Vicco von Bülow / Ulrich Hirtzbruch / Matthias Nagel. Eine richtige Orgel hat Pfeifen

Transkript

1 Vicco von Bülow / Ulrich Hirtzbruch / Matthias Nagel Eine richtige Kirche hat eine Orgel Eine richtige Orgel hat Pfeifen So lautete der Slogan des Bundes der Deutschen Orgelbauer während einer Kampagne in den achtziger Jahren. Und auch heute erleben wir es selten, dass die Beschaffung von elektronischen Orgeln (also ohne Pfeifen) in der gemeindlichen Praxis eine Rolle spielt. In jüngerer Zeit war das etwa eine Gemeinde, die sich nach Beratung durch den Kreiskantor und den landeskirchlichen Orgelsachverständigen für ein Elektronium entschied unter Einbau von Prospektpfeifen der vormaligen Orgel. Einem dreimanualigen Instrument der jüngeren Generation begegneten wir jüngst an anderer Stelle. Im ersten der beiden Fälle sagten beide Fachberater übereinstimmend, es sei gut, sich von dem Orgelnegativ zu trennen; das Elektronium der jüngsten Generation mit hochwertigen gesampelten Klängen von Originalinstrumenten könne möglicherweise Lust machen auf mehr und damit den Übergang zu einer späteren größeren Pfeifenorgel darstellen. Im zweiten Fall muss man ebenfalls abwarten: In der dortigen Gemeinde wünscht man sich professionelle Kirchenmusik und möchte eine hauptamtliche Kirchenmusikstelle für die Gesamtgemeinde errichten. Es ist nicht ausgeschlossen, dass diese Entscheidung auf die Dauer Auswirkungen auf das Instrumentarium hat. Eine richtige Kirche hat eine Orgel Auch das ein Satz, den anscheinend niemand grundsätzlich in Zweifel ziehen wird. Und doch erlebten wir im letzten Jahr in einem Einzelfall in der Evangelischen Kirche von Westfalen, dass diese Aussage durch eine Kirchengemeinde mit einem evangelikalen Gemeindeprofil amerikanischer Prägung in Frage gestellt wurde: Wer einmal die Gelegenheit hatte, Gottesdienste in Gemeinden in den Südstaaten der USA, die Southern Baptist angeschlossen sind, zu besuchen, erlebt die dortige Standard-Ausstattung mit einer originalen Hammond- Orgel, zuweilen sogar mit der legendären B3; an besser ausgestatteten Standorten mit einer weiter entfalteten Musikpflege treten ein Flügel und ein Schlagzeug sowie als portables Instrument ein E-Bass hinzu, Skala nach oben offen bis zur Einbindung eines Blechbläser- Ensembles oder gar Streichorchesters für hochwertige Gospel-Produktionen. Auch aus

