Zur Einführung: Ein deutsches Requiem
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- Sophia Acker
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2 Zur Einführung: Ein deutsches Requiem in Hamburg Das semantische Potential der Kunstwerke erschließt sich nicht im Augenblick ihres ersten Erscheinens, sondern enthüllt sich erst mit ihrem geschichtlichen Weiterleben, ihrem Eintreten in neue Kontexte der Rezeption. Albrecht Wellmer1 Ein deutsches Requiem, von Johannes Brahms abschätzig das Ding2 genannt, um damit seine tiefe emotionale Bindung an das Werk zu camouflieren - und zugleich zu offenbaren, ist neben den Bachschen Passionen und dem Weihnachtsoratorium das meistgespielte (kirchen)musikalische Werk in Hamburg. In der jüngsten Vergangenheit hat es bis zu 10 Aufführungen pro Jahr erreicht. Das dürfte in der über 140-jährigen Aufführungsgeschichte des Werkes deutschlandweit einmalig sein. Diese Auffuhrungsgeschichte beginnt mit dem Jahre 1869, als Hamburg mit zu den ersten Städten im deutschsprachigen Raum gehörte, die Ein deutsches Requiem nach der Uraufführung in Bremen am Karfreitag, den 10. April 1868, nachspielten. Unter der Leitung von Julius von Bemuth, dem damaligen Leiter der Hamburger Singakademie und dem Dirigenten der Konzerte der Philharmonischen Gesellschaft in Hamburg, kam das Werk hier am 23. März 1869 in der St. Michaeliskirche zur Erstaufführung. Für die Soli hatte man die junge Hamburger Sopranistin Elisabeth Avé-Lallemant ( ) und den hannoverschen Hofopemsänger August Keller gewonnen. Der Organist war G. D. W. Osterholdt. Wie zahlreiche spätere Aufführungen auch war sie ein Benefizkonzert, in diesem Falle Zum Besten des Kinder-Hospitals des weiblichen Vereins für Armen- und Krankenpflege. Fanden die weiteren Aufführungen bis zum Jahrhundertende in Abständen von ein bis vier Jahren statt, so setzte mit der Aufführung vom 21. November 1906 ein Brauch ein, der sich im Laufe des folgenden Jahrzehnts zur so genannten Tradition der Bußtagskonzerte entwickelte: der alljährlichen Aufführung des Werkes am Bußtag in der St. Michaeliskirche. In dieser Zeit wurde das Werk zu einem der unentbehrlichen Stützpunkte3 des Hamburger Musiklebens. Dabei sollte es selbst während des Dritten Reiches bleiben. Ende der 50er Jahre heißt es dann in der Hamburger Presse, das Deutsche Requiem habe einen ersten Platz im alljährlichen Konzertrepertoire und im Herzen der Hamburger Musikfreunde4 und einen Ehrenplatz im Jahresrhythmus des Hamburger Musiklebens5 erobert.
