LOSLASSEN VON SCHMERZLICHEN ROLLEN Daniel (Kuma) Bärlocher Dr. phil., Psychotherapeut SPV Praxis für Neuropsychotherapie, Zürich ABSTRACT der Ringvorlesung. Die Gesellschaft, unsere ist gemeint, will offensichtlich nicht mit Schmerzlichem konfrontiert werden. Nicht mit vorübergehendem und schon gar nicht mit chronischem Schmerz. Die Dramen des Alltags werden zwar medial und das heisst: emotional umgesetzt, authentisch für Auge und Ohr. Menschliches Leid wird quantifiziert, in Ranglisten verglichen. Wirkungsvoll präsentierte Zahlen aus Katastrophen münzen sich in Spendensummen um. Doch der Schmerz in derartigem Elend bleibt ausgeblendet. Schmerz geht uns offenbar zu nah. Das scheint mir soweit nachvollziehbar. Aber. Ein individuelles Schmerzleiden ist in nichts allgemein akzeptiert Sinnvolles eingebettet. Über chronischen Schmerz lesen Sie auch in Fachtexten, dass er sinnlos sei. Diese Verständnislosigkeit schmerzt Betroffene zusätzlich. Das Unberechenbare am Schmerz wirkt damit noch bedrohlicher. Und unsere Hilflosigkeit wird umso peinigender erlebt. Wenn daher ein Mensch einem schmerzlichen Los ausgeliefert ist, vor allem über längere Zeit, dann heisst es bald einmal, reflexartig: Lass los! Das will auch sagen: Akzeptier es! Oder nicht weniger brutal: Lernen Sie damit zu leben. Und das meint oft: Gib eine Ruhe damit! Vor diesem Hintergrund biete ich Ihnen, zu einem grösseren, freundlichen Verständnis in dieser Sache, Gedanken und Bilder, Beispiele und Modelle aus der Praxis an. Übersicht SCHMERZLICH Teil 1: Wänn s irgendwo weh tuet. ROLLE Teil 2: Schmerzen machen Patienten. LOSLASSEN Teil 3: Die aktuelle Parabel vom Kannitverstan. Aus dem Titel ergibt sich die Dreiteilung. Zuerst will ich Differenzierendes zu Ihrem Bild von Schmerzen beitragen. Das charakterisiert ja die Rollen hier, dass sie schmerzlich sind. Wie wir (auch) derartige Rollen verstehen können, will der zweite Teil zeigen. Mit den vereinten Einsichten werden Sie im dritten Teil das spezifische Loslassen deutlicher vor Augen haben. 1 von 6
SCHMERZLICH Teil 1: Wänn s irgendwo weh tuet. Unser Weh umfasst im Schweizerdeutschen das weitere Verständnis des Leibes, über den engeren Begriff des Körpers hinaus. Das hören wir Hiesigen zum Beispiel deutlich im Unterschied eines allemannischen Kopfweh zum hochdeutschen Kopfschmerz. Gemeinsam verstehen wir andererseits zum Beispiel Heimweh oder Fernweh. Wo dieses irgendwo von Schmerzlichem verstanden wird und auftaucht, illustriert das folgende, eigene Ei-Modell. Die pragmatischen und beobachtbaren Unterscheidungen haben sich in der alltäglichen Praxis bewährt, für Rollenträger, ihre nahen Menschen und allenfalls Behandelnde: Stellen Sie sich vor: Sie sehen im Bild drei Modalitäten oder drei Arten, wie wir funktionieren. Die roten Formen meinen somatische, also körperliche Empfindungen: In unserem Beispiel Schmerzen oder vielleicht Schwindel, Erschöpfung oder sonst etwas wahrnehmbar Unangenehmes. Die blaue Farbe mit den Punkten weist auf Emotionen, Gefühle und Stimmungen hin: In unserem Beispiel ein Weh, wie etwa nach einer Kränkung. Oder das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden, vielleicht Wut, Verzweiflung oder sonst etwas wahrnehmbar Leidvolles. Das Gelb mit den verschlungenen Linien steht für die Kognition, also den Verstand, das Denken oder (wie man hierzulande