H. Klüter: Ist es sinnvoll die Kreisgebietsreform 2011 zurück zu drehen?

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1 1 H. Klüter: Ist es sinnvoll die Kreisgebietsreform 2011 zurück zu drehen? Um diese Frage zu beantworten, müssten die Auswirkungen der Kreisgebietsreform näher untersucht werden. Danach wäre zu entscheiden, welche davon als positiv oder negativ zu bewerten sind. Als Drittes sollte gefragt werden, mit welchen Maßnahmen man die negativen Folgen korrigieren könnte. Eine besonders radikale Maßnahme bestünde darin, die Altkreise von 1994 wieder einzurichten. Eindeutig positiv hat sich die Reform für die Landesverwaltung ( administrative Gewalt ) ausgewirkt. Die neuen Landkreise sind für Abgeordnete (Legislative), Minister (Exekutive) derart groß und unübersichtlich geworden, dass für nahezu alle Probleme besondere Vorlagen der Verwaltung benötigt werden. Die Verwaltung ist also in ihrem politischen Informationsmonopol gestärkt worden. Sie kann besser als früher ihre Interessen als Sachzwang darstellen und damit Entscheidungen der Minister, Landräte, Landtags- und Kreistagsabgeordneten und Gemeinderäte vorstrukturieren. Diese Vorstrukturieren oder In den Mund legen funktioniert sogar dann, wenn die Verwaltung Sachzwänge aus falschen Daten konstruiert. Ein Beispiel dafür ist das Landesraumentwicklungsprogramm 2016, in dem wissentlich eine falsche Bevölkerungsprognose aus dem Jahre 2010 zur Grundlage einer Schrumpfungsplanung bis zum Jahre 2030 gemacht wird, obwohl die Bevölkerung des Landes seit 2013 wächst. Auch die administrative Gewalt auf der Landkreisebene hat von der Reform profitiert. Die Möglichkeiten der Kreistagsmitglieder in den flächenmäßig riesigen Körperschaften, das Informations- und Ausführungsmonopol der Verwaltung zu relativieren oder gar zu kontrollieren, haben sich drastisch verringert.

2 2 Die westliche Landeshälfte zählt ebenfalls zu den Gewinnern. Während die westliche Landeshälfte seit 2009 beim Bruttoinlandsprodukt ähnliche Wachstumsraten wie Gesamtdeutschland aufweist, bleibt die östliche seit der Diskussion und der Durchsetzung der Reform in den Jahren 2009 bis 2011 zurück. Das gilt nicht nur für die Wirtschaft, sondern auch für die Politik: Vor der Reform hatte der Westen nur 8 Landräte oder Oberbürgermeister, die 10 aus der Osthälfte gegenüber standen. Nach der Reform steht es 5 : 3 für den Westen. Das gilt natürlich nicht nur für die Landräte, sondern auch für viele andere Abteilungen und Behörden, die auf Kreisebene arbeiten. In diesen Zahlen drückt sich eine unterschiedliche Organisationsbelastung aus: Im Westen des Landes wurden durch die Reform höchsten zwei Gebietskörperschaften zu einer neuen vereinigt. Im Osten waren es jeweils 3 und im Falle der Mecklenburgischen Seenplatte sogar 4. Der zusätzliche Organisationsaufwand, die durch die Reform verschärfte Altschuldenproblematik und damit verbundene Faktoren haben die Entwicklungsanstrengungen der Gebietskörperschaften im Osten erheblich blockiert. Im Jahr 2013 konnten die westlichen Landkreise, kreisfreien und großen kreisangehörigen Städte 57,5 Millionen an Baumaßnahmen anstoßen, die östlichen dagegen nur 26,1 Millionen. Auf 45 % der Bevölkerung entfielen damit nur 31 % der öffentlichen Bauinvestitionen dieser Verwaltungsebene. Bedenkt man, dass die den öffentlichen Bauinvestitionen im Osten des Landes aufgrund der dortigen Strukturschwäche eine erhebliche Katalysatorwirkung für die Gesamtwirtschaft zukommt, wirkte deren Schrumpfung entsprechend verhängnisvoll. Insgesamt waren die oben genannten Positiveffekte für die Verwaltung sind so stark, dass die Negativeffekte für Bevölkerung und Bürgerpolitik eher überkompensiert werden: Die Landes- und die Kommunalverfassung wird weiter ausgehöhlt. Die Leistungen für die Bürger insbesondere in ländlich-peripheren Regionen haben sich verschlechtert, der Abstand zwischen Politik und Bürger hat sich vergrößert, Politikverdrossenheit hat besonders im ländlichen Raum zugenommen, der Rechtspopulismus hat dort bei der Landtagswahl aus dem Stand ein Drittel der Stimmen erzielt. Neubrandenburg, Stralsund und Greifswald können ihre Leuchtturmfunktion nur noch beschränkt wahrnehmen, weil sie in den meisten Ranking-Statistiken die fast alle auf Daten der Kreis-Ebene basieren nicht mehr als Einzelorte auftreten. Bis 2011 konnten sie das als kreisfreie Städte.

