Komplexe Situationen - Rekonstruktion oder Amputation A.H. Tiemann
Aufwärmfall: Polytrauma, m, 23 J. Polytrauma Thoraxtrauma / Lungenkontusion Bauchtrauma mit Lebereinriss 2. gradig offene Unterarmfraktur rechts 3. offene Kondylenfraktur re. Knie mit multidirektionaler Instabilität Deglovement rechter Oberschenkel
Aufwärmfall: Polytrauma, m, 23 J. Polytrauma Thoraxtrauma / Lungenkontusion Bauchtrauma mit Lebereinriss 2. gradig offene Unterarmfraktur rechts 3. offene Kondylenfraktur re. Knie mit multidirektionaler Instabilität Deglovement rechter Oberschenkel
Verlegung 5 Tage posttraumatisch zur Defektdeckung in die plastische Chirurgie Klinischer Befund bei Ankunft Ausgedehnte Nekrosen Instabilität (keinerlei Stabilisation) Kniegelenk offen. Keim: S.aureus
Notfallrevision am Aufnahmetag Ausgedehnte Muskelnekrosen am rechte OS und US Keinerlei Mikrozirkulation Kniegelenk weit eröffnet und instabil Purulente Sekretion aus allen Kompartimenten Laterales Kondylenfragment avital Deglovement am Oberschenkel bis über die Crista iliac Septisches Krankheitsbild
Notfallrevision am Aufnahmetag Ausgedehnte Muskelnekrosen am rechte OS und US Keinerlei Mikrozirkulation Kniegelenk weit eröffnet und instabil Putride bis purulente Sekretion Laterales Kondylenfragment avital Deglovement am Oberschenkel bis über die Crista iliac
Aufwärmfall: Polytrauma, m, 23 J. Inzwischen arbeitsfähig, prothesenversorgt, Lehre zum Industriezeichner
Interdisziplinarität -UC -PC -Orthotechnik Sozialisation -Arbeitsplatz -Familie Erwartungshaltung Arzt Patient Amputation Komplexe Situation Rekonstruktion Nebendiagnosen -Komorbiditäten -Begleitverletzungen Ökonomie -Krankenhaus -SGB V -SGB VII
Indikation zur Amputation Notfall Elektiv Tumor Infektion posttraumatisch (postprimär, sekundär) Immer gilt: Life before limb
Ernest M. Burgess, 1911-2000 Bezeichnete die Extremitätenamputation erstmalig als konstruktive Chirurgie Paradigmenwechsel von: Amputation = ärztlicher Fehler bzw. Versagen hin zu Amputation = erster Schritt auf dem Weg zur Rehabilitation bei Patienten mit zerstörter Extremität
A meta-analysis of amputation versus limb salvage in mangled lower limb injuries The patient perspective [TRAUMA] Hypothese: Es besteht zur Zeit Uneinigkeit welche Option dem Patienten auf welcher Entscheidungsgrundlage angeboten werden sollte und was dieser von einer erfolgreichen Operation erwarten kann. 11 von 214 Studien inkludiert. 1138 Patienten ( 769 amputiert; 369 rekonstruiert) Akula et al.: Injury 2011
A meta-analysis of amputation versus limb salvage in mangled lower limb injuries The patient perspective [TRAUMA] Einschlusskriterien Studien in Englisch Posttrauma. Amputation Ausschlusskriterien Nicht engl. Studien Einzelfallbeschreibungen Spezifische Frakturen Spezifische Altersgruppen Vorbestehende Amputationen Unilaterale Amputation Auswertung mit SF-36 v. SIP Minimum 20 Fälle/Studie Minimum 2 Jahre Follow up Studien zwischen 1990 und 2007 Quality Score > 5 Quality Score < 5 Akula et al.: Injury 2011
A meta-analysis of amputation versus limb salvage in mangled lower limb injuries The patient perspective [TRAUMA] Ergebnis: Die Rekonstruktion schwer verletzter Extremitäten führt zu einem besseren psychologischen Outcome im Vergleich zur Amputation Ein signifikanter Unterschied bezüglich der physischen Mobilität besteht nicht. Akula et al.: Injury 2011
Does Limb-salvage Surgery Offer Patients Better Quality of Life and Functional Capacity than Amputation? [TUMOR] Fragen: Bietet der Beinerhalt Vorteile bei der Lebensqualität verglichen mit der Oberschenkelamputation bei Patienten mit Osteosarkom? Schätzen die Patienten sich selbst in einer der Gruppen besser ein? Ist ein physischer Unterschied zwischen den Gruppen zu beobachten? Malek et al.: Clin Orthop Rel Res 2012
Does Limb-salvage Surgery Offer Patients Better Quality of Life and Functional Capacity than Amputation? [TUMOR] Ergebnisse: Kein signifikanter Unterschied für SF 36 Toronto Extremity Salvage Index Besser bei den Rekonstruierten Physiological Cost Index Reintegration to Normal Living Index Malek et al.: Clin Orthop Rel Res 2012
Outcome-Oriented Amputation Surgery [INFEKTION] There has been virtually no attempt to develope scales measuring severity of disease or injury to provide guidance in patients with infection or ischaemic disease. Pinzur: Plast Reconstr Surg 2011
Fazit: Es spielt kein Rolle, was man macht. Psychologisch sind die Rekonstruierten im Vorteil Physiologisch gibt es keinen signifikanten Unterschied zwischen Amputierten und Rekonstruierten. Eindeutige Studien für Patienten mit muskuloskelettalen Infektionen existieren nicht.