oft hört:) das Mentale. In unserem Beispiel sind das die entsprechenden Sorgen, das ewige Kreisen um Unverständliches oder auch bohrende Fragen: Warum ich? Wie weiter? Und sonst wahrnehmbare quälende Gedanken. In diesen drei Modalitäten kommt ein gegenwärtig allzu oft missbrauchtes Wort nicht vor: Das Wort heisst psychisch. Manche von Ihnen mögen die Erfahrung gemacht haben, was es bedeutet, wenn ein Schmerz nur psychisch sein soll. Wenn Sie eine Fachperson fragen, was psychisch denn meint, werden Sie hören, dass darunter ein Mix von Emotionalem und Kognitivem verstanden wird. Psychisch ist also im besten Fall ein unscharfer Begriff der Abgrenzung zum vermeintlich abgegrenzten Somatischen. Missbraucht wird psychisch, wenn sich jemand damit abgrenzen muss, weil die eigene Hilflosigkeit unerträglich wird. Psychisch heisst dann: nicht normal. Und das ist wohl das Letzte, das jemand in einer schmerzlichen Lebenslage hören will. 2 von 6
Selbstverständlich gibt es den psychischen, also einen seelischen Schmerz - wenn Sie denn glauben können, dass es eine Psyche, d.h. Seele, gibt. Für religiöse, für spirituelle Menschen unterscheidet sich der psychische Schmerz von einem körperlichen, von einem emotionalen und von einem mentalen Schmerz. Da gehört der Begriff dann dazu, zum Verständnis von Psyche als Seele. Hier noch zweimal das Ei-Modell : Links mit den erklärenden Begriffen zu den Farben und Strukturen des Eis und rechts mit möglichen Beispielen aus einem schmerzlichen Alltag: ROLLE Teil 2: Schmerzen machen Patienten. Es ist angemessen, dass Sie nachvollziehen können, vor welchem Hintergrund ich zu Ihnen spreche. Im Titel dieser Vorlesung spielt der Begriff Rolle in Verbindung mit schmerzlich eine entscheidende Rolle: Wenn wir das Erleiden von Schmerz und Schmerzlichem als eine (fast immer unfreiwillig gelebte) Rolle begreifen können, dann haben wir uns bereits Luft verschafft. Ich bin nicht meine Rolle. Wir sind in unseren Rollen, wir stecken vielleicht fest darin und können einfach nicht anders. Und doch sind wir mehr als die gelebten, auch durchlittenen Rollen. Wir sind etwas Anderes. Hier eine spielerische Illustration, mit den Charakteristika der Rolle, wie sie im folgenden verwendet wird: Als ein Austausch gesellschaftlicher Bedingungen und individueller Leistungen. 3 von 6
Rollen sind schmerzlich, wenn sie als nicht (mehr) passend erlebt werden: Ein Paradebeispiel für eine schmerzliche Rolle ist die Patientenrolle. Hierzu biete ich Ihnen ein eigenes Modell von Drei Kreisen der Verantwortung an. Im innersten Kreis bin ich selber als Patient, als Rollenträger. Resilienz meint hier die eigene Fähigkeit zum Weiterleben. Im zweiten Kreis sind alle Menschen, mit denen ich als Patient zu tun habe. Im äusseren Kreis sind die Bedingungen des Systems. Alle drei Kreise haben eine günstige Seite (rechts im Bild) und eine kritische Seite (links). Mit dieser Leidenskarte kann ich für mich und andere klären, wo Verantwortungen für Schmerzliches liegen und wo Potential für eine Linderung vorhanden ist. Entsprechend kann dann etwas unternommen oder unterlassen werden. 4 von 6
