10:00. Handelsabkommen. Eisenbahnstraße. Abhandengekommen Verlust. Von Geld, Arbeit oder
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- Ferdinand Morgenstern
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1 10:00 Eisenbahnstraße Handelsabkommen Abhandengekommen Verlust. Von Geld, Arbeit oder Wohnraum, von Wünschen oder Zielen, von Heimatgefühl, von Dominanz, Selbstbewusstsein oder Identität. Von Werten verschiedener Art. Etwas nicht mehr in der Hand zu haben. Oder das Gefühl davon. Trinkhalle//Eisenbahnstraße Die Trinkhalle ist eine Art Kiosk mit angeschlossenem, wellblechüberdachtem Schankraum. Es gibt Bier, Wurst, Cola und solcherlei Sachen. Und auf den Werbeschildchen zum Teil noch DM-Preise. 34
2 Während der 45 vormittäglichen Minuten in dem kleinen Kabuff schweift mein Blick. Von meinem Gesprächspartner zu den anderen Männern, die langsam wieder anfangen, sich zu unterhalten, und zur Straße, die durch die offene Tür zu sehen ist. Ein komisches Gefühl. Wie ein begrenzter, gerahmter Blick auf die Außenwelt. Draußen, gegenüber, der türkische Gemüseladen, allerlei Nationalitäten laufen vorbei. Wie fühlt man sich, wenn man hier drinnen steht, wo alles gleich ist seit Jahren, wo noch DM-Preise hängen, wo es Wurst gibt und Bier und die Kumpels? Wo man deutsch ist? Man steht ganz eng beieinander, es ist nicht viel Platz zwischen den Holzwänden. Höhle, Enklave, sicherer Ort. Draußen ist die Eisenbahnstraße. Eine der lebendigeren Straßen in Leipzig. Vielfältig, in Bewegung, im Umbruch. Draußen hört und liest man Worte, die man nicht versteht, man sieht, wie die leeren Gebäude von wechselnden Läden belegt werden, in die man gar nicht erst geht.»ich geh da nicht rein ich kann da nicht rein es gehört nicht mehr uns wir fühlen uns verdrängt wir ziehen uns zurück wir grollen leise.«haci Baba Döner//Eisenbahnstraße Mazlum bringt Lammfleisch mit Reis. Er hat auch Apfeltee gebracht, frechgrün, und einen Korb mit geröstetem Fladenbrot und in Papier gewickeltes Besteck. Er ist Kurde, aber das sagt er etwas verschwörerisch, leise. Auch, dass er aus politischen Gründen aus der Türkei fortgegangen und vorm Militärdienst geflohen ist, bleibt Randnotiz. Früher wollte er Lehrer werden, für Geschichte.»Ich bin nicht mit einem Döner geboren, ich bin nicht mit einem Döner aufgewachsen. Den Döner hab ich erst in Deutschland bekommen.«daheim wollte er nicht in den Schuldienst, da hätte er lügen müssen im Unterricht, über 35
3 10:00 EisenbahnstraSSe die Geschichte der Kurden in der Türkei. Und hier in Deutschland ist es auch nicht leicht: Schulabschlüsse werden nicht anerkannt, perfektes Deutsch muss man sprechen können. Man wäre ja Beamter dann. Und irgendwas musste er ja machen hier, um Geld zu verdienen, also steht er im Dönerladen. Kurz war er mal verheiratet gewesen mit einer Deutschen, die hatte schon ein Kind. Aber dann haben sie nur noch gestritten. Jetzt ist er alleine in Leipzig, in Deutschland, keine Familie. Was würde passieren, wenn er ins Krankenhaus käme, fragt er sich. Hier hat er Freunde, aber Liebe, die ist in der Türkei. Handstand Nicht auf beiden Beinen, sondern auf den eigenen Händen stehen. Auf ihnen fußen sozusagen: Dass Einen die eigenen Hände tragen, dass sie Einen nähren. Leben, manchmal von der Hand in den Mund. Machen, schaffen, tun. Die Hand als Symbol für Arbeit, für Kraft und Stärke, die nährende Hand. Kim Shop//Eisenbahnstraße Herr Quan ist seit 19 Jahren in Leipzig, davor war er in Dresden, hergekommen als