Fazit: Es spielt kein Rolle, was man macht. Psychologisch sind die Rekonstruierten im Vorteil Physiologisch gibt es keinen signifikanten Unterschied zwischen Amputierten und Rekonstruierten. Eindeutige Studien für Patienten mit muskuloskelettalen Infektionen existieren nicht. Ist das schon alles? Eher nicht!!!!
Kritische Fragen zur Indikationsstellung: Wird der Patient nach menschlichem Ermessen eher von der Rekonstruktion oder der Amputation mit Prothesenversorgung profitieren? Welches realistische Ziel kann der Patient mit der Rekonstruktion oder Amputation erreichen? Wie ist das individuelle Rehabilitationspotential? Welche Rolle spielen die Ko-Morbiditäten? Pinzur: Plast Reconstr Surg 2011
Kritische Überlegungen zur Indikationsstellung: Knochenrekonstruktion möglich Knochenrekonstruktion nicht möglich Weichteilrekonstruktion möglich Weichteilrekonstruktion nicht möglich Gefäß-/ Nervenrekonstruktion möglich Gefäß-/ Nervenrekonstruktion nicht möglich Schlechter AZ Hohe Komorbidität Amputation X X X X X Rekonstruktion X X X Ist eine adäquate Prothesenversorgung technisch möglich? Wie ist die kognitive Leistungsfähigkeit des Betroffenen? Wie ist die psychische Situation des Betroffenen (Belastbarkeit etc.)? Wie ist die soziale Situation des Betroffenen (familiäre Einbindung etc.)? Wie ist die Arbeitsplatzsituation des Betroffenen
Biomechanische Überlegungen Der Kraftaufwand zum Gehen mit Oberschenkelamputation liegt 25% über normal. Patienten mit Oberschenkelamputation verbrauchen 0.2mL/Kg/min O 2 Somayaji et al.2008
Kritische Überlegungen zur Indikationsstellung: Evaluation of a patient with significant extremity injury should focus on the PATIENT AS A WHOLE.... ATLS 2003 The decision to amputate is one that is not always clear. It must be INDIVIDUALIZED for each patient, taking into consideration not only the extremity wound but also the associated injuries, age and socioeconomic status of the patient. Yee Siang Ong: Plastic and Reconstructive Surgery 2010
Entscheidungshilfen (Scores) Mangeled Extremity Severity Score Predictive Salvage Index Limb Salvage Index Johansen et al.: J Trauma 1990 Howe et al.: Am Surg 1987 Russell et al.: Ann Surg 1991 Nerve Injury, Ischemia,...Patient Score Hannover Fracture Scale 97 McNamara et al.: 1994 Tscherne et al.: Unfallheilkunde 1982
Entscheidungshilfen (Scores)
Entscheidungshilfen (Scores) Allen Scores gemeinsam: Hohe Spezifität Niedrige Sensitivität Identifikation von Patienten, die eine Amputation benötigen nicht möglich....eingeschränkte Anwendbarkeit. Niemals ausschließliches Kriterium für oder wider einer Amputation Bosse et al.:jbjs (Am.) 2001
Erhaltene Fußsohlen-Sensibilität ist eine wesentliche Voraussetzung für die Entscheidung zu Erhalt der unteren Extremität!????? Lower Extremity Assessment Study 1. Anfängliches Outcome bei Beinerhalt mit und ohne Fußsohlen-Sensibilität gleich. 2. >50% der Patienten ohne Fußsohlen-Sensibilität gewannen innerhalb von 2 Jahren zurück. Fußsohlen-Sensibilität ist keine Entscheidungshilfe Hansen et al.: Clin Orthop 1989 Bosse et al.: JBJS (Am.) 2005