LOSLASSEN Teil: 3 Die aktuelle Parabel vom Kannitverstan. Lassen Sie mich einen persönlichen Zugang zum Begriff illustrieren. Der alltägliche, und verbreitete Gebrauch von Loslassen erscheint mir wie ein Wolpertinger. Wolpertinger? Ein Bild: Wie das bayrische Fabelwesen präsentiert sich der geläufige Begriff Loslassen als zunächst anschauliche, aber eben leblose Konstruktion. Aus der Distanz, wenn man nichts damit zu schaffen hat, hört sich Loslassen recht konkret an. Es suggeriert eine Selbstverständlichkeit, die uns zunächst klar dünkt, bis wir erklären sollen, wie das nun praktisch geschehen soll, das Loslassen. Sobald man also das putzige Worttierchen ersackeln will (wie die Bayern sagen), beginnt eine Desillusionierung. Im Leid funktioniert nichts so, wie es uns das Loslassen weismacht. Ein Skipper zum Beispiel weiss, von was er da spricht oder ein Ballon-Fahrer und sicher ein Kind, das schreit: Lass mich los, Du tust mir weh! Doch wenn es um den eigenen Schmerzkörper und ein Loslassen schmerzlicher Rollen geht: Da schaut uns das Worttier nur tot und treuherzig mit gläsernem Auge ins Gesicht. Loslassen heisst in unserem Fall, sich z.b. anhand der Drei Kreise der Verantwortung zu orientieren, was Sache ist und was zur Linderung machbar wäre. Loslassen will heissen, dass ich alles mir Mögliche tue, damit es mir besser geht (Kreis 1). Loslassen fordert, die Unterstützung aller erdenklicher Verbündeten zu gewinnen (Kreis 2). Und Loslassen beinhaltet, die vorhandenen Ressourcen des Systems sinnvoll zu nutzen. (Kreis 3). Das bedeutet bei chronifizierten schmerzlichen Rollen meist, dass man solches Loslassen nicht aus eigener Kraft bewältigen kann: Kompetente Verbündete und hinreichende Ressourcen sind dazu ebenso sinnvoll wie notwendig. 5 von 6
Mit der Anspielung auf die bekannte Parabel vom Kannitverstan (Johann Peter Hebel, Kalendergeschichte 1808) will ich sagen, dass Loslassen gottseidank auch vielfach funktioniert, wenn eine Person mit schmerzlicher Rolle nicht wirklich versteht, was da alles im Spiel ist, damit ein Loslassen geschieht oder begreift, warum ein Loslassen möglich wurde. Für die anderen aber ist das Drei-Kreise-Modell gedacht. Wenn wir schliesslich unserer schmerzlichen Rollen ledig sind, wenn Fachpersonen unsere Patienten-Akte abgeschlossen haben, dann wird ja tatsächlich eine Ruhe sein damit. Ob mir jedoch gegen Ende die Kraft bleibt, meine Patienten-Rolle loszulassen oder ob mir jemand diese Rolle abnimmt, das scheint mir nicht so wichtig. Denn das liegt eh nicht in unserer Macht. Was wir bei jenen hinterlassen, die sich an uns erinnern mögen, ist die Art und Weise, wie wir hier waren, sind vielleicht unsere Taten. Wir verlassen das Gemachte. Hier ist so ein verschmitztes Vermächtnis: Referenzen und Dank Alle Abbildungen durch den Autor. Das Bild des Wolpertingers ist eine Wikipedia-Freigabe. Für das prächtige Ei-Bild bedanke ich mich bei Matthias Winkler, einem befreundeten Künstler und Maler. Das Ei-Modell ist eine Entwicklung aus meiner Praxis der letzten fünfzehn Jahre. Das Drei-Kreise-Modell ist eine eigene Weiterentwicklung des Locus of Control -Modells. Meine Referenz für diesen Attributions-Ansatz ist der Psychologe Fritz Heider (1896-1988). Wesentliche Einsichten in schmerzliche Rollen und einen Umgang damit verdanke ich meinem langjährigen Lehrer, dem Neurologen Dr. med. Hansruedi Isler, Zürich. Die Umsetzung von Gelerntem und Erfahrung und eine stetige Entwicklung machen meine Patienten und Patientinnen möglich. Mein Dank gilt denen, die sich mir soweit anvertrauten. 6 von 6