2 anderen Gründen erleben wir in der EKvW eine Ausdifferenzierung der instrumentalen Ausstattung. So hat in vielen Kirchräumen das Klavier oder sogar der Konzertflügel Einzug gehalten, in bescheideneren Kontexten ersetzt durch ein E-Piano, manchmal als Ersatz für die Orgel, häufiger als Ergänzung zur Orgel; dann werden beide Instrumente je nach musikalischer Aufgabe ob Choralbegleitung oder Neues Geistliches Lied genutzt. Biblische Quellen zur Musica sacra und Entwicklungen der musikalischen Praxis Nun ein Schritt zurück: Wie steht es um die biblischen Quellen zur Musica sacra und Aussagen zur musikalischen Praxis? Wir beschränken uns auf je eine Quelle im AT und NT. In Psalm 150, 3-5 heißt es: Lobet ihn mit Posaunen; lobet ihn mit Psalter und Harfe! Lobet ihn mit Pauken und Reigen; lobet ihn mit Saiten und Pfeifen! Lobet ihn mit hellen Zimbeln; lobet ihn mit klingenden Zimbeln! Der Psalmist besingt Gott mit allen Instrumenten der damaligen Zeit. Von dort aus ist es nicht weit zu einem Neuen Geistlichen Lied: Halleluja, lobt Gott in sein m Heiligtum, lobt ihn mit Piano, Bass und Saxophon Und im Brief an die Kolosser, Kapitel 3, 16, umgangssprachlich wie auch die Parallelstelle im wenig später entstandenen Brief an die Epheser, Kapitel 5,19 häufig als Einsetzungsworte der Kirchenmusik tituliert: Lasset das Wort Christi unter euch reichlich wohnen in aller Weisheit; lehret und vermahnet euch selbst mit Psalmen und Lobgesängen und geistlichen lieblichen Liedern und singt dem HERRN in eurem Herzen. Nach allem, was wir heute wissen, hat die frühe Christenheit sich auf das vokale Musizieren beschränkt. Instrumentales Musizieren war auf vielfältige Weise vorbelastet: Da war der Aulos Vorläufer der späteren Schalmei und unserer heutigen Oboe, ein Instrument, mit dem im Kontext der antiken Tragödie das Stichwort Erotik assoziiert wurde. Da waren die römische Tuba als Vorläuferin unserer heutigen Trompete und die Bucina als Vorläuferin der heutigen Posaune, Instrumente, die Ausdruck imperialer Macht waren. Und da war die Hydraulis, der Vorläufer der Pfeifenorgel, als Instrument schon im antiken Alexandria bezeugt und später im Kontext des römischen Konzeptes von Brot und Spielen zur Emotionalisierung der Massen eingesetzt. Dieser Einsatz von Instrumenten im weltlichen Bereich führte dazu, dass sich die frühe Christenheit auf das vokale Musizieren beschränkt hat und so ist in den genannten neutestamentlichen Bibelstellen ausschließlich von unterschiedlichen Formen des Gesangs die Rede. Von dort aus war es ein weiter Weg zum Einzug der Orgel in die Kirchenmusik des christlichen Abendlandes, der mit einem Kuriosum begann: Im Jahr 757 erhält Pippin durch

3 eine Gesandtschaft aus Konstantinopel ein Orgelpositiv als Geschenk, ein Vorgang, der sich ein halbes Jahrhundert später wiederholen sollte: Ein weiteres Instrument kommt wiederum als Geschenk einer Gesandtschaft aus Konstantinopel - im Jahr 812 an den Hof Karls des Großen. Diese Vorgänge sollten weit reichende Auswirkungen haben, gibt es doch im Mittelalter weit reichende Verflechtungen von weltlicher und geistlicher Herrschaft: So nimmt im Jahr 826 Ludwig der Fromme einen venezianischen Priester in seine Dienste, nachdem bekannt wird, dass er der Orgelbaukunst mächtig sei. Später gewinnt die Orgel und der Orgelbau in den Klöstern an Bedeutung, sind diese doch nicht nur Hort der Theologie und der Pflege des damaligen gregorianischen Gesangs, sondern auch Ort der Pflege gehobener Handwerke, von der Brauerei bis hin zum Umgang mit Holz und Metall. Ein erster Höhepunkt des Orgelbaus scheint in England im 10. Jh. erreicht: Es wird von einer Orgel mit 400 Pfeifen in Winchester berichtet, auf der zwei Spieler mehrstimmig musizierten. - Die Orgel wurde schrittweise zunächst an den Bischofssitzen als Prinzipalstück zum räumlichen Gegenüber des Hochaltars: der Altar in der Apsis des Kirchraumes im Osten, die Orgel, manchmal auch mit Flügeltüren wie der Hochaltar ausgestattet im Westen auf der Empore. Eine derart mit Flügeltüren ausgestattete Orgel ist heute noch im ostfriesischen Rysum zu bewundern. Der Siegeszug der Orgel im Kirchraum sowie die technische Entwicklung der Orgel hat Anfang des 17. Jahrhunderts einen Höhepunkt erreicht: So beschreibt Michael Praetorius in seiner dreibändigen Schrift Syntagma musicum in Bd. II De Organographia neben vielen anderen Instrumenten seiner Zeit ausführlich die Orgel. Wir springen in das 20. Jahrhundert: Nach einer über die Jahrhunderte wechselvollen Geschichte war die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg in Westdeutschland geprägt von Wiederaufbau und Wirtschaftswunder. Auf kirchlicher Seite stand die Expansion hinsichtlich der Zahl der Standorte. Die Orgelrichtlinie der Evangelischen Kirche von Westfalen stammt aus dem Jahr 1963 und kennt nur das Hauptthema Orgelneubau und das Seitenthema Orgelpflege. In den neunziger Jahren änderte sich dies: Seither wissen wir von einer rückläufigen Zahl an Neubauten; deutlich zugenommen hat hingegen die Bedeutung der Orgelpflege einschließlich der Aspekte technischer und klanglicher Überarbeitung oder Erweiterung. Groovige Orgelmusik