Entscheidungshilfen (Scores) Helfet 1990: Russel et al. 1991: Poole et al. 1994: Durham et al. 1996: Monitz et al. 1997: Bosse et al. 2003: Elsharawy 2005: Ly et al. 2008: MESS Score > 7 = 100% Amputation. Scoring Systeme können klinische Einschätzung/ Erfahrung nicht ersetzten. Der Grad der Knochen-und Weichteilverletzung beeinflusst die Amputationsrate. Individuelle Korrelation zwischen Scores und Amputation problematisch. Keine Vorhersage des individuellen Outcomes möglich. Schwere Begleitverletzungen (Gefäßverletzungen) führen eher zur Amputation. Score Systeme nützen nicht. Keine Korrelation zwischen Scores und Amputationsrate (MESS /MESI). Keine Voraussagen zum Outcome durch Scores möglich
Beispiel-Fälle: Chronische Osteomyelitis + Erfolgreiche Rekonstruktion + Gebrauchsfähige Extremität + Arbeitsfähigkeit im alten Beruf - Lange Behandlungsdauer
Fall Nr.1 : erstgr. offene US-FX, m. 34 J Unfallbilder, 07.01.05 Erstversorgung, 10.01.05
Fall Nr.1 : erstgr. offene US-FX, m. 34 J Infekt. Röntgen, 06.04.05 Deutliche periostale Reaktion als Zeichen des Infektes Wahrscheinlich: Chronifizierter Frühinfekt
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Das Bild kann zurzeit nicht angezeigt werden. Fall Nr.1 : erstgr. offene US-FX, m. 34 J Infekt. Röntgen, 26.10.05 Infekt. Röntgen, 14.12.05 Lokale Revisionen und Versuch des Knochenerhaltes Lokale Revisionen und Versuch des Knochenerhaltes?? 12 Monate Therapie! 9 Monate Revisionschirurgie
Das Bild kann zurzeit nicht angezeigt werden. Das Bild kann zurzeit nicht angezeigt werden. Fall Nr.1 : erstgr. offene US-FX, m. 34 J Infekt. Röntgen, 13.03.06 23.03.2006 Laufendes Lavageprogramm Klinik für Unfall- und Wiederherstellungschirurgie Infekt. Röntgen, 03.04.06 Nach Infektberuhigung Anlage der Transportkor kotomie. Transportbeginn nach 7 Tagen. 1 mm/tag in 4 Por onen
Fall Nr.1 : erstgr. offene US-FX, m. 34 J Infekt. Röntgen, 15.06.06 Infekt. Röntgen, 30.09.06 Auf Wunsch des Pa enten zunächst Kompressionsdocking. er wünschte keine weiteren Eingriffe lokal. Darunter jedoch Achsdevia on. Am 21.6.2006 Docking mi els 7 Loch KFI Titan 1/3 Rohr Pla e + Spongiosaplas k + Gentamycin Chips Infekt. Röntgen, 07.11.06 Am 11.10.2006 En ernung des Fixateur Externe und Mobilisa on in der Gießharzorthese. Reizlose WT, Vollbelastung 23 Monate Therapie!
Fall Nr.1 : erstgr. offene US-FX, m. 34 J Röntgen, 21.12.06
Beispiel-Fälle: Chronische Osteomyelitis? Erfolgreiche Rekonstruktion - Sekundäre Amputation - Arbeitsunfähigkeit - Lange Behandlungsdauer
Fall Nr. 2: Chronische Osteomyelitis, w. 49 J Verlegungsgrund: Verbliebener Restdefekt über dem Innenknöchel. Bitte um Defektdeckung Problem: Infektpersistenz! S. aureus!!!!!
Fall Nr. 2: Chronische Osteomyelitis, w. 49 J Radiologischer Befund zum Zeitpunkt der Übernahme. Markraumauffüllung mit Knochenzement.
