Mit dem kann man ja gar nicht reden! SwissFamilyDocs Conference in Basel
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- Simon Wolf
- vor 8 Jahren
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1 Mit dem kann man ja gar nicht reden! SwissFamilyDocs Conference in Basel 1
2 Seminarleitung Dr. med. Felix Brem, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie FMH -Eigene Praxis seit Heimpsychiater zahlreicher Institutionen für Menschen mit geistiger Behinderung -Deutsches Zertifikat als Arzt für Menschen mit gb Dr. med. Alfred Schweizer, Facharzt für Allgemeinmedizin FMH -Hausarzt seit Heimarzt Friedheim Weinfelden seit
3 Theoretische Einführung aus allgemeinmedizinischer Sicht Geistig und mehrfach behinderte Menschen verhalten sich anders als unbehinderte Menschen in unserer Sprechstunde. 3
4 Sie kommen nicht allein, sondern in Begleitung von Fachoder Betreuungspersonen. 4
5 Sie kommen teils gegen ihren Willen in die Sprechstunde; der Ort ist unvertraut, sie verstehen die Situation nicht, haben evtl. Angst. 5
6 Sie drücken sich in ungewohnter Weise aus. 6
7 Die Beobachtungen von Drittpersonen (Eltern, Betreuer, Sozialpädagogen) sind unsere anamnestischen Eckpfeiler. 7
8 Körperliche Untersuchungen sind erschwert und benötigen einen achtsamen Umgang; manchmal wehren sie sich. 8
9 Körperliche Untersuchungen können unvollständig, gar nicht oder bei zwingender Indikation nur in Narkose durchgeführt werden. 9
10 Sie benötigen mehr Sprechstundenzeit. 10
11 Sie werden häufig als Notfallpatienten gebracht oder müssen in einer Institution besucht werden. 11
12 Sie haben oft keine klaren oder aber atypische Symptome, zeigen evtl. nur Verhaltensveränderungen oder wirken für uns unauffällig. Duldende Haltung 12
13 Sie haben evtl. keine eigenen Vorstellungen vom Behandlungsziel: Bessere Funktion oder nur Schmerzfreiheit? 13
14 Sie unterliegen statistisch betrachtet deutlich erhöhten Gesundheitsrisiken. 14
15 Im ärztlichen Handeln ist bei geistig und mehrfach behinderten Patienten besonders zu beachten: -Gesichtssinn -Gehörsinn -Reflux -Obstipation -Blutdruck -Osteoporose/Vitamin D -Gebiss -Epilepsie -Medikamentennebenwirkungen 15
16 Verhaltensauffälligkeiten sollen immer an körperliche Beschwerden denken lassen. Zum Beispiel: -Zahnschmerzen -Gelenk- und Rückenschmerzen -Schilddrüsenfunktionsstörungen -Überlaufblase -usw. 16
17 Eine genaue Information ist, speziell auch für Begleitpersonen, besonders wichtig. 17
18 Präventive Beratung zu folgenden Bereichen dürfen nicht vergessen werden: -Ernährung -Bewegung -Hygiene -Gebisspflege -Unfallverhütung -Sexualberatung 18
19 Menschen mit Behinderung sind sehr dankbar. 19
20 Ergänzungen aus psychiatrischpsychotherapeutischer Sicht 20
21 Unser Menschen-/Behindertenbild überdenken. Behindert Dumm Nicht reden Nichts verstehen 21
22 Geistige Behinderung ist nicht etwas, was man hat - wie blaue Augen oder ein 'krankes' Herz. Geistige Behinderung ist auch nicht etwas, was man ist - wie etwa klein oder dünn zu sein. Sie ist weder eine gesundheitliche Störung noch eine psychische Krankheit. Sie ist vielmehr ein spezieller Zustand der Funktionsfähigkeit, der in der Kindheit beginnt und durch eine Begrenzung der Intelligenzfunktionen und der Fähigkeit zur Anpassung an die Umgebung gekennzeichnet ist. Geistige Behinderung spiegelt deshalb das 'Passungsverhältnis' zwischen den Möglichkeiten des Individuums und der Struktur und den Erwartungen seiner Umgebung wider. 22
23 23
24 Vertrauensverhältnis aufbauen. z.b. durch regelmässige Kontakte 24
25 Für vertraute Umgebung sorgen. Evtl. Heimbesuche statt Konsultation in der Praxis 25
26 Bei Verhaltensveränderungen immer zuerst an körperliche Ursachen denken. Fragen nach Schmerz, Depression, Demenz 26
27 Anrede Kommunikation: -Mit, statt über den Patienten reden -Kommunikationshilfen -Warten können -Wiederholungen 27
28 Frage nach Auftraggeber Settingfragen 28
29 Positionierung in der Institution Möglichkeiten der Institution bedenken Fehlerquellen in der Institution. Kommunikationskultur 29
30 Krisenintervention 30
