Rainer Malkowski Die Gedichte
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- Jobst Solberg
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2 Rainer Malkowski Die Gedichte
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4 Rainer Malkowski Die Gedichte Mit einem Nachwort von Nico Bleutge Wallstein Verlag
5 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Zweite Auflage 2012 Wallstein Verlag, Göttingen Vom Verlag gesetzt aus der Stempel Garamond Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf Druck und Verarbeitung: Hubert & Co, Göttingen ISBN (Print) ISBN (E-Book, pdf) ISBN (E-Book, epub)
6 Inhalt Was für ein Morgen (1975) 7 Einladung ins Freie (1977) 87 Vom Rätsel ein Stück (1980) 173 Zu Gast (1983) 257 Was auch immer geschieht (1986) 335 Das Meer steht auf (1989) 403 Ein Tag für Impressionisten und andere Gedichte (1994) 477 Hunger und Durst (1997) 563 Die Herkunft der Uhr (2004) 641 Nachwort von Nico Bleutge 719 Verzeichnis der Gedichttitel und -anfänge 737 Inhalt 755
7
8 Was für ein Morgen
9
10 Für Margarete
11
12 Laufende Untersuchung Mein Schrank kann nichts dafür meinem Tisch kann ich keinen Vorwurf machen auch Stühle und Sessel sind außerhalb jeder Verantwortung sollten aber Pfannen und Töpfe schuld daran sein daß ich nicht mehr leben mag in meinem Haus: ich werde es schon noch herausfinden. 11
13 Schlechter Esser Stockige Luft, in der zwei mal zwei vier ist. Die eiserne Klammer um meinen Kopf. Wenn ich sie löse, zerplatzt er. Und schneller als mein Nachbar über der Suppe erstaunen kann, sind alle meine Gedanken in zwanglose Winde zerstreut und ich mit ihnen: unauffindbar unter zufälligen Planeten. 12
14 Auf der Strecke Mäßiges Schnitzel vor Ulm. Im Zwielicht die entzündeten Augen eines Signals, das auf Rot steht. Wir alle müssen einmal sterben, sagen die Überlebenden. Der Zusammenstoß war laut und vermeidbar. Nur der Familienvater mit der Verbundscheibe im Hals sah verwundert aus. Aber, nicht wahr: so sind die Lokomotivführer heute. Alles wissen sie, und es hilft ihnen nichts. 13
15 Wüßte ich einen Dies ist ein Morgen zu schön um nicht an den Tod zu denken. Die fabelhaft indirekte Beleuchtung, die Wolkenschollen locker im Blau. An einem Morgen wie diesem fuhr ich durch Simmering; sah Grabmal und Küchenkraut. Sah die erbitterte Steinmetzfrau staubwischen auf den Schultern der Engel. Wüßte ich einen ich gäb ihm meinen Tag unbenutzt. 14
16 Ausgrabung Gestern haben sie hier ein antikes Theater ausgegraben, fast zweitausend Jahre alt. Aber das ist nicht das Erstaunlichste: auf der untersten Steinstufe fanden sie ein nahezu vollständiges Skelett. Offensichtlich ein Zuschauer, der sich weigerte, zu glauben, daß alles aus ist. 15
17 Leichenzug Gleichschritt. Die Frau, die ins Schweigen ihr Taschentuch verliert. Die Delle in der Tuba. Die schaufelnden Schuhspitzen des Pfarrers Wär ich so jung wie der picklige Meßbub vorn. Er kämmt mit den Fingern gelangweilt den Scheitel. 16
18 Kinderfoto bis an die Hüfte reicht das Gras dem Knaben er sieht den Vögeln zu wer darum weint wird der nicht Flügel haben der Knabe geht mit einem Traum zur Ruh 17
19 Wollte ich heute sein wie am Anfang Am Anfang hatten sie keinen Teller für mich, denn ich war ihnen nicht ähnlich. Da begann ich mich zu verstellen. Ich lernte die Suppe zu löffeln wie sie. Jedes Jahr wurde ich ihnen ähnlicher, und eines Tages heiratete ich die Tochter des Kochs. Wollte ich heute sein wie am Anfang: ich müßte mich wieder verstellen. 18
