Erlauben Sie mir, meinen Standpunkt an Hand von 3 Beispielen zu belegen.

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1 Art Brut Forum GloBART: Sammlung Eduard Angeli - Art Brut aus Istanbul VER-RÜCKTE STANDPUNKTE 28. September 2012, 18 Uhr, Schauraum 35/nullnull, Kunstnetzwerk, Dr.Karl-Dorrek- Strasse 5, 3500 Krems Meine sehr geehrten Damen und Herren, wenn man anlässlich einer Ausstellungseröffnung eingeladen wird, über "Ver-rückte Standpunkte" zu sprechen, ist alles erlaubt. Ver-rückt bedeutet für mich einen anderen Zugang zu Wirklichkeit. Ich beginne mit der Erinnerung an jene Ausstellung, die mich in meinem Leben am meisten fasziniert hat. Es war 1984 im Museum of Modern Art in New York. Die Ausstellung hieß "Primitivism in 20th Century Art". Gezeigt wurden berühmte Künstler des 20. Jahrhunderts zusammen mit ihren Sammlungen afrikanischer und ozeanischer Skulpturen. Diese gigantische Gegenüberstellung war das beeindruckendste, was ich je in einer Ausstellung gesehen habe. Denn abgesehen von der Quantität war eines unglaublich: In allen Werken fand sich eine unmittelbare Entsprechung aus dem Primitivismus. In meiner Übersetzung: Selbst ganz große Künstler wie PABLO PICASSO, ALBERTO GIACOMETTI, HENRI MATISSE haben sich von Kunstwerken von Naturvölkern ganz offensichtlich und sehr direkt beeinflussen lassen. Besonders im Gedächtnis geblieben ist mir ein eigener Bereich über den Surrealismus. MAX ERNST, JOAN MIRO und viele andere waren vom Primitivismus inspiriert UND von Kunst aus psychiatrischen Anstalten. Daran erinnere ich mich, weil ich selbst damals schon begonnen hatte, mich näher für Art Brut zu interessieren. Und seit dieser Zeit beschäftigen mich die Fragen: Was sammeln Künstler? Gibt es auch Künstler, die Art Brut sammeln? Und wenn ja, welche? In der Geschichte der Art Brut, sind es immer wieder Künstler, die als wesentliche Akteure in Erscheinung treten, wenn es um Museumsgründungen, Ausstellungen und die Öffentlichkeitswirkung geht. Und dies ist mein 1. ver-rückter Standpunkt, da wir doch bei Art Brut zuerst an die Psychiater denken, etwa an WALTER MORGENTHALER, HANS PRINZHORN, LEO NAVRATIL und viele andere. Erlauben Sie mir, meinen Standpunkt an Hand von 3 Beispielen zu belegen. 1. Beispiel Schon der Namensgeber der Art Brut JEAN DUBUFFET war Künstler und hat schließlich im Alter von 70 in Lausanne das berühmteste Art Brut Museum der Welt begründet. JEAN DUBUFFET,1901 bis 1985, definierte Art Brut als ursprüngliche, "rohe" Kunst mit einer unangepassten Formensprache. Die Schöpfer sind nicht künstlerisch ausgebildet, Kunst-Trends bedeuten ihnen nichts. 1