4 Wie verhält sich die Pfeifenorgel eigentlich gegenüber Jazz/Rock/Pop? Kann sie grooven? Kann man ihr aktuelle Rhythmen entlocken oder aufzwingen? Ist der Sound zeitgemäß? Wie klingt sie im Zusammenspiel mit anderen populären Instrumenten, oder muss sie schweigen, sobald eine Band im Kirchenraum spielt? Eigentlich muss man die Frage nach der Groove- Fähigkeit der Orgel an sich mit einem Nein beantworten, denn die Orgel selbst kann nicht wirklich grooven und man kann ihr keine Rhythmen entlocken, weil sie keine eingebauten Rhythmen besitzt. Ebenso wenig spielt die Orgel aber von selbst barocke oder klassische oder romantische Werke. Das bedeutet, dass in der Geschichte es stets darauf ankam und in der Zukunft dieses Instrumentes darauf ankommen wird, Strukturen, die man komponieren oder zu Gehör bringen will, behutsam und fachkundig mit der Orgel zu realisieren. Das ist im Bereich der kirchlichen Popularmusik nicht einfach und nicht sofort von Erfolg gekrönt, aber muss man nicht für traditionelle Orgelliteratur mindestens ebenso viel üben? Und die sehr viel wichtigere Frage lautet: Gab es nicht schon immer Zwänge für die Orgelliteratur, sich zu verändern und zu aktualisieren? Ein hochbarockes Präludium wird nach anderen Regeln komponiert und gespielt als ein frühbarockes Werk. Die Klassik und die Romantik erforderten wiederum neue, eigene Satz- und Spieltechniken. Dieser Zwang war so stark, dass sich dadurch auch der Orgelbau ständig mit veränderte. Auch in der Zeit des Impressionismus und weiterer, später auch experimenteller Stile mussten Orgelspiel, Orgelbau und Orgelkomposition sich anpassen. Also haben wir es bei den derzeitigen Strömungen im Bereich der populären Musik mit einem im Grundsatz bekannten Problem und Phänomen zu tun: Stete stilistische Erneuerung und Aktualisierung. Das soll nun nicht bedeuten, dass Traditionen abgeschafft und Konventionen ignoriert werden, aber als Ergänzung zum historischen Repertoire sollte groovige Orgelmusik (eine deutsche Umschreibung dieses englischen Wortes wäre: Musik, die nach aktuellen rhythmischen und harmonischen Regeln komponiert und interpretiert bzw. improvisiert wird) möglichst selbstverständlich in unsere Kirchenmusik hinein wachsen! Aktuelles zur Orgelpflege Was prägt augenblicklich das Feld der Orgelpflege? Zunächst einmal gibt es in Westfalen derzeit drei, demnächst vier besonders qualifizierte Kirchenmusiker, die als Orgelsachverständige im landeskirchlichen Auftrag den Gemeinden Beratung anbieten und alle Neubau-, Umbau- und Abbauprozesse kompetent begleiten. Sie in allen substantiellen

