Chronische Erkrankungen bei Migranten
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- Oswalda Langenberg
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1 Chronische Erkrankungen bei Migranten Oliver Razum, Bielefeld Es gab eine Zeit in der Geschichte der Menschheit, zu der chronische Krankheiten (und Tod) keine Rolle spielten. Jan Bruegel d. Ä. hat diesen paradiesischen Zustand gemalt. Aus Sicht der Epidemiologie, die ich vertrete, kam es dann zur Exposition gegenüber einem Risikofaktor nicht alles, was schmeckt, ist der Gesundheit zuträglich. Das Ereignis hatte zwei Folgen: Die Betroffenen verloren ihre ewige Gesundheit. Sie verloren außerdem ihre Sesshaftigkeit. Die Menschheit leidet seither unter chronischen Krankheiten und sie ist unstet geworden, sie migriert. Die erste Migration war eine erzwungene. Viele weitere sollten folgen. Die Lebensbedingungen nach einer Migration sind oft schlecht, so auch für die beiden hier Gezeigten: von Kummer, Dornen und Disteln sowie Arbeit im Schweiße des Angesichts ist die Rede. Dennoch erreichten diese Migranten in ihrer neuen Lebensumgebung ein hohes, im Falle von Adam mit 930 Jahren ein wahrhaft biblisches Alter. Das vorangegangene Leben im Paradies, frei von den bei uns gängigen Risikofaktoren, hatte offenbar Auswirkungen auf die Gesundheit der Migranten auch nach der Migration in diesem Falle positive. Zwei Dinge lassen sich hinsichtlich chronischer Krankheiten bei Migranten festhalten: die Bedeutung des gesamten Lebenslaufes von Migranten für das Verständnis ihrer chronischen Erkrankungen und Mortalität. Eine Momentaufnahme zu einem Zeitpunkt nach der Migration reicht hierzu nicht aus. Vielmehr ist eine Lifecourse epidemiology erforderlich, UND: Migranten bringen oft andere lebensgeschichtliche Expositionen mit, als sie die Mehrheitsbevölkerung hat. Das kann zu unerwartet anderen Mustern des Auftretens chronischer Krankheiten führen. Paradiese sind in unserer heutigen Welt selten geworden. Unterschiede in der lebensgeschichtlichen Exposition treten aber weiterhin auf zwischen den Bevölkerungen ärmerer und reicherer Länder. Denken Sie etwa an die weltweit bestehenden Unterschiede in den hygienischen Verhältnissen oder der Ernährung. Wer nicht nur über nationale, sondern auch über sozioökonomische Grenzen hinweg migriert, dessen Risiko für chronische Erkrankungen unterscheidet sich allein 1
2 deshalb von dem der nicht migrierten Bevölkerung im Zuwanderungsland. Daraus ergeben sich scheinbare Paradoxe hinsichtlich chronischer Erkrankungen bei Migranten. Ich will versuchen, sie aufzulösen. Migration als gesundheitlicher Übergang Dazu interpretiere ich Migration aus ärmeren in reichere Länder als einen gesundheitlichen Übergang. Unter gesundheitlichem Übergang versteht man normalerweise den in einer Gesellschaft stattfindenden Übergang von einer hohen Sterblichkeit, vorwiegend an Infektionskrankheiten sowie Mütter- und Kindersterblichkeit, hin zu einer insgesamt niedrigen Sterblichkeit, vorwiegend an nicht übertragbaren, chronischen Erkrankungen. Der gesundheitliche Übergang hat drei Komponenten: eine therapeutische Komponente bessere Vorbeuge- und Behandlungsmöglichkeiten, z.b. für Infektionskrankheiten eine Risikofaktorenkomponente z.b. Erkrankungsschutz durch sauberes Trinkwasser, aber auch neue Risiken durch Rauchen, Ernährungsweise und Bewegungsmangel eine demografische Komponente das Altern der Bevölkerung. Der gesundheitliche Übergang hin zu chronischen Erkrankungen läuft weltweit ab, aber in unterschiedlicher Geschwindigkeit. Viele der ärmeren Herkunftsländer von Migranten befinden sich noch in einem früheren Stadium, verglichen mit reichen Industrieländern wie Deutschland. Migrieren Menschen von dort nach hier, so ändern sich ihre Neuerkrankungs- und Sterberaten. Das geschieht je nach Art der Erkrankung unterschiedlich schnell. Die Sterblichkeit von Migranten an behandelbaren Infektionskrankheiten und durch mütterliche Todesfälle, die in vielen Herkunftsländern noch hoch ist, sinkt schnell in Richtung des Niveaus in der Bevölkerung des Zuwanderungslandes ab entsprechend der therapeutischen Komponente des gesundheitlichen Übergangs. Neuerkrankungen und Sterblichkeit der Migranten an ischämischer Herzerkrankung, der häufigsten Todesursache in Deutschland, bleiben zunächst auf dem niedrigen Niveau z.b. eines südeuropäischen Herkunftslandes. Dies ist auf die meist lange Latenzzeit zwischen einem 2