2 Art Brut wird von Menschen mit einem besonderen Zugang zu Wirklichkeit geschaffen. Wir finden sie bei Außenseitern der Gesellschaft, oft in einem psychiatrischen Kontext. Wie hier, wo es sich um Arbeiten aus einem Psychiatrischen Krankenhaus in Istanbul handelt. JEAN DUBUFFET hat im Laufe seines Lebens über die Compagnie de l`art brut, eine Sammlung von rund Werken zusammengetragen. Diese schenkte er 1971 der Stadt Lausanne. Denn Paris hatte kein Gebäude zur Verfügung stellen wollen. Als Collection de l Art Brut begründete diese Sammlung damit das älteste Art Brut-Museum der Welt am Genfer See. 2. Beispiel für Künstler als wesentliche Akteure für Art Brut Als Reaktion auf diese Schenkung entstand in Frankreich 1975 auf Initiative der 3 Künstler MICHEL NEDJAR, MADELEINE LOMMEL und CLAIRE TELLER die Sammlung L Aracine mit rund Werken. In einem Vorort von Lille, der zweitgrößten Stadt Frankreichs, in Villeneuve d`ascq, hat diese Sammlung nach einer langen Geschichte der Suche nach einem endgültigen Verbleib 2010 einen fixen Standort gefunden. Es ist das Museum LaM (Lille métropole musée d art moderne, d art contemporain et d art brut) spezialisiert auf Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts 3. Beispiel In Österreich ist der bekannteste Ort für Art Brut Maria Gugging in Niederösterreich wurde das Museum eröffnet, in einem berüchtigten Gebäude, das ursprünglich als Abteilung der psychiatrischen Anstalt Gugging errichtet worden war. Jahrelang umgebaut und für Art Brut adaptiert. Wieder war es auch hier ein Künstler, der initiativ wurde. JOHANN FEILACHER, Nachfolger von LEO NAVRATIL als Psychiater und Leiter von Gugging ist auch Bildhauer. Wenige Meter vom neuen Museum entfernt ist das weltbekannte "Haus der Künstler", das eben LEO NAVRATIL 1981 gegründet hat. Er schickte JEAN DUBUFFET Zeichnungen seiner Patienten. Dieser akzeptierte sie als Art Brut. Bereits 1970 wurden die Gugginger Künstler das erste Mal in der Galerie nächst St.Stephan bei Monsignore OTTO MAUER präsentiert. Damals die Avantgarde- Galerie in Wien. Der Künstler OSWALD OBERHUBER war programmverantwortlich. Leo Navratils Sohn, WALTER NAVRATIL, ein bildender Künstler, brachte viele Menschen nach Gugging. ANDRÉ HELLER beispielsweise schreibt in seinen heuer publizierten "Wienereien": "1970 besuchte ich mit Walter das erste Mal den Arbeitsplatz seines Vaters. So begannen für mich die Gugginger Erfahrungen....Walla, Hauser, Tschirtner... Bewohner eines eigenen, funkelnden Landes, deren unheimliche Bestimmung es zu sein scheint, Geisterkleider aus Angst und Rätseln herzustellen". 2

3 Auch sonst fanden viele Künstler ihren Weg nach Gugging. Manche schon ganz früh, Anfang der 60er Jahre. PETER PONGRATZ war einer der ersten. In einem Interview mit GERHARD ROTH sagt er: "Um diese Zeit waren Arnulf Rainer, Du und ich mit Sicherheit die einzigen Künstler in Österreich, die sich vermutlich aus ähnlichen Motiven, aber völlig unabhängig voneinander, mit psychopathologischer Kunst beschäftigten. Und sieht man von Dubuffet und den klassischen Surrealisten ab, sicher unter den ersten Künstlern in Europa". GERHARD ROTH nannte das Haus der Künstler "Haus der schlafenden Vernunft" in Anlehnung an GOYAs Bezeichnung für den Wahn. Erst kürzlich hat der Schriftsteller neuerlich mit 2 Büchern seine Inspirationsquelle Gugging öffentlich gemacht. ARNULF RAINER zählt in Österreich zu den größten Art Brut Sammlern und Förderern. In seiner Sammlung befinden sich auch Werke aus unserem heutigen Ausstellungskontext, die er von EDUARD ANGELI erworben hat war ARNULF RAINER u.a. mit ADOLF FROHNER in der Jury für den Oskar Kokoschka Preis, den größten österreichischen Kunstpreis, der in diesem Jahr an die Gugginger Künstler vergeben wurde. EDUARD ANGELI war von dieser kulturellen Atmosphäre in Österreich umgeben, und er war mit LEO NAVRATIL befreundet. Künstler sind aber nicht nur Museumsgründer, Förderer und Sammler von Art Brut, sondern sie haben vor allem eine wesentliche Kompetenz in der Beurteilung, was Art Brut ist. Und wir können uns auf diese Wahrnehmung verlassen und dieser ein Stück folgen. Und das ist wohl ver-rückter Standpunkt Nummer 2 inmitten der ganzen Diskussion, wer die Deutungshoheit der Art Brut hat. Üblicherweise wird diese Kunsthistorikern, Galeristen, Schätzmeistern in Auktionshäusern oder Kuratoren zugeschrieben. Ich aber behaupte, es sind die Künstler. Es geht bei Art Brut ja immer nur um Kunst. Der Fokus ist auf die Qualität des künstlerischen Ausdrucks gerichtet. Und eben nicht auf den sozialen Status oder den psychischen Zustand der Künstler. Bereits JEAN DUBUFFET versuchte Art Brut auch ideell aus der Psychiatrie zu lösen und für die Kunst zu reklamieren. Diese Diskussion ist schon sehr alt. Wie Sie wahrscheinlich wissen, spielten historisch 2 Bücher eine Schlüsselrolle dabei. Der Kunsthistoriker und Psychiater HANS PRINZHORN publizierte 1922 die "Bildnerei der Geisteskranken". Basis seiner Forschung waren nicht nur die Sammlung der psychiatrischen Klinik von Heidelberg, wo er angestellt war, sondern auch mehr als Werke aus europäischen Psychiatrien, um die er gebeten hatte. De facto zeitgleich, 1921, erschien das Buch über ADOLF WÖLFLI "Ein Geisteskranker als Künstler", das auch seinen Psychiater WALTER MORGENTHALER aus der Klinik Waldau weltberühmt machte. Mutig war hier der Begriff "Künstler". Jedenfalls mutiger als HANS PRINZHORNS Ausdruck "Bildnerei". 3