Gastarbeiter. Nach der Wende hat er den Textilienhandel Kim Shop eröffnet. Dort arbeitet er mit seiner Frau. Er hat zwei Söhne. Einer studiert, der andere arbeitet im Nagelstudio Rose Nails in der Zschocherschen Straße. Das gehört auch Herrn Quan. Der Kim Shop läuft nicht so gut, also muss er umdenken. Seine Zukunft liegt in den Händen der Leute. Haci Baba Döner//Eisenbahnstraße Mazlum arbeitet viel. Manchmal zwölf Stunden am Tag steht er hinter der Theke, seit zwei Jahren. Spät abends zieht er seine weißen Turnschuhe an und ein weißes Poloshirt. Kämmt sich die Haare zurück und bedeckt den Geruch von Arbeit und Essen mit Eau de Toilette. Wir sitzen zu viert in einem Café in der Innenstadt. Laut und systemgastronomisch. Der Bagel ist kleiner als ein Döner, aber kostet 36
4 mehr. Sollen wir woanders hingehen? Nein, wir sind eingeladen. Endlich nicht mehr stehen, sagt er. Trinkhalle//Eisenbahnstraße»Früher war ich Bauschreiner, da bin ich viel rum gekommen, hab auch besser verdient. Heute arbeite ich als Dienstleister für Porsche. In der Verpackung. Schichtdienst. In Volkmarsdorf gibt s mehr Arbeitslose als anderswo. Warum? Wahrscheinlich wegen der Mieten.«Händel Zwist und Zank. Sich uneins sein mit dem Gegenüber, dem Anderen, sich unrecht behandelt fühlen. Aber auch Wut und Hass, manchmal. Wenn die Handlung des Anderen Angst und Zorn hervorruft. Kim Shop//Eisenbahnstraße»Die anständigen Ausländer ziehen weg aus der Eisenbahnstraße!«Angst hat Herr Quan nicht, aber auch kein Geld in der Kasse.»Die Junkies klauen aus Not und Zigeuner wollen einfach klauen.«doch bei ihm gibt es nichts zu holen. Die Einnahmen sind im Keller, seit der Kaufland da vorne aufgemacht hat. Die Abgaben sind hoch, und manchmal bleibt am Ende des Monats nichts übrig. Es kommen immer weniger Kunden. Vietnamesen kommen sowieso nicht, aber manchmal Türken oder Araber,»die kaufen hier ihre Unterwäsche. Die Deutschen kommen am meisten.die Rechtsradikalen«, sagt Herr Quan,»sind höflich, ruhig, freundlich und ordentlich.«das ist Herr Quan auch. Wenn man hier wohnt, muss man sich anpassen, meint er:»deutsche Sprache sprechen, nach deutschen Gesetzen leben. Hier ist Deutschland.«Haci Baba Döner//Eisenbahnstraße Nach München oder Berlin will Mazlum nicht. Kleine Städte sind besser als große, da gibt es nicht so viele Türken. Wenn er in Deutschland wohnt, dann will er 37
5 10:00 EisenbahnstraSSe
6 auch unter Deutschen leben, wollte er unter Türken wohnen, könnte er ja in die Türkei gehen. Er braucht dieses Sicherheitsgefühl der gleichen Sprache nicht.»ich sach ma so, wenn ich mich benehme, keine Scheiße baue, dann passiert nichts. Ich hab auch einen Kumpel, der ist richtig rechtsradikal.«und dann erzählt er, wie sie Freunde geworden sind. Eine Kneipendiskussion, Mazlum bleibt sachlich und ruhig, man sieht sich ab und zu. Dann kommt der andere ins Gefängnis, Mazlum besucht ihn. Die deutschen Kameraden kommen nicht. Trinkhalle//Eisenbahnstraße»Ein Problemviertel ist das hier. Also, ich sehe keine Zukunft. Dialog? Seh ich nicht. Deutsche werden nicht die türkische Kultur annehmen. Und Türken nicht die deutsche. Kontakt zu Ausländern hab ich nicht, na, ab und zu beim Einkaufen. Im Urlaub hab ich gesehen: Die Türken in der Türkei sind ganz anders, das sind anständige Menschen. Hier sind doch nur Kurden, die arbeiten nicht richtig. Oder auf Zypern: Griechen und Türken. Das funktioniert, man hilft sich untereinander. Aber hier geht das nicht, weil die Türken einfach nicht offen sind.