Sergi Belbel Nach dem Regen

Transkript

1 1 Sergi Belbel Nach dem Regen (Originaltitel: Després de la pluja) Aus dem Spanischen von Klaus Laabs

2 2 Die Uraufführung des Stückes fand am 28. Oktober 1993 unter dem katalanischen Originaltitel Després de la pluja im Centre Cultural Sant Cugat / Barcelona statt, Regie führte der Autor. Für Nach dem Regen erhielt Sergi Belbel 1994 den Premio Nacional de Literatura Catalana.

3 3 ORT DER HANDLUNG Dach eines Wolkenkratzers mit 49 Stockwerken; hochmodernes, funktionales Bürogebäude. Bleierner Himmel, ohne daß es zu regnen droht. ZEIT Jetzt. Sehr nahe Zukunft. PERSONEN Blonde Sekretärin Schwarzhaarige Sekretärin Rothaarige Sekretärin Brünette Sekretärin Stadtbote Exekutivdirektorin (Angestellte eines der vier oder fünf Finanzunternehmen in dem Gebäude)

4 4 Vor dem Regen Szene 1 Der und der treten auf, verstohlen um sich blickend. Hier. Es ist zu kalt. Solange kein Wind ist... Oder Regen... Was? Nichts, nichts, so ein Blödsinn, ausgeschlossen, klar, es war... nur ein Scherz. Nach so langer Zeit... Zwei Jahre schon, noch länger, nicht? Das wäre ein zu dummer Zufall, zwei Jahre ohne einen einzigen Tropfen Regen, und ausgerechnet heute sollte es... Nein. Mann, beruhige dich. Alle Zeitungen hätten es auf Seite eins gebracht. Und hier sagt keiner etwas? Nein. Und wenn uns einer sieht? Wenn wir... erwischt werden? Von wem denn? Jemand kann hochkommen. Wenn einer hochkommt, dann aus dem gleichen Grund wie wir. Tja, das kann sein. Daran hatte ich nicht gedacht. Vielleicht aber auch nicht. Es wäre nicht das erstemal. War es schon immer verboten? Ja. Seit dem Tag der Einweihung. Ich meine, für die Angestellten der Firma. Vor dem Umzug zum Beispiel. Früher? Nein. Erlaubt war es da auch nicht. Es gab aber nicht so strenge Kontrollen. Am Eingang nicht und auch nicht auf den Toiletten und in der Cafeteria. Und du sagst, du kennst jemanden, der auch hochgekommen ist, um zu...? Ja. Gut, sehen, also gesehen habe ich noch keinen, aber ich glaube, ich weiß, wer es ist. Wie willst du das wissen? Ich habe eine sehr feine Nase. Ich rieche es. Ah! Ich hätte natürlich nie geglaubt, daß auch du... Na ja, es ist mir schon ein bißchen peinlich, aber ich gebe zu... ja.

5 5 Bei dir hat meine Nase versagt. Peinlich, sagst du? Ich habe mir absolut nichts anmerken lassen. Ich weiß nicht, wie ich es so lange ausgehalten habe. Es ist das erste Mal heute? Ja. Während der Arbeit, ja. Drei Monate so viele Stunden lang ohne, keine schlechte Leistung. Du bist doch seit drei Monaten bei uns, nicht? Ja. Ist mir nicht leichtgefallen, wenn ich Lust hatte. Deshalb bin ich manchmal auch so gereizt. Vor allem bei den Nervensägen, die ständig irgend etwas von mir wollen. Ich meine, die Sekretärinnen, klar, die vor allem. Ist gut, genug jetzt, komm schon, genug, beeil dich, bevor sie sich wundern, wo wir denn bleiben. (Der entnimmt einem silbernen Etui zwei Zigaretten und holt ein Feuerzeug hervor. Der blickt nervös um sich.) Glaubst du nicht, es ist zu viel Wind? Wir werden sie nicht ankriegen, nein, nein, außerdem, du hast völlig recht, wenn zuviel Wind ist, ist es schrecklich, ich meine, man schmeckt gar nichts, obwohl, mir schmecken sie eigentlich immer, klar, vor allem, wenn es nicht erlaubt ist, wie hier, wie jetzt, noch dazu, wo wir gleich wieder runtermüssen, du hast es selber eben gesagt, sie werden sich wundern, wo wir denn bleiben, irgendwer wird Verdacht schöpfen, wenn wir nicht in der Cafeteria sind... Hier. (Der zündet die beiden Zigaretten an und bietet dem eine an.) Danke. Was kriegst du? Hundert. Hier. Danke. Nicht billig die Marke. Sind teurer geworden. Ja, stimmt. Und jetzt beruhige dich. Wir haben Zeit. Ja? Ja. Ah, wirklich ein Genuß! Ja. Und... und du sagst, wir sind nicht die einzigen? Es sind noch mehr, die hier raufkommen, um zu rauchen? Ja. Etliche. Wer? Die heimlichen Raucher. Einer oder zwei außer uns, höchstens.