3 10 Zur Einführung Im Jahre 1971 ist in diesem Zusammenhang gar von einer musikalischen Hamburgensie6 die Rede. Dieser Rolle des Werkes im Hamburger Musikleben entspricht auch diejenige bei Veranstaltungen, die Johannes Brahms als Komponisten gewidmet waren und häufig mit runden Geburts- oder Todestagen zusammenfielen. So wurde das Deutsche Requiem unter anderem bei den Brahms-Festen 1922, 1933 und 1937 an exponierter Stelle aufgeführt, fand es Eingang in die Brahms-Wochen Hamburg 1958,1973 und 1983 und bekam es ab 2006 seinen besonderen Platz bei den Hamburger Ostertönen. Die nun über 140-jährige Aufführungsgeschichte des Brahmsschen Werkes in Hamburg ist eine Geschichte mit vielen Linien und Facetten. Über 60 Chöre und Kantoreien haben das Werk bisher aufgefuhrt. Unter ihnen hat sich die Hamburger Singakademie wie keine andere musikalische Institution um das Deutsche Requiem verdient gemacht. Mit 155 Aufführungen zwischen 1869 und 2008 fuhrt sie die Liste der Veranstalter an. Diese Ausnahmerolle wurde schon früh in der Hamburger Presse anerkannt und herausgestellt. So schrieb Ferdinand Pfohl 1894 in seinem Jubiläumsartikel zum 75-jährigen Bestehen der Singakademie: Die Singakademie hat sich um die Pflege der Chorkomposition großen Stils und damit um das künstlerische Leben Hamburgs große Verdienste erworben, welche aufrichtige Anerkennung fordern.7 Waren die Besprechungen der Aufführungen bis in die Mitte derl 890er Jahre eher kritisch und durch eingeschränktes Lob gekennzeichnet, wandelte sich das Bild um die Jahrhundertwende entscheidend. Dabei werden die führenden Kritiker nicht müde, die verschiedensten Vorzüge des Chors hervorzuheben. Im Jahre 1903 erklärt Wilhelm Zinne die Singakademie gar zum besten Chor Hamburgs*. Mitgestalter der Aufführungen neben dem Hauptakteur Hamburger Singakademie, die sowohl als Chor wie als Veranstalter auftrat, war das Philharmonische Orchester, das im Laufe der Jahrzehnte unter fünf verschiedenen Namen firmierte. Bei der Hamburger Erstaufführung wirkte das Orchester der Philharmonischen Gesellschaft mit, das diese seit 1859 unterhielt. Thm folgte ab 1896 das Orchester des Vereins Hamburgischer Musikfreunde. Dies wurde ab der Saison 1926/1927 in Philharmonisches Orchester umbenannt und am 1. Januar 1934 mit dem Orchester des Stadttheaters zwangsvereinigt; es bekam den Namen Philharmonisches Staatsorchester. Nach dem Zweiten Weltkrieg hieß es zunächst [Hamburgisches] Philharmonisches Orchester und ab Januar 1948 wieder Philharmonisches Staatsorchester. Die Zusammenarbeit der Philharmonischen Gesellschaft und der Hamburger Singakademie, die seit 1872 vertraglich miteinander verbunden waren, gestaltete sich zwar nicht immer problemlos und konfliktfrei, wenn es zum Beispiel darum ging, wer was zu welcher Zeit aufführen durfte, war aber
4 Zur Einführung 11 letztlich doch eine erfolgreiche, wenn man an die gemeinsamen Aufführungen des Deutschen Requiems denkt und welchen unvergleichlichen Beitrag zum Hamburger Musikleben und Dienst am Werk von Johannes Brahms sie damit geleistet haben. Umso mehr ist zu bedauern, dass 1994 die Zusammenarbeit von Seiten des Philharmonischen Staatsorchesters aufgekündigt wurde. Veranstaltungsort der allermeisten gemeinsam von der Hamburger Singakademie und der Philharmonischen Gesellschaft veranstalteten Aufführungen war die Hauptkirche St. Michaelis, mit gütiger Erlaubnis des Kirchenvorstandes9, wie es in einer Konzertanzeige 1904 heißt. So ist es nicht übertrieben, wenn KMD Christoph Schoener von St. Michaelis jüngst den schönen Satz prägte: Sein [Brahms'] Deutsches Requiem gehört [...] zu St. Michaelis wie der Michel zu Hamburg.10 In der Tat waren selten andere Lokalitäten wie zum Beispiel das Stadttheater, der Conventgarten, das Concerthaus Hamburg (Gebr. Ludwig), Sagebiels Etablissement