«händeschütteln Ein Handschlag, ein abgeschlossener Handel. Ausgehandelte Positionen, über welche hinweg man sich die Hände reicht. Handeln als Tausch, als Austausch, aber auch als Agieren. Eine Begegnung, ein Gespräch. Eine Geste, auch ohne Worte. Kim Shop//Eisenbahnstraße Herr Quan hat fast alles. Unterhemden, Insekten hinter Glas, Stoffblumenbouquets, sexy Strandtücher, futuristische Wecker, Kittelschürzen und Flaggen. Eine Wunderkammer, die bis auf die Straße hinaus schwappt. Zwei Frauen bleiben stehen, greifen in die Auslage. Herr Kim grüßt von seinem Klappstuhl aus, die Frauen sagen nichts. Als sie fort sind, fängt er an, von der WM zu erzählen. Da habe er unzählige Flaggen 39
7 10:00 EisenbahnstraSSe verkauft, deutsche, italienische, brasilianische. Alle möglichen. Die deutschen wären am besten gelaufen.»ich hatte auch eine am Auto... Während der WM gab es zwischen allen Nationen keinen Ärger. Frieden zwischen allen Ländern. Danach: vorbei.«trinkhalle//eisenbahnstraße»hier drinnen fühlen wir uns wohl, da draußen nicht!«unter den misstrauischen Augen der Matrone trinke ich meine Cola. Wenn man rein kommt, kauft man auch was. Die Geschäfte hier seien mit der Wende alle kaputt gegangen, jetzt gebe es nur noch ausländische Läden. Von lauten Russen wird erzählt und von Internetcafés, die bis 3 Uhr nachts aufhaben. Aber es gebe auch Unterschiede: Die Vietnamesen seien ruhig und höflich, denen könne man schon mal»guten Tag«sagen. Haci Baba Döner//Eisenbahnstraße Mazlum begrüßt seine Kunden über die Theke hinweg oder durch das offene Fenster zur Straße. Er nickt ihnen zu, lächelt, ruft»hallo!«und»wie geht s?«, hebt die Hand, oder reicht sie ihnen zum Gruß. Ein junger Mann in schwarzem T- Shirt mit weißen, gotischen Lettern bestellt durch das Fenster hindurch etwas zum Mitnehmen und plaudert ein bisschen. Mazlum mag den Kontakt zu den Leuten, und im Haci Baba ist ständig was los. Döner isst jeder. Sarah Ludwig-Simkin 40
8 Ringbuch Verlag Berlin RINGBUCH V E R L A G 24 Stunden Leipzig Frei(t)räume Ein Buch vom Reisen in Übergängen Matthias Ferkau, Anja Görtler, Aleksandra Kulasza, Hanna Schmidt, Nina Schumacher (Hg.)
9 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN Ringbuch Verlag Ringbuch Verlag, Mohr/Ouart/Schöbe/Vetter/Weichardt GbR, Straße vor Schönholz 10, Berlin Dieses Werk entstand in Kooperation mit Kultiviert anders! e.v. Leipzig Gefördert durch das Institut für Europäische Ethnologie / Kulturwissenschaft der Philipps-Universität Marburg Unterstützt durch Mittel der Initiative»Heimat (er)finden!«des Landesverbandes Soziokultur Sachsen e.v. in Verbindung mit dem Sächsischen Landesjugendamt und Fördermitteln des Freistaates Sachsen, unter Schirmherrschaft der Sächsischen Staatsministerin für Soziales. Herausgegeben von Matthias Ferkau, Anja Görtler, Aleksandra Kulasza, Hanna Schmidt und Nina Schumacher Redaktion: Matthias Ferkau, Anja Görtler, Agnieszka Habraschka, Aleksandra Kulasza, Sarah Ludwig-Simkin, Wiebke M. Reinert, Hanna Schmidt und Nina Schumacher Illustrationen: Anja Görtler Fotos: Matthias Ferkau, Aleksandra Kulasza, Julian Kulasza Einbandgestaltung, Satz und Layout: Matthias Schöbe Druck: Computer Publishing OHG Digitaldruck-Center Offenberg-Aschenau Printed in Germany Rechte und Haftung: Die Arbeiten müssen nicht die Meinung der Redaktion widerspiegeln. Verantwortlich für den Inhalt sind die jeweiligen AutorInnen. Besuchen Sie uns im Internet:
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