6 6 Mehr als einer, mehr als einer. Und ich hatte geglaubt, ich bin der einzige, der die Firma hintergeht. Ist mir unglaublich schwergefallen, zu lügen bei den Bewerbungsgesprächen. Hmm... Rauchen ist etwas Herrliches, ich kann es mir nicht abgewöhnen... ich meine... lügen... vom moralischen Standpunkt aus, klar. War schwer, ist mir wirklich verdammt schwergefallen. Meine Frau und ich, wir lassen uns scheiden. Ach, tatsächlich? Ja. Da hört ihr auf, euch zu streiten. Darum lassen wir uns ja scheiden. Klar. Wir wissen nicht, was wir mit unsrer Kleinen machen sollen, dem Kind. Du liebst es? Ja. Ich meine, du willst es behalten? Ja. Ja. Ich meine, das Sorgerecht. Ja. Ich weiß, wird schwierig werden. Will sie es? Das Kind? Das Sorgerecht. Ich fürchte, ja. Und, habt ihr es ihr schon gesagt? Was? Eurer Kleinen. Was denn? Daß ihr euch, euch, euch, euch... scheiden laßt. Ein gräßliches Wort. Ja. Und, was hat sie gesagt? Nichts. Sie hat nichts gesagt. Daß sie es erwartet hatte. Tja! Wie? Nichts.

7 7 Was heißt nichts? Nichts, sie hat nichts gesagt. Ja, ja, sie hat nichts gesagt. Wie? Die Kleine. Ach so. Du läßt die Asche auf den Boden fallen? Was? Meine Frau und ich, wir wollen ein Kind. Glückwunsch. Danke. Es wird euer Leben verändern. Darum wollen wir es ja haben. Wie meinst du das? Es soll unser Leben verändern. Ach! Habt ihr genug von dem, das ihr führt? Mensch... Nein. Wie, nein? Na gut, ja. Ah! Ich meine... nein. Habt ihr Probleme? Wie? Was? Beziehungsprobleme. Was? I wo! I wo! Keine Spur. Warum dann verändern? Äh, na ja, also, was weiß ich, reden wir über was andres, okay?, ist vielleicht nicht der richtige Moment dafür, was weiß ich, hör mal, also, wir wollen ein Kind und basta, ganz einfach. Glückwunsch. Danke.

8 8 Wenn ich nicht ab und zu eine rauchen könnte, ich weiß nicht, was ich machen würde, ich rauche so wahnsinnig gern. Ich auch. Schade, daß es schlecht ist. Schlecht? Ja, für... für... für die Gesundheit, nicht? Was für Gesundheit? Wie hoch werden wir über dem Erdboden sein? Neunundvierzig Stock, nehmen wir an dreieinhalb Meter pro Stockwerk, so in etwa, dann macht das... wenn ich mich nicht irre... neunundvierzig mal drei fünfzig mal drei hundertfünfzig minus drei hundertsiebenundvierzig plus die Hälfte von neunundvierzig vierundzwanzig Komma hundertsiebenvierzig plus vierundzwanzig Komma fünf hundertsiebzig Komma fünf, das macht einhundertsiebzig und einen halben Meter ungefähr. Hundertsiebzig Meter! Und einen halben. Und einen halben! Entschuldigung, Entschuldigung, Entschuldigung, ich habe mich geirrt, ja, klar, ja, ja, klar, weil hundertsiebenundvierzig plus vierundzwanzig Komma fünf sind nicht hundertsiebzig Komma fünf, nein, natürlich nicht, das sind hunderteinundsiebzig Komma fünf, also sind es nicht einhundertsiebzig und einen halben Meter, sondern einhunderteinundsiebzig und einen halben genauer gesagt. Gut, auf den einen Meter kommt es nicht an, Mann. Natürlich nicht. Ist das das höchste Gebäude der Stadt? Nein, komm her, dann siehst du es. Vorsicht!!! Passiert schon nichts, das Geländer ist stabil, siehst du? Nein!! Hör auf damit! Alles ist so neu, so glänzend, so... Siehst du nicht, daß du abrutschen kannst? Und alles macht so einen unsicheren Eindruck, daß... Kuck mal! Ah!! War nur Spaß. Ist dir schwindlig? Nein... Was dann? Du hast mir einen ganz schönen Schreck eingejagt. Ich?