Profitest. Merida Scultura SL

Transkript

1 Profitest Merida Scultura SL

2 Magic Lampre Als neuer Co-Sponsor von Lampre ist Merida jetzt mit einer Rennmaschine in der ersten Liga des Straßenradsports vertreten. Marcel Wüst testet das Scultura SL, den taiwanesischen Neuzugang im Peloton. Text Marcel Wüst Fotografie Kai Dudenhöfer

3 Profitest Während das Profi-Peloton Anfang Februar die Mallorca Challenge bestritt, hatte ich einen Termin in einem Hotel, in dem die meisten Mannschaften wohnten. Ich ging an allen Teambussen und -fahrzeugen vorbei, grüßte ein paar Mechaniker, die ich noch aus meiner aktiven Zeit kannte, und schaute mir das neue Material an. Die Lampre-Merida-Maschinen in der Team-Version fielen mir besonders ins Auge, zumal ich wusste, dass ich in der folgenden Woche selbst ein Exem plar probefahren würde. Natürlich passte die extravagante Farbgebung des Rades zu den Trikots des Profi- Teams, auch wenn es dem durchschnittlichen Radfahrer nicht leicht fallen dürfte, seine Garderobe auf die knalligen Farben von Lampre-Merida abzustimmen. Als ich eine Woche später wieder da war, um meine persönliche Schönheit abzuholen, bekam ich ein Rad, das noch besser war als das, mit dem die Mannschaft eine Woche zuvor gefahren war. Die Farben von Lampre-Merida sind vieles, aber nicht dezent. Meines war mit der nagelneuen Dura-Ace Di2 elffach ausgestattet, während das Team noch mit dem Zehnfach-Modell unterwegs war. Eins zu null für Marcel, dachte ich mir, und es dauerte nicht lange, bis ich losfuhr und meinen Spaß hatte. Der Ingenieur, der mit das Rad gegeben hatte, erklärte mir, dass Merida den Fahrkomfort durch die Einbettung von Flachsfasern in den Carbon-Rahmen erhöht habe und der Radstand und die Kettenstreben kürzer seien nur 400 Millimeter. Von dem Flachs merkte ich erst einmal nichts, aber nach nur 200 Metern spürte ich, wie agil das Rad war. Das extrem geringe Gewicht, gepaart mit der enormen Steifigkeit des BB386-Tretlagers und den Fulcrum-Carbon-Laufrädern, machte es Mein Testrad war mit der neuen Dura-Ace Di2 elffach ausgestattet, während das Team noch mit dem Zehnfach-Modell unterwegs war. zu einer wahren Freude, auf dem Weg zum Cap de Formentor an einigen Radtouristen vorbeizusprinten. Ich fuhr mit Volldampf durch ein paar Kreisverkehre, und je schneller ich in die Kurven ging, umso mehr Spaß machte es. Dieses Bike ist definitiv etwas für Fahrer, die den Kick suchen und sich auf eine schnelle Maschine mit perfektem Fahrverhalten verlassen wollen, die auf rasanten Abfahrten beruhigend sicher die Spur hält. Dass ich mit den Schuhspitzen das Vorderrad berührte, wenn ich stand und den Lenker einschlug, zeigte mir, dass es eine sehr ähnliche Geometrie hatte wie mein alter Specialized-Maßrahmen aus Aluminium, den ich damals bei Festina fuhr so muss sich ein Rennrad fahren. Aber wenn man die höhere Steifigkeit des Carbons gegenüber meinem Rahmen aus Columbus-Rohren berücksichtigt und ein Gewicht, das bei Rennen fast illegal wäre, habe ich vielleicht gerade mein perfektes Rad gefunden. 106 Procycling juli 2013