oder die Musikhalle Ort der Aufführung. Das war insbesondere in der Frühzeit der Hamburger Aufführungen der Fall und zu Zeiten, als die Michaeliskirche wegen Brand oder Kriegszerstörungen nicht zur Verfügung stand. Hatte die Singakademie in der Aufiführungsgeschichte lange Zeit eine vorherrschende Rolle gespielt, das Bild vom Deutschen Requiem geprägt und Vorgaben an hoher Aufführungsqualität gemacht, änderte sich das Bild ab 1954 zunehmend, indem mehr und mehr Hamburger Kantoreien und Chöre sich des Werkes annahmen und sich durchaus neben der Singakademie behaupten konnten. Diese Entwicklung fand im Jahr 1986 mit 10 Aufführungen ihren ersten Höhepunkt. Aufführungsort waren die angestammten Kirchen und die Musikhalle. Die Aufführungen des Deutschen Requiems und ihre Rezeption sind nicht nur ein Stück Hamburger Musikgeschichte, sondern zugleich ein Spiegel der Zeitgeschichte. Das zeigt sich besonders deutlich in Zeiten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen Wandels und Zeiten der Not. So hörte man etwa das Brahmssche Werk während der beiden Weltkriege ganz anders als zu Friedenszeiten. Auch das Bedürfnis, das Deutsche Requiem zu hören, ist zeitbedingt ganz verschieden. So war die Michaeliskirche im Rübenwinter 1916, einer Zeit größter Hungersnot, bis auf den letzten Platz besetzt, wie auch die Aufführung im Inflationsjahr 1922 bei Preisen von 300,200, und 70 Mark schon Tage vorher ausverkauft war. Ähnliches gilt auch für die Zeit des Wirtschaftswunders, als Wolfgang Sawallisch des Bedarfs wegen 1961 (wieder) Doppelaufführungen einführte. Ob die gesteigerte Zahl von Aufführungen seit Mitte der 1980er Jahre einen vergleichbaren Hintergrund hat, wird erst die Zukunft erweisen. Bei aller Konstanz und Wiederholung der Aufführungen, nicht nur der Bußtagskonzerte durch die Hamburger Singakademie, sondern auch durch die übrigen Hamburger Chöre und Kantoreien, bietet sich hinsichtlich der Rezeption
5 12 Zur Einführung durch die Hamburger Presse ein abwechslungsreiches und vielgestaltiges Bild. Das betrifft sowohl die Aufführungen selbst als auch deren Rezeption und gilt insbesondere für die Zeit von 1890 bis 1933, als Hamburg eine außerordentlich reiche Presselandschaft von bis zu sechs Tageszeitungen von durchweg hoher inhaltlicher Qualität, großer politischer Bandbreite und vielfältigem kulturellen Interesse besaß. So konnte es Vorkommen, dass eine Aufführung, wie etwa das Gedenkkonzert vom Oktober 1897 oder die vom Bußtag 1909 und 1932, mit fünf bzw. sechs Rezensionen bedacht wurde. Mit der Gleichschaltung der Presse 1933 wurde zwar die individuelle politische Ausrichtung der einzelnen Blätter drastisch eingeschränkt bzw. ideologisch vereinheitlicht, im kulturellen Sektor jedoch blieb eine gewisse Bandbreite erhalten. Auch das Interesse am Werk und seinen Aufführungen unterlag keinen Einschränkungen; in den fünf übrig gebliebenen Zeitungen erschienen bis 1943 bis zu vier Rezensionen. Nach dem II. Weltkrieg schien es zunächst so, als würden sich fünf Zeitungen etablieren, doch innerhalb weniger Jahre zeigte sich, dass drei von ihnen dem Konkurrenzdruck nicht gewachsen waren und eingestellt werden mussten. Am Ende blieben von den seriösen Tageszeitungen nur die beiden Springer-Blätter, das Hamburger Abendblatt und DIE WELT, übrig. Das bedeutete gegenüber der bisherigen Rezeptionsgeschichte eine große Verarmung. Diese hat sich in den letzten 20 Jahren dadurch fortgesetzt, dass das Interesse der Hamburger Presse an den Aufführungen des Deutschen Requiems generell stark abgenommen hat. Heute werden sie nur noch in den seltensten Fällen besprochen. Damit kommt die Hamburger Rezeptionsgeschichte des Werkes - jedenfalls soweit sie sich in Rezensionen manifestiert - gleichsam zum Erliegen.
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