20 Erst wenn der Schlüssel verlegt ist wenn die Tür Rost ansetzt in den Angeln wenn Radio und Fernsehen gesperrt sind und natürlich das Telefon wenn der Briefträger nicht mehr klingelt wenn die Freunde verreist sind wenn die Nachbarn sich abgewöhnt haben nach dir zu fragen erst dann dann vielleicht wird sich herausstellen was du bist ein Ruf oder ein Echo und ob dein Ohr fein genug ist das zu entscheiden. 19
21 Ich trete meine Uhr in den Sand. Ich will mir den Baum nicht merken, unter dem ich meinen Anzug ablege. Und wenn ich hinausschwimme, höre ich nichts als den Wind. Unablässig durchwühlt er die Zweige nach seinem Namen. 20
22 Verlassene Wallfahrtskirche Dieser Platz, groß genug für zehn oder zwölf Busse: jetzt mit toten Blättern bedeckt. Im Pfarrhaus drüben eine fleischige Hand an der Gardine. Was ist zu halten von Bittgängern außerhalb der Saison? Die eisenbeschlagene Tür ruckt zögernd ins Schloß; unsicher über das Maß an Stille, das mir zumutbar ist. Ob Gott an mich glaubt? Ich zähle die Rautenfliesen im Mittelgang. Es ist sehr weit zu den Gesichtern der Heiligen und dem Altartuch, das steif vor Kälte um den Marmorblock steht. 21
23 Wo Raum ist Nicht in Häusern, nicht in Worten, nicht unter Händen im Dunkeln wo der Horizont mitwandert, wo alle Ziele gleich weit sind, wo Raum ist und keine Herberge, wo kein Strauch die Unendlichkeit bedeckt, da ist Zuflucht. Ich trage meine Unruhe über die Felder, und sie steigt auf mit den Krähen. 22
24 Versuch mit Zürich Hier, im Goldenen Winkl, wurde Gottfried Keller geboren. Leberli ißt man in der Reblaube vorzüglich. Darf ich Ihnen mehr zeigen? Vielleicht den schwimmenden Käfig der Frauenbadeanstalt. Oder möchten Sie die patriotischen Brunnen besehen? Ich habe sie gezählt an einem leeren Novembertag. Meine Zufälligkeit, abgespiegelt in den Scheiben honetter Juweliere und Confiserien, zwingt mich zur Präzision. Wenn es auch wenig hilft, diese oder eine andere Stadt auswendigzulernen gegen das Fremdsein. 23
25 Stilleben Der Mond scheint auf die halbleere Bierflasche vor mir. Wie lange schon? Irgendwann diese Nacht ging der Ofen aus. Irgendwann diese Nacht hörte die Uhr auf zu ticken. Irgendwann diese Nacht hatte ich eine Verabredung mit mir und bin nicht gekommen. 24
26 Stadtrand vor Tag Hundertstimmig schreien die Vögel in den verlassenen Gärten den Tag herbei. Dir bleiben noch drei Stunden Schweigen. Dann werden die Brötchen vor die Tür gelegt, der Nachbar läßt sein Auto an: du gehst von dir fort und lebst. 25
27 Morgende gibt es leicht weiß da scheint alles möglich. Gestern abend, zum Beispiel, habe ich lange daran gedacht. 26
28 Einmal, auf einem Sandberg Einmal, auf einem Sandberg, an einem heißen Sommertag an der Havel, habe ich einen gelben Vogel erfunden als ich noch jung war. Der flog nur für mich und meine Freunde und starb im Schilf bei Lindwerder am Abend des Tags. Nun weide ich ihn aus. 27
29 Pfadfinder rückwärts Immer wieder die Rucksäcke, die man als Junge keuchend über Chausseen trug, alte Kähne im Spreewald, das Oberschenkelreißen in zu enger Schulbank. Die Lucies und Marions auf Kellertreppen und unter Kirschbäumen. Krankenzimmer, Schläge, Hoffnungen, in eine Tapete geritzt. Der erste Schreibtisch, Verse, eine Silbe, die nicht auf der Zunge zerging. Ich sagte, er sagte, wir taten, wir unterließen: dieses ganze verdammte Wiederkäuen der Vergangenheit bis sie immer schmackhafter wird. Sonnenaufgänge und -untergänge, die kühle Zwiesprache, nachts, mit dem Brunnen in Goslar. Reisen, Räusche und hastig abgeworfene Bettdecken. Pfadfinder rückwärts immer über die eigene Fährte gebeugt. Ja, da ist einer gegangen und also lebt er. 28
30 Lebt er auch heute? Heute, ein Tag, der verdeckt geschieht. Morgen, das ist die Zeit bis zum Tod. 29
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