4 Merida Scultura SL Das steife BB386-Tretlager ist gepaart mit einem großen Tretlagergehäuse, das durch Verstärkungsrippen noch verwindungssteifer ist. Conti-Competition-Schlauchreifen und Fulcrum-Racing- Speed-XLR-Laufräder sorgen für ein superschnelles Set-up. Natürlich bin ich froh, dass ich mich nicht mehr so quälen muss wie damals, als ich noch trainierte und Rennen fuhr, aber manchmal gehe ich noch gerne an meine Grenzen, weil es einfach Spaß macht, auf so einer Maschine zu fahren. Leider war das Wetter im Norden nicht so gut wie in meiner Casa, also war es kein Tag, um unterwegs Kaffee zu trinken oder gemütlich über die Insel zu cruisen. Als ich frühmorgens im Südosten aus dem Haus gegangen war, hatte die Sonne geschienen, aber jetzt hatte ich nicht die richtigen Sachen für den kühleren Norden dabei. Also musste ich Gas geben, um mich warmzuhalten. Ich schoss an ein paar Grüppchen vorbei und konnte wegen des Winds in meinen Ohren nicht einmal ihre Bemerkungen hören. Selbst die sauber asphaltierte Straße zum ersten Aussichtspunkt auf dem Weg zum Cap de Formentor sonst ein Hochgenuss zog sich heute etwas in die Länge. Nach fast jeder Rechtskurve blies mir der stürmische In den Gabelscheiden und den Sattelstreben wurden Flachsfasern verarbeitet, was den Fahrkomfort erhöht. Schnelles, geschmeidiges Schalten dank der Shimano Dura- Ace Di2 jetzt mit Elffach-Kassette. Technische Daten Modebewusste Menschen stören sich vielleicht an den pinkfarbenen Ausfallenden und der roten Nabe. Rahmen Merida Scultura SL Komponenten Shimano Dura-Ace Di2 11-fach Laufräder Fulcrum Racing XLR Carbon Bereifung Continental Competition (Schlauchreifen) Steuersatz Cane Creek Vorbau FSA OS 99 Lenker FSA Sattelstütze FSA, 27,2 mm Sattel Prologo Zero Gabel Merida Vollcarbon Gewicht 6,62 kg (ohne Pedale) Preis k. A. (als Scultura SL 909 mit mechanischer Shimano Dura-Ace und Mavic Ksyrium SLR Euro) Kontakt Procycling juli

5 Profitest Wind ins Gesicht. Ich legte ein Bergzeitfahren auf dem kleinen Blatt hin Hände am Unterlenker, und jedes Mal, wenn der Wind ein wenig nachließ, beschleunigte ich ein bisschen, ging aus dem Sattel, und das Bike reagierte sofort. Ich muss auf den ersten drei Kilometern rund 50 Radfahrer hinter mir gelassen haben, und ohne anzuhalten bog ich vor dem Aussichtspunkt rechts ab, um auf den steilen, malerischen, aber schlecht asphaltierten Straßen mal so richtig zu klettern. Der Wind wehte jetzt mehr von hinten und der Seite, und ich legte ein gutes Stück des Anstiegs im Wiegetritt zurück. Das Scultura ist sehr ausgewogen und die Traktion des Hinterrads hervorragend, selbst mit acht Bar in den Reifen. Ich war mir immer noch nicht sicher, ob die Flachsfasern einen großen Einfluss auf das Rad hatten, aber es fuhr sich auf jeden Fall trotz des unebenen Straßenbelags sehr ruhig. Doch nun zahlte ich den Preis für das Tempo, das ich unten angeschlagen hatte, als ich in Rennfahrermanier an den anderen Radlern vorbeigezogen war. Auf der Südseite des Hügels nahm ich ein bisschen Tempo raus. Bei dem tollen Blick auf das Mittelmeer konnte ich mich entspannen und das leuchtende Pink unter dem schwarzen Lenkerband bewundern, das perfekt auf die Farben der Mannschaft abgestimmt war. Mit dem keine Gramm wiegenden Rahmen und der leichten Gabel klettert das Merida flink und macht sich auch in den Abfahrten sehr gut. Ich war mir immer noch nicht sicher, ob die Flachsfasern einen Einfluss auf das Rad hatten, jedenfalls fuhr es sich sehr ruhig. Als ich die Kuppe erreichte, hielt ich mich nicht lange auf, sondern machte eine 180-Grad-Wende und fuhr auf derselben Straße bergab. Da ich wusste, wie gut die Dura-Ace-Stopper sind, bremste ich erst kurz vor den Kurven ab, und als ich die Hauptstraße runterfuhr, ließ ich es richtig krachen. Ebenso gute Dienste leistete die elektronische Di2-Schaltung von Shimano, die die Gänge wie immer erstaunlich leicht und geschmeidig wechselte. Mein Test-Bike hatte zudem den Di2-Sprint- Schaltknopf, um per Daumendruck schalten zu können, wenn man die Hände am Unterlenker hat. Ich probierte ihn aus, als ich aus ein paar scharfen Kurven und aus den beiden Serpentinen unten am Berg heraussprintete ein großer Vorteil, wenn man mitten im Sprint den Gang wechseln will. Auch hier spürte ich die beeindruckende Steifigkeit des Rahmens, zu der auch die großflächige Verbindung der linken Kettenstrebe mit dem Tretlager und die Verstärkungsrippen am Tretlagergehäuse beitragen. Das voluminöse Unterrohr hat eine Zwei-Kammer-Bauweise, die dem Rahmen zusätzliche Robustheit verleiht. 108 Procycling juli 2013

