Amnesty International Briefe für die Freiheit

Transkript

1 Manus: Ulrich Panzer Sändningsdatum: P2 den kl 9.35 Programlängd: Producent: Kristina Blidberg Sprecher: Sonntagnachmittag in einer kleinen Wohnung in Berlin. Auf dem Tisch stehen Teetassen und Rosinen. Faradsch Sarkuhi sitzt mit seiner Familie beim Nachmittagstee. Er ist Anfang 50. Sein Gesicht wirkt traurig. Aber wenn er spricht, werden seine Augen lebendig. Faradsch Sarkuhi kommt aus dem Iran. Dort war er Schriftsteller und Chefredakteur einer Literaturzeitschrift. Er gehörte zur politischen Opposition. An einem Novembermorgen 1996 wurde Faradsch Sarkuhi von Geheimpolizisten auf dem Teheraner Flughafen festgenommen. Sie verbanden ihm die Augen und brachten ihn in ein Gefängnis. Noch am selben Tag begannen sie mit der Folter. Faradsch Sarkuhi: Normally people from torture have a very complicated picture, you know. But it s wrong. Torture is very simple and primitive instrument. They fasten you on to the bed and they beat you with a cable. This is a simple sentence. But it s the most horrible torture in the world. Because, they can continue two or three days. And then they enforce you to run, and than again they can beat you. Secondly they hang you by your hands, your hands must keep up all your body, two days, three days, it s horrible. Or they hang one kilo or two kilos on your testicles. They allow you only two, three times to go to the toilet, so many times you piss in your clothes. Or you have to beg for food or for water. Or for example when they beat you they force you to beg them to kiss the hands of them when they beat you. Sprecher: Wenige Tage, nachdem Faradsch Sarkuhi damals festgenommen worden ist, bittet seine Frau Amnesty International um Hilfe. In der Londoner Zentrale wird der Fall geprüft. Am 20. November werden die Mitglieder überall auf der Welt in einer so genannten urgent action, einer Eilaktion, informiert: Sprecherin: Amnesty International ist in großer Sorge um (...) Faradsch Sarkuhi. (...) Amnesty International befürchtet, dass er (...) in Gefahr ist, misshandelt oder gefoltert zu werden. (...) Schreiben Sie bitte Faxbzw. Telebriefe, Telegramme oder Luftpostbriefe, in denen Sie (...) 1

2 seine sofortige (...) Freilassung fordern. (...) Bitte schreiben Sie Ihre Appelle möglichst sofort. Sprecher: Noch am selben Abend bekommt die Regierung in Teheran die ersten Protestbriefe. In den nächsten Tagen fordern mehrere tausend Amnesty-Mitglieder die Freilassung von Faradsch Sarkuhi. Überall auf der Welt berichten die Medien über den Fall. Nach einer Weile wird der Schriftsteller freigelassen und darf nach Deutschland ausreisen. Amnesty International hat mir das Leben gerettet, sagt Faradsch Sarkuhi heute, ohne die Hilfe wäre ich tot. Sprecher: Donnerstagmittag in der Baltik-Gesamtschule in Lübeck. Wie jeden Donnerstag in der Mittagspause trifft sich die Amnesty-Gruppe. Elf Jungen und Mädchen sind gekommen. Die Lehrerin Brigitte Klank hat aktuelles Informationsmaterial mitgebracht. Hier geht es um einen Fall in Kolumbien, einen politisch aktiven Studenten. Und dieser politisch aktive Student, der ist plötzlich verschwunden. Und nun will Amnesty erreichen, dass dieser Student wieder freikommt... Möglicherweise wird der junge Mann gefoltert, sagt die Lehrerin. Deswegen ist schnelle Hilfe wichtig. Die Schüler schreiben einen Protestbrief. Die 16-jährige Yvonne Nacke liest ihn vor. Wir haben einen Brief an die Regierung geschrieben, und der lautet so: Hiermit wollen wir zum Ausdruck bringen, dass Policarpo Emilio Maso Maso seit dem 21. September nicht mehr gesehen worden ist. Wir fordern eine Untersuchung des Verschwindenlassens des Studenten. Wir wollen Sie daran erinnern, dass Sie durch diese Handlung gegen die Menschenrechtserklärung verstoßen haben und fordern Sie zur Freilassung auf. Sprecher: Noch am selben Tag schicken die Schüler ihre Briefe ab. Protestbriefe schreiben ist eine zentrale Aufgabe der Schülergruppe. Außerdem organisieren sie auch Informationsveranstaltungen in der Schule oder auf der Straße. Vor einiger Zeit machten sie in der Lübecker Fußgängerzone eine Aktion gegen Kindersoldaten. Anne-Kathrin Meyer aus der 12. Klasse: Anne-Kathrin: Wir haben so einen Stand aufgebaut. Wir hatten sehr viel Informationsmaterial von Amnesty International uns direkt zuschicken lassen, haben Leute angesprochen und haben sie informiert. Haben dann auch sehr viele Unterschriften gesammelt und die dann später auch zur Regierung geschickt. Einige Menschen haben ein bisschen komisch darauf reagiert, da wir einen aus unserer Gruppe als Soldaten verkleidet haben, einen Jungen, mit eiem Gewehr in der Hand, damit das auffällig wird. Sprecher: Eine ältere Frau dachte, dass die Schüler Werbung für Kindersoldaten machten, erzählt Anne-Kathrín. Aber die meisten Passanten verstan- 2