5 Orgelfragen zu beteiligen, ist für die Kirchengemeinden nicht nur Pflicht, sondern vor allem auch höchster Gewinn. - Hier und da sind Instrumente auszutauschen, die geprägt vom Glauben an neue Materialien wie etwa Kunststoffe nicht hielten, was man sich versprach. Dabei spielt eine maßgebliche Rolle, dass das orgelbauliche Knowhow der fünfziger und sechziger Jahre noch nicht den heutigen Stand hatte und damit ausgerechnet viele Orgeln aus dieser Zeit des Baubooms heutigen Ansprüchen nicht standhalten. - Veränderungen des Kirchraumes in der Regel Verkleinerungen im Zuge der Implementierung von Gemeinderäumen ziehen gelegentlich nach sich, dass ein Instrument für das verbleibende Raumvolumen zu groß ist und ausgetauscht wird gegen ein kleineres; hier ist manches Instrument auf dem derzeit gut bestückten Gebrauchtorgelmarkt vorrätig. - Auch wenn Westfalen leider kaum historische Orgeln hat die seit Beginn des Industriezeitalters prosperierende Wirtschaft und die Zerstörungen im Verlauf des zweiten Weltkriegs haben ihre Spuren hinterlassen, kommen gelegentlich Restaurierungen vor. Die Roetzel-Orgel in St. Georg Hattingen, der diese Festschrift gewidmet wurde, ist ein prominentes Beispiel. Hier gilt es, jeweils mit den Denkmalbehörden zusammenzuarbeiten. - Veränderungen hinsichtlich der Gemeindekonzeption können im Einzelfall dazu führen, dass eine Kirchengemeinde die Genehmigung des Verkaufs einer Pfeifenorgel beantragt und nach stichhaltiger inhaltlicher Begründung und sorgfältiger Prüfung auch erhält. - Ein jüngeres Szenario ist die Entwidmung von Kirchen; diese bedeutet regelmäßig, dass insbesondere für die Prinzipalstücke dazu zählen auch die Orgeln und Glocken Lösungen gefunden werden müssen. Hier steht es im landeskirchlichen Interesse, herausragende Instrumente vorrangig in der EKvW zu halten. - Kurz vor dem Abschluss steht die Überarbeitung der landeskirchlichen Orgelrichtlinie aus dem Jahr 1963 mit dem Ziel, eine neue Verordnung für das Orgel- und Glockenwesen zu erstellen. Der Entwurf hält grundsätzlich fest: Die Orgeln und Glocken in kirchlichen Gebäuden sind für den Gottesdienst und den kirchenmusikalischen Gebrauch bestimmt. Sie müssen klanglich und technisch hohen Ansprüchen genügen und sorgfältig gepflegt werden. In den folgenden Paragraphen führt diese Verordnung den Grundsatz konkret aus und beruht dabei auf folgenden Regeln: Eine richtige Kirche hat eine Orgel. Eine richtige Orgel hat Pfeifen. Aber es ist wie in der Mathematik: Ausnahmen bestätigen die Regel!

6 LKR Dr. Vicco von Bülow ist Dezernent für Theologie, Gottesdienst und Kirchenmusik im Landeskirchenamt der Evangelischen Kirche von Westfalen. Professor Ulrich Hirtzbruch ist Landeskirchenmusikdirektor der Evangelischen Kirche von Westfalen und Dozent an der Hochschule für Kirchenmusik der EKvW. KMD Professor Matthias Nagel ist Beauftragter für Popularmusik der Evangelischen Kirche von Westfalen und Dozent an der Hochschule für Kirchenmusik der EKvW. Quelle: Die Roetzel-Orgel der St.-Georgs-Kirche zu Hattingen, Festschrift anlässlich der Wiedereinweihung am 25. Oktober 2014 nach der Restaurierung durch Orgelbaumeister Harm Dieder Kirschner