31 Bedachter Einsatz von Psychopharmaka Es werden zu oft Neuroleptika, zu selten Antidepressiva verschrieben; oft ungerechtfertigter Verzicht auf Benzodiazepine; regelmässige Überprüfung und Ausschleichversuche. 31
32 Fall 1.: f, 1946, Diagnose : Down Syndrom : friedliche, häufig lächelnde Patientin. Geht betreut jeden Freitag auf den Markt und verkauft auch im Wartezimmer im Heim gebackenes Holzofenbrot. -zunehmendes Jammern in all den Jahren -2010: adynam, wehklagend, Gewichtszunahme, weniger selbständig Fragen: -An was denken Sie beim Down Syndrom im Alter? -Was veranlassen Sie? -Wie schätzen Sie den Zeitbedarf für eine internistische Untersuchung? -Wie stützen Sie das Betreuungsteam? - 32
33 Fall 2: f, 1970 Diagnose: Symptomatische Epilepsie, leichte Intelligenzminderung, Verhaltensstörung, motorische Störung nach Herpencephalitis Einstellung der Epilepsie inkl. Kontrollen in der Epiklinik in Zürich Somatische Probleme selten Dann: zunehmend aggressives Verhalten Selbstverletzungstendenz fremdaggressives Verhalten den Mitbewohnern gegenüber Fragen: -Was soll ich untersuchen? -Wie ist die Situation auf der Wohngruppe? -In wie weit hängen diese Verhaltensänderungen mit einer körperlichen Erkrankung, den Antiepileptika oder gar mit der Situation in der Wohngruppe zusammen? -Ist der Einbezug des Heimpsychiaters sinnvoll? 33
34 Fall 3: m, 1963 Diagnose: Bipolare Störung, Oligophrenie unklarer Ätiologie -Notfallkonsultation bei vergrössertem Hoden re: Untersuchung nicht möglich. Bei v. a. Epididymitis Antibiose mit Nebenwirkungen -Vorverlegung der Zahnsanierung in Narkose. In Narkose Sonographie: Hydrocele testis bds. -wegen Zunahme der Hydrocele re (mechanische Probleme der Haut) Operation re. Postoperativ ist Pflegepersonal überfordert. Vorzeitige Entlassung. Nachblutung am 3. postoperativen Tag. Revisionsoperation. Erneut schwierige stationäre postoperative Betreuung trotz vom Heim gestellten Betreuungspersonen. -sechs Monate später bei Zunahme der Hydrocele lks stellt sich die Frage einer Operation lks. Fragen: - Nochmals Ultraschall in Narkose, ev. Inguinoscrotalhernie? -Anderes Spital suchen? -anderes Urologenteam suchen? -Wie Betreuungsteam und Heim ins Boot holen? 34
35 Fall 4: f, 1985 Diagnose: Schwere hirnorganische Mehrfachbehinderung bei/mit: -geistiger Behinderung mit schwerer Kommunikationsstörung -tetraspastische Cerebralparese -neurogene Knick/Senkfüsse sowie coxa vara et antetorta bds. (Orthesenversorgung) -Epilepsie mit komplex-fokalen Anfällen mit teils sekundärer Generalisation -Dystone-ataktische Bewegungsstörung, thorakolumbale Skoliose, dorsale Aufrichtspondylodese Problem: Beschäftigt immer wieder Notfallärzte und benötigt Notfall-Kurzhospitalisationen wegen wiederkehrenden Phasen von Übelkeit, Erbrechen, Apathie, Trinkunvermögen Fragen: -Wie soll das Betreuungsteam auf der Wohngruppe gestützt werden? -Wie können Epileptologe, Spitalneurologin und Gynäkologin besser einbezogen werden? - Wie können Kurzhospitalisationen vermieden werden? 35
36 Klinische Manifestation der Demenz/1 (nach Evenhuis 1990) Häufige Frühsymptome Apathie Sozialer Rückzug Tagesschläfrigkeit Verlust von Selbsthilfefertigkeiten Nichtkognitive Psychopathologie (Verhalten, Affekt, Wahrnehmung, Schlaf) 36
37 Klinische Manifestation der Demenz/2 Spätere Symptome Gedächtnisstörungen Desorientiertheit Neurologische Symptome wie Apraxie Sprachstörungen Inkontinenz ( aus Christian Schanze: Psychiatrische Diagnostik und Therapie bei Menschen mit Intelligenzminderung; Schattauer 2007) 37
38 Diagnosekriterien für Demenz bei Menschen mit Intelligenzminderung 1. Abbau von Selbstversorgungsfähigkeiten 2. Veränderungen in der Persönlichkeit (z.b. sozialer Rückzug, Apathie, Feindseligkeit) 3. Die Veränderungen in 1. oder 2. haben zu einer signifikanten Beeinträchtigung bei der Arbeit, sozialen Aktivitäten oder im zwischenmenschlichen Bereich geführt. 4. kein Anhalt für das Vorliegen einer akuten organischen Psychose, d.h. Dauer länger als sechs Monate. 5. Es gibt begründeten Anlass aus der Krankengeschichte oder der körperlichen Untersuchung für die Annahme einer somatischen Genese der Störung, bzw. es liegt keine andere seelische Erkrankung wie eine z.b. Depression oder eine Psychose aus dem schizophrenen Formenkreis vor. ( aus Christian Schanze: Psychiatrische Diagnostik und Therapie bei Menschen mit Intelligenzminderung; Schattauer 2007) 38