3 den die Provokation richtig. In wenigen Stunden bekamen die Schüler mehrere hundert Unterschriften gegen den Einsatz von Kindersoldaten zusammen. Die Informationsarbeit an der Schule ist manchmal schwer. Vielen Mitschülern ist Amnesty egal, sagt Yvonne aus der 11. Klasse: Die interessieren sich dafür nicht so, hab ich das Gefühl. Ich denk mal, es ist auch der Gedanke: Es passiert in einem anderen Land, es passiert nicht mir selber, es passiert nicht meiner Familie, nicht meinen Freunden was geht mich das überhaupt an? Sprecher: In etwa einem Drittel der Fälle hat die Arbeit von Amnesty Erfolg: Die Folter wird beendet, oder die Gefangenen werden sogar freigelassen. Wenn Yvonne in der Amnesty-Zeitschrift mal wieder von so einem Fall liest, ist das wie ein persönlicher Triumph für sie: Wenn du siehst, dass du da jemanden wirklich freigekriegt hast, dass man dann sieht: Das hat etwas gebracht, wir haben ein Ziel erreicht, das ermuntert einen immer. Sprecher: Amnesty International gibt es seit mehr als 40 Jahren. Die Organisation wurde 1961 von dem Londoner Rechtsanwalt Peter Benenson gegründet. Benenson hatte in der Zeitung einen Artikel über zwei portugiesische Studenten gelesen. Sie waren zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt worden, nur weil sie einen Toast auf die Freiheit ausgesprochen hatten. Portugal war damals noch eine Diktatur. Peter Benenson: The idea came to me when I was travelling on an Underground train in London and reading a small paragraph that said that two Portuguese students had been arrested and sentenced to seven years imprisonment for no greater crime than having drunk a toast to freedom. And I was so indignant and furious that I left the underground train at the next station and started walking down to the Portuguese embassy to protest, but before I had reached very far I realised how futile it would be for one man to go and protest, so I returned and retraced my steps to St Martins in The Fields and there I sat and prayed for half an hour. And when I came out I became convinced that to achieve anything it was necessary to unite the goodwill of all people who wanted to take action in favour of freedom in order to secure the release of Prisoners of Conscience. Sprecher: Wenig später schrieb Peter Benenson einen Zeitungsartikel. Er forderte: Alle gewaltlosen politischen Gefangenen müssen freigelassen werden! Der Artikel wurde in vielen Zeitungen auf der ganzen Welt nachgedruckt, und bald organisierten sich mehrere tausend Menschen in mehreren Ländern. Inzwischen ist Amnesty International die größte Menschenrechtsorganisation der Welt. Sie hat mehr als eine Million Mitglieder in 140 Ländern. Die Amnesty-Zentrale ist in einem alten 3

