Seite: 1 Journalistischer Leistungssport

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1 Seite: 1 1 Journalistischer Leistungssport Auf der Jagd nach einer guten Story zeigen die Bewerber der Henri-Nannen- Schule mehr Ehrgeiz als so mancher Marathon-Teilnehmer Spanisch habe ich bei der Arbeit gelernt und von meinen zahlreichen Bettgeschichten, erzählt der Mann in der blauen Funktionsjacke und lässt ein donnerndes Lachen folgen. Er ist einer der Organisatoren des Hamburger Marathons und gibt gerade ein Interview. Vor ihm stehen zwei junge Männer mit gezückten Notizblöcken und wirken ein wenig verunsichert von seiner Aussage. Jonas S. und Baran D. sind beide 26 Jahre alt und in der Finalrunde des Auswahlverfahrens für den 37. Jahrgang der Henri-Nannen-Schule. War das jetzt zu sexistisch, um das im Text zu zitieren?, fragt Jonas nach dem Gespräch verwirrt. Die Aufgabe, die den 65 Nachwuchsjournalisten gestellt wurde, klingt banal. Eine Momentaufnahme über den Zielabschnitt des Hamburger Marathons schreiben. Erschöpfte Läufer

2 Seite: abfangen, gestresste Sanitäter belagern oder am Bierstand nach Anekdoten wildern alles ist erlaubt. Dabei dürfe man auch mal eine Absperrung ignorieren, gibt der Schulleiter der Henri-Nannen- Schule, Andreas Wolfers, den Teilnehmern als Tipp mit auf den Weg: Das gehört zum Journalismus dazu Als die Finalisten ihre Aufgabe beginnen, ist der Marathon eigentlich schon gelaufen. Dreieinhalb Stunden sind seit dem Start vergangen. Die meisten Läufer stehen längst unter der Dusche oder trinken ihr drittes Bier am Zieleinlauf Für die Bewerber der Henri-Nannen-Schule muss es jetzt schnell gehen. Mit einheitlichen weißen Notizblöcken bewaffnet, schlängeln sich sich auf der Suche nach einer bombastischen Story vorbei an humpelnden Läufern, Wurstbuden und genervten Familienvätern mit Sonnenbrand Ein Mädchen mit neongrüner Mütze springt gleich zu Beginn auf einen müde aussehenden Polizisten am Streckenrand

3 Seite: zu. Geduldig antwortet er auf die Fragen, während das Mädchen seine Antworten hektisch im Notizbuch niederkritzelt. Ihre nächste Interview- Beute ist ein Punk, dessen Gesicht mit hunderten Piercings geschmückt ist. Sein Irokesen-Schnitt hat die gleiche neongrüne Farbe wie die Mütze des Mädchens. Am Ende schreibt sie weder über Polizist noch Punk. Das war nicht so ergiebig. Ich mache wohl etwas über ein Staffellauf-Team, sagt sie wenig überzeugt Eine anderer Bewerber ist noch frustrierter: Mir ist diese Aufgabe zu künstlich. Eine gute Reportage braucht Vorbereitung. Jetzt muss ich mir irgendwas aus den Fingern ziehen. Neben ihm hat ein Mitstreiter einen afrikanischen Flüchtling im Rollstuhl gesichtet fast ein wenig neidisch blicken die anderen Bewerber auf den wertvollen Fang ihres Kollegen Die Stoppuhr über den Zieleinlauf zeigt mittlerweile fünf Stunden an. Der Kommentator begrüßt mit ungebremster

4 Seite: Fröhlichkeit die ankommenden Läufer und Läuferinnen. Da kommt der Hajo, und hier der Luca, das ist die Caro zusammen mit der Sibylle, super gemacht, und jetzt der Wolfgang, ein richtiger Puma, der Kerl, und da kommt noch ein Luca. Super Leistung! Ein Mädchen mit Notizblock starrt den Kommentator gefesselt an. Es wirkt, als würde sie verzweifelt überlegen, über das Geländer zu springen und auf das hohe Podest mitten auf der Laufstrecke zu klettern, um den Kommentator um ein Interview zu bitten Tatsächlich wirkt das Feld am späten Nachmittag abgegrast. Ein leicht alkoholisierter Passant läuft vorbei und ruft Ey, Henri-Nannen Junior, willst du mich auch interviewen? Die Nachwuchsreporter mit ihren Notizblöcken fallen auf. Selbst das Maskottchen im Ziel ist nicht vor den verzweifelten Fragestellern sicher. Beschissener Drecksmarathon antwortet ein genervter Mann im Anzug auf eine Interview-Anfrage und zieht wütend davon. 116

5 Seite: Andere haben anscheinend mehr Glück. Jonas S. hat den Koch von H.P.Baxxter getroffen. Zwar hat das wenig mit dem Marathon zu tun, aber krasse Geschichten hat der schon erzählt. sagt er überzeugt Nach drei Stunden Recherche-Zeit ziehen sich die verbraucht aussehenden Bewerber und Bewerberinnen zurück zum Verlagshaus. Aus dem wenigen Erlebten muss jetzt eine Reportage gezimmert werden, welche die Juroren in wilde Ekstase versetzt Eine Teilnehmerin fragt aufgeregt in die Runde: Habt ihr das verrückte Mädchen gesehen, das vorhin zum Kommentator hochgeklettert ist? Ein ehrgeiziger Journalist muss auch mal eine Absperrung ignorieren. 138