4 In einem Film über den österreichischen Art Brut Künstler JOSEF HOFER hat ARNULF RAINER kürzlich gesagt "Art Brut hat es immer gegeben, es ist nur nicht beachtet worden". Heute scheinen wir uns vor allem in Europa in einer Phase zu befinden, wo Art Brut zunehmend beachtet wird. Woran erkennen wir das? 1. neue Museen entstehen Neben den schon erwähnten Häusern in Gugging und Lille ganz neu das Museum of Everything. Kein klassisches Museum, kein fixer Ausstellungsort zeigte das Londoner Kaufhaus Selfridges die Exhibition #4. Es war die innovativste Art Brut Ausstellung, die ich je gesehen habe. 400 Werke von über 50 Ateliers aus der ganzen Welt - Gugging war eines dieser 50 und die Lebenshilfe Oberösterreich mit JOSEF HOFER das zweite aus Österreich - mehr als Besucher. Selfridges wurde temporär zum Art Brut Museum. 2. Ateliers und Studios werden weltweit sichtbar, neue Ateliers entstehen Die Caritas Wien startet gerade ein neues Projekt, das Atelier 10 im 10. Wiener Bezirk in der ehemaligen Ankerbrotfabrik. 3. Art Brut Preise werden verliehen. Der wichtigste internationale Art Brut Preis ist der euward. ARNULF RAINER sitzt in der Jury. Und der letzte Preisträger ist ein österreichischer Art Brut Künstler, PETER KAPELLER, der mit der Caritas assoziiert ist. 4. Sammlungen werden öffentlich. Alleine in den letzten Monaten habe ich ganz große Art Brut Sammlungen gesehen, beispielsweise die Sammlung KORINE UND MAX E. AMANN im Kunstmuseum Thurgau in der Schweiz, die Sammlung ETERNOD & MERMOD in Lille, die Sammlung CHARLOTTE ZANDER in der Halle St. Pierre in Paris und in Bönnigheim, die Sammlung (Richard) TREGER - (Antonio) SAINT SILVESTRE im Viera da Silva Museum in Lissabon. Aber nicht nur in Museen oder in Kaufhäusern werden heute Art Brut Sammlungen gezeigt, sondern auch in kleineren Räumen wie hier, die früher Eisenhandlungen waren. Warum? Wieso ist also Art Brut wieder in Mode gekommen? Was Art Brut ausmacht und gerade jetzt attraktiv zu machen scheint, hat schon mit der Außenseiter-Thematik zu tun. Außenseiter sind Menschen, die Grenzen ver-rücken. Dadurch entstehen neue Räume. In diesen Räumen ist Besonderes möglich. Und vom Rand her ergibt sich die Chance auf eine spezielle Weise ins Zentrum zu blicken. Art Brut Modelle rücken also aus ihrer jeweiligen Außenseiterposition zunehmend ins Zentrum der Aufmerksamkeit. 4

5 In unserer globalisierten Welt suchen wir heute vor allem Authentizität. Wenn Kunst ein Spiegel unseres Wirtschaftssystems ist, können wir Hypothesen wagen, warum Art Brut gerade jetzt wieder in Mode kommt. Vermutlich zeigt sie uns genau jene Ver-rücktheiten unseres Wirtschaftslebens, die sich nicht mehr an der Peripherie, sondern zunehmend im Zentrum unseres Systems abspielen. Ein System, das wir alle kollektiv hervorbringen, obwohl es scheinbar niemand mehr so will. Gleichzeitig stiftet Art Brut Sinn. Gerade jetzt, wo es viele Menschen gibt, die eine zunehmende Sehnsucht nach sozialer und kultureller Verantwortung verspüren. Die unseren Planeten Erde besser machen wollen. Und das ist schon ein weiterer, mein letzter, der 3. ver-rückte Standpunkt. Die Sammler von Art Brut sind also etwas ganz Besonderes. Denn sie machen zweierlei: Zum einen schaffen sie durch die Zusammenstellung ihrer Kunst neue Räume, in denen etwas "emotional Bedeutsames" stattfindet. Zum anderen werden diese Räume dann selbst so etwas wie ein kreatives Kunstwerk. Wie hier und jetzt. EDUARD ANGELI hat kürzlich in einem Film über ihn gesagt "Kunst verändert nicht die Welt, aber uns, wir werden durch die Kunst besser". Wie das gelingt, hören Sie am besten von ihm selber. Lieber Edi, ich danke dir für diese Ausstellung. 5