3 Anstieg der Risikofaktoren und dem Auftreten der Erkrankung zurückzuführen. Zuwanderer der ersten Generation können daher noch viele Jahre nach der Migration ein niedrigeres Herzinfarkt-Risiko und Sterblichkeit haben als die Bevölkerung des Zuwanderungslandes. Mit zunehmender Aufenthaltsdauer oder in den nachfolgenden Generationen, die im Zuwanderungsland aufwachsen passen sich die Migranten zunehmend an den westlichen Lebensstil an. Dadurch steigt ihr Risiko eines Herzinfarktes mit der Zeit an entsprechend der Risikofaktor -Komponente des gesundheitlichen Übergangs. Dieser Anstieg des Risikos kommt zu dem vorbestehenden höheren Risiken von Migranten für andere chronische Erkrankungen hinzu. Beispiele sind Magenkrebs und Schlaganfall. Sie treten gehäuft unter Menschen auf, die ihre Kindheit in Armut und unter schlechten hygienischen Bedingungen verbracht haben. Dies konnten wir anhand der Krebshäufigkeit und der Schlaganfall-Sterblichkeit türkischer Migranten in Deutschland belegen. Diese mitgebrachten Krankheitsrisiken sind eine negative Seite des gesundheitlichen Übergangs, den Migranten durchlaufen. In Deutschland gewinnt heute die demografische Komponente des gesundheitlichen Übergangs an Bedeutung. Es migrieren ja vorwiegend jüngere Menschen, dementsprechend ist die türkische Migrantenbevölkerung im Durchschnitt immer noch deutlich jünger als die deutsche Mehrheitsbevölkerung. Die Anzahl älterer Menschen ist in der türkischen Migrantenbevölkerung noch niedrig, und damit auch die Zahl der Menschen mit chronischen Krankheiten des Alters. Das ändert sich aber mit großer Geschwindigkeit. Epidemiologische Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen Zurück zur Risikofaktorenkomponente. Migranten aus ärmeren Ländern befinden sich also in einem anderen Stadium auf dem Kontinuum des gesundheitlichen Übergangs als die Mehrheitsbevölkerung. Dadurch treten zwar nicht grundlegend andere chronische Erkrankungen auf, sie treten jedoch in einem anderen Verteilungsmuster auf einem Verteilungsmuster, das eher dem des Musters in Deutschland vor mehreren Jahrzehnten ähnelt. 3
4 In einer Zuwanderungsgesellschaft wie im heutigen Deutschland finden wir also eine Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Anders als Ernst Bloch, der Urheber dieses Ausdrucks, ziele ich damit nicht auf Denken oder Bewusstseinsform, sondern auf lebensgeschichtliche und epidemiologische Expositionsmuster. Diese epidemiologische Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen bedingt nicht nur gesundheitliche Unterschiede. Sie hat auch Konsequenzen für deren Bewertung. Danach bedeutet nicht jede Ungleichheit auch eine Ungerechtigkeit. So werden Zuwanderer aus der Türkei eine höhere Erkrankungsrate an Schlaganfall und Magenkrebs haben als Deutsche. Dies kann aber nicht als Hinweis auf eine in Deutschland durchlebte ungerechte Situation interpretiert werden. Verantwortlich dafür sind in erster Linie die Expositionen während der Kindheit in der Türkei. Man könnte als Ungerechtigkeit allenfalls anführen, dass die wirtschaftliche Entwicklung in der Türkei weniger schnell verlaufen ist als in Deutschland. Eine Ungleichheit, die sehr wohl als Ungerechtigkeit interpretiert werden kann, besteht dagegen bei chronischen Erkrankungen durch Verschleiß. Ältere Arbeitsmigranten sind davon viel stärker betroffen als die Mehrheitsbevölkerung offenbar waren sie Arbeitsbedingungen ausgesetzt, die für die Mehrheit bereits der Vergangenheit angehören und die verändert werden können und müssen. Die epidemiologische Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen impliziert aber auch, dass nicht jede Gleichheit als ein Indiz für Gerechtigkeit gedeutet werden kann. Hierzu ein hypothetisches Beispiel: Angenommen, Migranten aus südeuropäischen Ländern, in denen die Herzinfarktsterblichkeit niedrig ist, hätten schon wenige Jahre nach der Migration die gleiche Herzinfarktsterblichkeit wie Deutsche. Dann würde das trotz scheinbarer Gleichheit auf eine aktuell und vermeidbar krank machende Lebenssituation hinweisen, und damit auf eine gesundheitliche Ungerechtigkeit. Ausblick Um Muster des Auftretens von chronischen Erkrankungen bei Migranten zu verstehen, ist eine lebenslauforientierte Betrachtung erforderlich, genau wie bei der nicht migrierten Mehrheitsbevölkerung. Diese Perspektive muss für Migranten aber erweitert werden um das Modell der Migration als gesundheitlichem Übergang, also um den Blick auf die epidemiologische Situation des Herkunftslandes. Nur so lassen 4
5 sich die scheinbar widersprüchlichen Muster im Auftreten chronischer Krankheiten erklären. Migration führt nach diesem Modell bei uns in Deutschland zu einer Gleichzeitigkeit von eigentlich ungleichzeitigen Phasen des gesundheitlichen Übergangs und damit zu Unterschieden im Spektrum chronischer Erkrankungen zwischen Migranten- und Mehrheitsbevölkerung. Migration ist eine, aber nicht die einzige Ursache für zunehmende Heterogenität in der Bevölkerung. Heterogenität wird angesichts immer individuellerer Lebensläufe, Wünsche, aber auch zunehmend unterschiedlicher sozialer Lagen zur Normalität. Statt über spezifische Gesundheitsangebote für Migranten nachzudenken, sollten Gesundheitsdienste daher ein Diversity Management betreiben. Dessen Ziel ist es, genau dieser Heterogenität sowie daraus resultierenden unterschiedlichen Ansprüchen entgegenzukommen ob sie nun durch Migration, soziale Lage oder individuelle Lebensentwürfe zu Stande kommt. Autor: Prof. Dr. med Oliver Razum AG 3 - Epidemiologie & International Public Health Fakultät für Gesundheitswissenschaften Universität Bielefeld Postfach , Bielefeld Tel : + 49 (0) oliver.razum@uni-bielefeld.de 5
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