Beitrag: Willkommen in der Wirtschaft Einwanderer dringend gesucht

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1 Manuskript Beitrag: Willkommen in der Wirtschaft Einwanderer dringend gesucht Sendung vom 1. September 2015 von Anke Becker-Wenzel und Tine Kugler Anmoderation: Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg. Stimmt das? Erinnern wir uns mal an die EU-Osterweiterung. Da meinte man in Deutschland lange, die Polen, Litauer oder Ungarn vom Arbeitsmarkt fernhalten zu müssen. Aber wer kümmert sich heute um unsere Alten, Pflegebedürftigen und Gebrechlichen? Ungezählte Frauen aus Polen, Litauen oder Ungarn. Und das ist nicht nur so, weil die Jobs so billig sind. Für viele Arbeitsplätze gibt es inzwischen nicht genügend deutsche Bewerber. Da werden Einwanderer auch als Fachkräfte - dringend gesucht! Anke Becker-Wenzel und Tine Kugler über unsere Wirtschaft, die Flüchtlinge gerne beschäftigen würde. Sollte einfach sein, ist es aber nicht. Text: Rund eine Million Stellen sind derzeit in Deutschland zu besetzen. Kempten. Das mittelständische Unternehmen Allgäu Medical: 75 Mitarbeiter, 200 Krankentransporte am Tag. Die Firma braucht dringend neue Leute. O-Ton Sarah Spöttl, Unternehmerin: Also, wir haben schon seit Jahren Stellen beim Arbeitsamt immer wieder ausgeschrieben. Aber das Feedback ist, ich will nicht sagen gleich Null, aber einfach zu gering, dass wir nach wie vor freie Stellen haben und froh wären, wenn es einfach motivierte Menschen gibt, die bei uns arbeiten möchten. Die Unternehmer sind enttäuscht, haben schlechte Erfahrungen mit Kandidaten vom Arbeitsamt. Wirklich arbeiten wollten viele von denen nicht. O-Ton Wolfgang Strahl, Unternehmer: Man kann natürlich auch das ganz Typische, was - glaube ich

2 - vielen Arbeitgebern in Deutschland so geht, erleben, dass man zehn Vorstellungsgespräche führt und sechs, sieben, acht Kandidaten kommen und wollen eigentlich nur nen Stempel, damit sie da waren und haben viele Ausreden, warum sie hier ne Tätigkeit nicht machen können. In direkter Nachbarschaft: Flüchtlinge, die gerne bei Medical arbeiten wollen, Nazim zum Beispiel. Seinen richtigen Namen mag er nicht nennen, er fürchtet um die Sicherheit seiner Familie in Afghanistan. Dort war er Lehrer, musste aus politischen Gründen fliehen. Seit vier Monaten Leben im Container zum Nichtstun verurteilt. O-Ton Nazim, Asylbewerber: Ohne eine Arbeit kann ich mein Deutsch nicht verbessern, ich kann keine Beziehungen mit anderen Menschen knüpfen. Eine Stelle ist so wichtig, um mir hier etwas aufzubauen, meine Wünsche zu erfüllen. Asylbewerber dürfen theoretisch nach drei Monaten arbeiten, in der Praxis sieht das oft anders aus. Die meisten müssen monatelang warten. Weil sie nicht Deutsch sprechen, finden sie keine Arbeit. Aber Deutsch lernen dürfen sie bei der Arbeitsagentur erst, wenn sie als Flüchtlinge anerkannt sind. Und außerdem gibt es viel zu wenig Sprachkurse. O-Ton Prof. em. Dietrich Thränhardt, Migrationsforscher: Es heißt ja immer in der Politik: Sprache, Sprache, Sprache. Das ist ja auch richtig. Aber für die Asylbewerber gibt es zunächst eben keinen Sprachkurs bis zur Anerkennung. Tutzing. Bei einer Fachtagung stellt Migrationsforscher Thränhardt seine aktuelle Studie vor. Danach gibt es einen gewaltigen Bearbeitungsstau. Viele Asylbewerber können deshalb nicht arbeiten unbearbeitete Anträge - bereits zu Beginn dieses Jahres. Die vielen neuen Flüchtlinge noch gar nicht eingerechnet. O-Ton Prof. em. Dietrich Thränhardt, Migrationsforscher: Die Realität dauert heute im Schnitt etwa ein Jahr. Und vielfach dauert es natürlich sehr viel länger, vor allem für Iraner, Afghanen. Und das führt dazu, dass die Sachen nicht ins Rollen kommen. Hildesheim. Die Grüne-Arbeitsmarktexpertin Brigitte Pothmer fordert schon lange schnellere Verfahren und mehr Sprachkurse. All das hatte die Große Koalition vor einem Jahr zugesagt. Nur unter diesen Bedingungen hatten die Grünen den Verschärfungen im Asylgesetz zugestimmt. O-Ton Brigitte Pothmer, B 90/GRÜNE, MdB, Arbeitsmarktexpertin:

3 Meiner Ansicht nach verhält der Bund sich in dieser Frage nicht vertragstreu. Also, ein formaler Zugang nützt den Menschen letztlich ja nichts, sondern es muss einen faktischen Zugang zum Arbeitsmarkt geben. Weil die Politik versagt, ergreifen Bürger die Initiative. In Hildesheim haben sie Fahrräder gespendet und unterrichten Flüchtlinge - ehrenamtlich. Die Deutschlehrerin Christa Kulenkampff, stellt uns ihren Schützling Tabina aus Pakistan vor. Die 17-Jährige lebt gerade sechs Monate in Deutschland, geht jetzt schon zum Gymnasium. O-Ton Tabina, 17 Jahre, Asylsuchende: Ich habe Chemie oder Informatik und ich habe Mathematik, jede Woche. Ich bin hier, ich möchte studieren und etwas machen, arbeiten. Gerade junge Flüchtlingskinder wie Tabina seien hochmotiviert. Talente, die die Politik verkümmern lasse. O-Ton Christa Kulenkampff, ehrenamtlich tätige Deutschlehrerin: Viele Flüchtlinge müssen auf einen Kurs warten und ich helfe denen dann bei einem Einstieg. Es ist schade, dass die Politik da so wenig gemacht hat. Regelmäßig unterrichten sie und andere Lehrer Flüchtlinge - ehrenamtlich. Denn die Bundesregierung zahlt für zusätzliche Sprachkurse bisher 0,00 Euro. Trier, Rheinland-Pfalz. Endlich werden Flüchtlinge nicht nur gefragt, woher sie kommen, sondern auch, was sie können. Einzelgespräche und Fragebögen - ein Modellversuch - Kompetenzen erfassen. Doch die Bundesagentur für Arbeit hat dort gerade mal einen zusätzlichen Mitarbeiter eingestellt, der Arabisch spricht. Endlich können Flüchtlinge wie Mohamad Al-Homsi gleich nach der Ankunft erklären, was sie können. Al-Homsi hat in Syrien mit Generatoren gehandelt. Deutschland - für ihn das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. O-Ton Mohamad Al-Homsi, Asylbewerber: Deutschland ist die Nummer eins bei Maschinenbau, Mechanik, Technik, in allem. Und ich hoffe, mein Glück in diesem Land zu machen, ja. Doch im neuen Land der unbegrenzten Möglichkeiten sind die bürokratischen Hürden für Flüchtlinge nach wie vor hoch. 300 von ihnen will der Hotel- und Gaststättenverband Rheinland-Pfalz ausbilden, aber gerade 50 sind seit Januar untergekommen.