39 Differentialdiagnostik der Demenz bei Menschen mit geistiger Behinderung Schilddrüsen-Funktionsstörungen Andere endokrinologische Störungen Vitaminmängel Medikamenten-Nebenwirkungen Infektionskrankheiten Andere Hirnerkrankungen Andere somatische Erkrankungen Morbus Parkinson Depression 39
40 Diagnosekriterien für Depressionen (nach Pary et al. 1999/ in Schanze: Psychiatrische Diagnostik bei MmgB; Schattauer) Symptome Gedrückte Stimmung oder irritierte Stimmungsqualität Deutlich vermindertes Interesse an Vergnügen und vielen Aktivitäten Gewichts- und Appetitverlust oder Zunahme des Appetits Erscheinungsformen apathisch, trauriger oder ärgerlicher Gesichtsausdruck, Fehlen emotionaler Reaktionen, Niedergeschlagenheit, Schreien, Wutanfälle, verbale und körperliche Aggressivität Rückzug, mangelnde Wirkung von erprobten Motivationen, Weigerung an Freizeitaktivitäten oder Arbeit teilzunehmen, Desinteresse an Aktivitäten wie Musik hören oder Fernsehen Wutanfälle beim Essen, Stehlen von Essen, Horten von Lebensmitteln, Verweigerung von Nahrung Schlaflosigkeit, vermehrtes Schlafbedürfnis Psychomotorische Verarmung oder Übererregbarkeit Müdigkeit, Energieverlust Gefühl der Wertlosigkeit oft kein subjektiver Bericht erhältlich, daher Bericht anderer über häufiges Aufstehen in der Nacht, verspätetes Einschlafen, Schlafen oder Einnicken am Tag, nächtliche Wutanfälle ruheloses Umherlaufen, Energieabnahme, Passivität, sehr verlangsamt, Flüstern, Verstummen, Einsilbigkeit, Auftreten oder Zunahme von selbstverletzendem Verhalten erscheint dauernd müde, Verweigerung von Arbeit und Freizeitaktivitäten, Verweigerung der Körperpflege, Inkontinenz bei mangelnder Energie Äusserungen wie: ich bin dumm oder ich bin schlecht Konzentrationsstörungen Wiederholte Todessehnsüchte, suizidales Verhalten oder suizidale Äusserungen Geringe Arbeitsleistung, Änderung der Freizeitgewohnheiten Beständige Beschäftigung mit dem Tod von Angehörigen oder Freunden, Beschäftigung mit Beerdigungen 40
41 Abgrenzung zwischen Depression und Demenz /1 Depression Probleme heftiges Klagen Gedächtnisstörungen weniger ausgeprägt Orientierung verhältnismässig intakt Hygiene bleibt unauffällig Beginn Tage oder Wochen Sexuelle Bedürfnisse eher gestört Antidepressive Therapie bessert Denkstörungen Dauer akut, vorübergehend Demenz werden verharmlost Ausgeprägt Gestört Gestört Schleichend eher ungestört kein Einfluss auf Denkstörungen chronisch, bleibend ( aus Christian Schanze: Psychiatrische Diagnostik und Therapie bei Menschen mit Intelligenzminderung; Schattauer 2007) 41
42 Abgrenzung zwischen Depression und Demenz /2 Problem: Depression oft ein Frühsymptom einer Demenz; auch dann Gedächtnis weniger verfügbar, bessert jedoch auf Gabe von Antidepressiva 42
43 Zur Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft von Ärzten für Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung SAGB/ASHM -> Hier ist unter Mitgliedschaft auch das Anmeldeformular zu finden. Alle Ärztinnen und Ärzte sind eingeladen, Mitglied dieser Arbeitsgemeinschaft zu werden. Jahrestagung SAGB/ASHM 2011 : Donnerstag, , , Inselspital Bern, Thema: Autismus Anmeldung unter: sekretariat@sagb.ch 43
44 Weitere Links: -UNO Resolution für die Rechte von Menschen mit geistiger Behinderung -Zu den Vorträgen der Konferenz in Potsdam -Merkblatt: Was kann man tun -Modellprojekt Rheinland-Pfalz -Europäisches Manifest -Kasseler Kongress Declaration of Rome -Medizinische Krisenintervention bei Menschen mit geistiger oder mehrfacher Behinderung 44
45 Weitere Links: -Kurzfassung Referat von Dr. med. Felix Brem (Jahrestagung 2008) Schmerz/PDF/Schmerzskala_2010.pdf Schmerzskala im PDF-Format 45
46 Weitere Links: Tagung-LH-0911.pdf Elementare Anforderungen an die Organisation gesundheitsbezogener Leistungen für E. Medizinische Behandlung und Betreuung von Menschen mit Behinderung (2008) 46
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