6 Beim Teambike sind auch die Umwerfer- Halterung und die Nieten für die Flaschenhalter verstärkt und besonders langlebig. Das Oberrohr geht fließend in die Sattelstreben über, die das Geheimnis des Fahrkomforts des Scultura SL sind. Flachsfasern, die zwischen den Carbonschichten eingebettet sind, haben eine stoßdämpfende Wirkung und sind ein Geheimnis, das Johann Museeuw vor einigen Jahren lüftete, als er seinen gleichnamigen Rahmen auf den Markt brachte. Die Naturfaser kommt auch in der aus zwei Kammern bestehenden Carbon-Gabel zum Einsatz, die eine großartige Partnerschaft mit dem konischen 1 1/8- bis 1 1/2-Zoll-Steuerrohr eingeht. Als ich im Tal ankam, war mir trotz der rasanten Abfahrt ein bisschen kalt, und so legte ich zur Abwechslung ein paar kurze Sprintintervalle ein. Ich fühlte mich fast wie in alten Zeiten, als ich beim Sprint- Schnell bergab: Sogar mit den neuen Flachsfasern, die für mehr Fahrkomfort sorgen, ist das Scultura SL ein reinrassiges Rennrad. Dieses rad wäre meine erste wahl als profi, Aber ich glaube nicht, dass Lampre-Merida mich heute unter Vertrag nehmen würde. training Vollgas gab, und wünschte mir, dass ich vor zwölf Jahren ein Arbeitsgerät wie das Scultura gehabt hätte. Die Beschleunigung, der Sprint-Schaltknopf und die Fulcrum-Laufräder ließen meinen Puls ebenso schneller schlagen wie der vierte 20-Sekunden-Sprint, der meine Beine schließlich explodieren ließ und mir den typischen Geschmack von Blut im Mund bescherte Na ja, jedenfalls war mir endlich wieder warm, und ich war bereit für die lange Heimfahrt, bei der ich den Wind die meiste Zeit im Rücken hatte. Ich hatte mit den Leuten im Presse- Camp schon ausgemacht, mit dem Rad die weite Strecke nach Hause zu fahren, um am nächsten Tag noch einmal eine Runde damit zu drehen und es dann rechtzeitig wieder abzuliefern, bevor die Mannschaft von der Insel abreiste. Die Details zeigten mir, dass dies ein Teamrad durch und durch war von den Logos des Reifensponsors Continental auf den Hinterbaustreben bis hin zu den farblich abgestimmten Laufrädern. Aber die roten Naben werden bald ausgetauscht, was eine gute Idee ist sie beißen sich wirklich mit dem Pink, Grün und Blau des Lampre-Merida-Trikots. Die FSA-Komponenten in passendem Grün genau wie auf dem Cannondale SuperSix sind ein hübsches Detail, und das Finish all dieser Carbon-Komponenten ist makellos. FSAs OS 99-Vorbau und der passende Lenker sind so gut, wie sie aussehen, weswegen sie die erste Wahl für mein eigenes Rad wären. Die Schalt- und Bremszüge sind im Inneren des Rahmens verlegt, der mechanische und elektronische Systeme aufnimmt. Die Batteriehalterung unter der linken Kettenstrebe ist ästhetisch perfekt. All das macht das Bike optisch sehr ansprechend und zu einem echten Rennpferd. Auf dem Heimweg, den ich bei kühlem und kräftigem Rückenwind sehr genoss, konnte ich meine Beine wirklich spüren. Ich war wieder froh, dass die Zeiten, in denen ich mich als Radsportler quälen musste, vorbei waren und ich heute nicht mehr ständig jenen Blutgeschmack in der Kehle spüren musste. Es war gut, daran erinnert zu werden auf einem Rad, das meine erste Wahl wäre, wenn ich je wieder in den Wettbewerb einsteigen sollte. Aber ich glaube nicht, dass Lampre-Merida mich heute unter Vertrag nehmen würde. Procycling juli