963 Veröffentlichung Sprache des Tanzes. 1967 16. Juli: Schließung des Wigman-Studios. 1969 Reise nach Israel. 1973 Am 18. September stirbt Mary Wigman; die Urne wird auf dem Friedhof in Essen beigesetzt.