4 O-Ton Gereon Haumann, Präsident DEHOGA Rheinland-Pfalz Die größte Schwierigkeit war zunächst, an die Flüchtlinge ranzukommen, dann sie zusammenzubringen, an einen Ort, dort den Sprachkurs zu organisieren, zu finanzieren und während der dann läuft, by the way, noch den bürokratischen Dickicht und alle Auflagen zu erfüllen. Das war echt ätzend. Fesehaye ist einer von den 50. Er flüchtete aus Eritrea. Seit einem Jahr wartet er darauf, ob er in Deutschland bleiben darf. Jetzt macht er trotzdem ein Praktikum. O-Ton Fesehaye Mengisteab, Praktikant: Ich möchte eine Ausbildung machen als Hotelfachmann. Wenn ich fertig bin mit dem Praktikum, möchte ich gerne drei Jahre lernen. Doch nach wie vor ist unklar, ob er nach der Lehre bleiben darf. So geht es vielen. Ein Arbeitsplatz allein reicht nicht für den dauerhaften Aufenthalt in Deutschland. Hotelier Darstein hat für diese deutsche Rückständigkeit kein Verständnis. O-Ton Frank Darstein, Hotelier: Bleibe oder Asyl, das ist alles kontraproduktiv. In dem Moment, wo einer hier arbeiten will, und er arbeitet und liegt dem deutschen Steuerzahler nicht auf der Tasche, dann muss er die Möglichkeit bekommen, seinen Job auszuüben und uns zu helfen. Wiesbaden, Verwaltungsgericht. Akten über Akten - alles Asylverfahren. Das müsste nicht sein, beklagt Verwaltungsrichter Göbel-Zimmermann und fordert: Wer eine Arbeit findet, soll raus aus dem langwierigen Verfahren. O-Ton Ralph Göbel-Zimmermann, Verwaltungsrichter Wiesbaden: Es macht doppelt Arbeit, es nimmt auch Ressourcen, Verwaltungsressourcen, in Anspruch, gerichtliche Ressourcen in Anspruch. Ganz zu schweigen davon, dass es gravierende Unterbringungsprobleme für Flüchtlinge gibt. Alles das könnte man dadurch jedenfalls ein Stück weit reduzieren, indem man den Flüchtlingen dann die Möglichkeit eröffnet, hier in der Bundesrepublik zu bleiben. Schweden. Arbeit ab dem ersten Tag. Und außerdem: Wer Arbeit hat, kann bleiben. Abukar Albadri lebt seit sechs Jahren mit seiner Familie in Stockholm. Dort arbeitet er als Übersetzer. Sein Migrationsausweis die Eintrittskarte in die Arbeitswelt.

5 O-Ton Abukar Albadri, Schwedischer Migrant Jeder Asylbewerber kann die bekommen, dann hängt es von deinem Glück und deinen Fähigkeiten ab, deinen Arbeitgeber davon zu überzeugen, dass er dir deinen Job gibt. Wer arbeitet, darf bleiben, auch wenn er kein Asyl bekommt. Nur wer dauerhaft ohne Arbeit ist und ohne Asyl, muss auch in Schweden wieder gehen. Das schwedische Modell gibt Flüchtlingen eine Chance und entlastet den Staat. Der deutsche Politologe Bernd Parusel ist selbst ein Arbeitsmigrant. Vom deutschen Bundesamt für Migration wechselte er zu den schwedischen Behörden. O-Ton Bernd Parusel, Politologe, schwedisches Migrationsamt Migrationsverket: Der freie Zugang zum Arbeitsmarkt für Asylbewerber während des Verfahrens wird eigentlich von allen positiv gesehen. Das ist sowohl für lokale Arbeitgeber gut als auch aus einer staatlichen Perspektive, weil jemand, der arbeitet und selber Geld verdient, auch keine Leistungen vom Staat braucht. Und es ist auch aus Sicht der Asylbewerber positiv. Zurück nach Kempten zu Allgäu Medical. Die Unternehmer haben die Sache jetzt selbst in die Hand genommen, bieten in der Firma Sprachkurse für arbeitswillige Flüchtlinge an - ohne staatliche Hilfe, mit ehrenamtlichen Lehrern. O-Ton ehrenamtlicher Lehrer: Wo ist der Locher? Nazim lernt jetzt Deutsch. Neuerdings hat er bessere Chancen, kann auf Arbeit hoffen. Im Allgäu machen Unternehmer Druck - die Wirklichkeit überholt die Politik. Abmoderation: Machen wir uns doch nichts vor: Auch die sogenannten Wirtschaftsflüchtlinge, die jetzt schnell abgeschoben werden sollen, kommen wieder spätestens, wenn die Balkanländer der EU beitreten. Darauf sollte die Bundesregierung sich und uns einstellen schon jetzt. Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.