3 3 Von den seinerzeit von der Verwaltung vorgeschobenen Einspareffekten ist nichts zu spüren: Die Verwaltung der Gemeinden und Kreise konnte im Schnitt der Altkreise vor der Reform von 2007 bis 2011 mit 1365 Vollzeitbeschäftigten in der Verwaltung fast 10 % abbauen. Seit 2011 ist die Zahl der Vollzeitbeschäftigten in der Verwaltung der Gemeinden und Kreise von auf im Jahre 2015 gestiegen. Sie hat sich also nicht verringert, sondern ist um 505 gewachsen. Nur die Zahl der Teilzeitbeschäftigten ist etwas zurückgegangen. Eines der Grundprobleme von Mecklenburg-Vorpommern ist seine Überzentralisierung. Das Land hat in dieser Beziehung die schlechtesten Werte in ganz Deutschland. Der gesamtdeutsche Durchschnitt liegt bei der Zentralisierung der Bevölkerung bei 0,55. In Mecklenburg-Vorpommern beträgt er jedoch 1,68 (1994). Das bedeutet, dass für die ländliche Bevölkerung Waren und Dienstleistungen dreimal schlechter erreichbar sind als für die ländliche Bevölkerung im deutschen Durchschnitt. Dieser Befund ist das Ergebnis der Verschlechterung, die durch die Reform 1994 eingeleitet wurde, nach der Städte wie Wolgast, Ueckermünde, Malchin, Teterow, Altentreptow und viele andere ihre Kreishauptortsfunktionen verloren hatten. Wie stark die räumliche Zentralisierung durch die Reform 2011 verstärkt wird, wird erst in 5 bis 10 Jahren absehbar sein.

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5 5 Wenn man sich von Seiten des Landes in ein paar Jahren (nächste Kommunalwahl: 2019) nicht fast ausschließlich mit AfD-Bürgermeistern unterhalten möchte, muss dringend gehandelt werden: Die Dienstleistungsdichte im ländlichen Raum muss erhöht werden. Die übergroßen Kreisverwaltungen sollten gemeinsam mit den Gemeinden Bürgerbüros einrichten, in denen weitestgehend kommunale Dienstleistungen aus einer Hand bereitgestellt werden. Zusätzlich aufgewertet werden müssen in Vor-

6 6 pommern beispielsweise die Verwaltungsstandorte Anklam, Wolgast, Heringsdorf (neu), Pasewalk, Ueckermünde, Torgelow (neu). 62 % des Landespersonals sind auf die Westhälfte von Mecklenburg- Vorpommern konzentriert, obwohl dort nur 55 % der Bevölkerung wohnen. Um die Landesspräsenz im Osten zu stärken, müssen Behörden nach dort verlagert werden. Beispiel Niedersachsen: Das Amt für Regionale Landesentwicklung Leine-Weser hat die Strukturförderung für den ländlichen Raum nicht in Hannover, sondern in Sulingen (zwischen Bremen und Bielefeld) untergebracht. In Vorpommern und auf der Mecklenburgischen Seenplatte ist die Lebenserwartung eine der niedrigsten in ganz Deutschland. Schul- und Krankenversorgung im ländlichen Raum müssen verbessert werden. Es muss klar gesagt werden, dass keine Schulen mehr geschlossen werden. Es könnte auch gesagt werden, dass Gemeinden, die Flüchtlinge mit Kindern aufnehmen, neue Schulen bekommen. Die Landesregierung muss zeigen, dass sie sich nicht nur für den Westen des Landes zuständig fühlt. Sie muss im Osten Zeichen setzen. Möglichkeiten dafür gibt es genug. Drei seien hier genannt: Die Kreisgebietsreform zurück zu drehen, ist teuer. Wenn etwas zurück zu drehen ist, dann an erster Stelle die unsinnige Schließung der Abteilungen Kinder-, Jugendmedizin und Gynäkologie am Wolgaster Krankenhaus. Des weiteren sollte das Land die Vorplanungskosten für den Wiederaufbau der Eisenbahnverbindung Ducherow Swinouscie übernehmen und mit der Deutschen Bahn und der polnischen Seite den Wiederaufbau vertraglich sichern (Beispiel: Ertüchtigung der Eisenbahnverbindung Berlin Cottbus Polen auf Initiative des Landes Brandenburg). Nur mit dieser Eisenbahnschnellverkehrsverbindung nach Berlin kann Usedom vor dem Auto-Kollaps bewahrt werden. Die weiteren Projekte und Maßnahmen für den Osten sollten im Rahmen einer Regionalkonferenz erörtert werden. Dazu könnte auch die Auskreisung von Neubrandenburg, Stralsund und Greifswald gehören. Sie sind aus wirtschaftsgeographischer und aus entwicklungspolitischer Sicht auf den Status als Stadtkreis angewiesen. Greifswald ist beispielsweise in seiner jüngeren Geschichte bereits zweimal ausgekreist worden: 1913 und Wenn das sogar zu DDR-Zeiten möglich war, dann sollte die heutige Landesregierung Wege und Mittel finden, das für die drei genannten Städte umzusetzen.

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