4 Fabrikgebäude in London. Dort arbeiten mehr als 300 Menschen aus der ganzen Welt. Eine von ihnen ist die Deutsche Heidi Wedel. Atmo: Besprechung auf Englisch Sprecher: Es ist vormittags kurz nach zehn. Heidi Wedel bespricht mit ihren drei Mitarbeitern die Arbeit für den Tag. Die junge Deutsche ist eine von 50 so genannten Researchern in der Amnesty-Zentrale. Die Researcher sammeln Berichte über Menschenrechtsverletzungen auf der ganzen Welt. Jeder Researcher beobachtet mindestens ein Land. Heidi Wedel ist für die Türkei zuständig. Wenn sie morgens in ihr kleines Büro kommt, liest sie zuerst die s und die neuesten Meldungen der Nachrichtenagenturen. Dann telefoniert sie mit Menschenrechtsorganisationen in der Türkei. Wenn ein Mensch akut von Folter oder Todesstrafe bedroht ist, muss sie schnell reagieren: Zum Beispiel gestern kriegte ich ein Fax vom Menschenrechtsverein in Djabakir, wo beschrieben wurde, dass drei Studenten vorgestern festgenommen worden sind, dass einer von denen am Abend desselben Tages von Polizisten zu seiner Wohnung gebracht wurde und nicht mehr in der Lage war, selber zu gehen, sondern von denen gestützt werden musste. Und das ist ein sehr deutliches Zeichen dafür, dass dieser junge Mann gefoltert wurde. Der war festgenommen worden, aber die Polizisten bringen dann die Person noch mal nach Hause, vielleicht, um eine Hausdurchsuchung in seiner Gegenwart zu machen. Sprecher: Heidi Wedel telefonierte mit einer türkischen Menschenrechtsorganisation. Man sagte ihr, dass der Student wieder ins Gefängnis gebracht wurde und dass er immer noch in akuter Gefahr war. Wenige Stunden später startete Amnesty eine Eilaktion. Eilaktionen werden immer dann gemacht, wenn Folter oder Hinrichtung droht. Innerhalb von wenigen Stunden oder Tagen bekommt die Regierung mehrere tausend s, Faxe und Briefe. Amnesty organisiert auch langfristige Aktionen: Briefe an Regierungen und an die Inhaftierten selbst. Dabei ist Geduld wichtig. Manchmal dauert es mehrere Jahre oder Jahrzehnte, bis ein Gefangener freigelassen wird. Heidi Wedel erzählt von einer türkischen Menschenrechtsaktivistin, die nach mehreren Jahren aus dem Gefängnis kam: Sie hat mir später erzählt, dass sie jeden Tag Unmengen von Briefen bekam und dass ihr jeden Tag ein Gefängniswärter auf einem Tablett diese Briefe von Amnesty-Mitgliedern weltweit gebracht hat. Und dass dann auch die Wärter eben immer freundlicher wurden. Und diese Briefe haben ihr auch unglaublich geholfen, diese schwere Zeit im Gefängnis zu überstehen. Sprecher: Mehrere hundert Fälle von Menschenrechtsverletzungen landen jedes Jahr auf Heidi Wedels Tisch. Um sich ein eigenes Bild zu machen, 4

5 fährt sie mehrmals im Jahr für einige Wochen in die Türkei. Dort spricht sie mit Menschenrechtsaktivisten, Anwälten und Folteropfern. Besonders schlimm ist es für sie, wenn Kinder gefoltert werden: In einem Fall, den wir jetzt kürzlich dokumentiert haben, wurde ein zweijähriges Kind mit seiner Mutter festgenommen, weil die Sicherheitskräfte vermuteten, dass die Mutter politisch aktiv sei. Und in dem Fall wurde dieses kleine Kind in Gegenwart der Mutter gefoltert, um von der Mutter Geständnisse zu erpressen. Zum Beispiel wurden Zigaretten auf seiner Hand ausgedrückt. Sprecher: Jeden Tag neue Bilder und Berichte von Gewalttaten wie geht Heidi Wedel damit um? Oft ist es sehr schwer, sagt sie. Manchmal träumt sie von ihrer Arbeit: Bilder von toten und gequälten Menschen. Es ist kein Job, den man ein Leben lang machen kann, sagt sie. Vielleicht noch ein paar Jahre, dann will sie sich etwas anderes suchen. Wenn die Bilder von gefolterten Menschen sie auch in ihrer Freizeit verfolgen, dann weiß sie, dass sie etwas tun muss, um sich abzulenken. Manchmal mache ich Sport, oder früher habe ich auch Geige gespielt, aber ich komme hier gar nicht dazu, richtig zu üben. Und ich denke, das wäre ganz gut für mich, wenn ich wieder meine Geige auspacken würde und hier ein Orchester finden würde, also etwas ganz anderes machen würde. Oder ich versuche einfach, einen schönen Roman zu lesen. Also, ich versuche einfach, vor dem Schlafengehen in eine andere Welt einzutauchen, um überhaupt schlafen zu können. 5