Fall Nr. 2: Chronische Osteomyelitis, w. 49 J 13.01.2011
Fall Nr. 2: Chronische Osteomyelitis, w. 49 J Das vorläufige Ende vom Lied: 28.01.2011
Beispiel Fälle: Chronische Osteomyelitis - Sinnlose Rekonstruktion - Unbrauchbare Extremität - Arbeitsunfähigkeit - Lange Behandlungsdauer
Fall Nr. 3 : 2 o offene Unterschenkel FX m. 34 J Leitersturz 28.07.2006
Fall Nr. 3 : 2 o offene Unterschenkel FX m. 34 J Posttraumatischer Frühinfekt Revisionsprogramm Keim: MRSA
Fall Nr. 3 : 2 o offene Unterschenkel FX m. 34 J Rekonstruktion? Wenn ja, wie? Amputation? Kommt nicht in Frage!!!! Nach subtotaler Entfernung der Tibia: Infektberuhigung. Kein Keimnachweis
Fall Nr. 3 : 2 o offene Unterschenkel FX m. 34 J 06.02.2008: Fibula pro Tibia Ipsilaterale Fibula Nota bene: Die Fibula war beim Unfall frakturiert!!!! 19 Monate für: Revisionsprogramm Plastische Defektdeckung
Fall Nr. 3 : 2 o offene Unterschenkel FX m. 34 J Mehrfache Frakturen im Bereich der Fibula. Reosteosynthesen
Fall Nr. 3 : 2o offene Unterschenkel FX m. 34 J 24.02.2012 Das vorläufige Ende vom Lied 55 Operationen Bein nicht belastbar Bein verkürzt Therapiedauer: 67 Monate!!!!!! Arbeitsunfähig
Beispiel-Fälle: Akutverletzung + Erfolgreiche Rekonstruktion der WT Knochenrekonstruktion steht noch aus
Fall Nr. 4: Hingucken!, m, 57 J Mehrfachverletzung, u.a. kombiniert mediale SHF und subtrochantäre OSF
02.08.10 02.08.10 Zügige, individuell adaptierte Versorgung der Extremitäten 19.08.10 19.08.10 01.08.10 01.08.10 01.08.10
Primärversorgung mittels Fix. ext. am Unfalltag sowie konsequentes WT Debridement
Segmentresektion mit Lappenplastischer Deckung (Hemisoleus + med. Gastro.) und Fix. Umbau am 10.08.10
Zunehmende WT Konsolidierung. Kallus am OS. Nach WT Konsolidierung Segmenttransport zur Tibiarekonstruktion geplant
Röntgen und Weichteilverhältnisse bei der letzten WV.
Beispiel-Fälle: Chronischer Protheseninfekt Eine Revision Keine Rekonstruktion Amputation (Behandlung läuft noch)
Fall Nr. 5: Chronischer Protheseninfekt, w, 71 J. Z.n. Quengelbehandlung Diabetes AVK keine Fusspulse
Fall Nr. 5: Chronischer Protheseninfekt, w, 71 J. Auf Bitten der Patientin: 13.11.2012 Eine Revision. Intraoperativ desaströser Befund im Knie. Massive Mikrozirkulationsstörungen am Unterschenkel Keim: MRSA
Fall Nr. 5: Chronischer Protheseninfekt, w, 71 J. 21.12.2012: Offene Oberschenkelamputation
Ein Wort zur Ökonomie: A Cost-Utility Analysis of Amputation versus Salvage for Gustilo Type IIIB and IIIC Open Tibial Fractures..., surgeons should consider LIMB SALVAGE, which will yield in LOWER COSTS and higher utility when compared with amputation Chung et al.: Plast Reconstr surg 2009
Ein Wort zur Ökonomie: Komplexe Extremitätenverletzung Amputation versus Erhaltung auch eine Sache der Ökonomie? Sowohl bei der 2 Jahres-Belastung als auch bei der Langzeitbelastung sind die Kosten für die ERHALTENDE BEHANDLUNG niedriger verglichen mit der verletzungsgerechten Amputation ($ 81Tsd./163Tsd. vs. $ 91Tsd./509Tsd.) Am teuersten: Rekonstruktion Tibiaschaft und Pilon OS-Amputationen Mac Kenzie et al.: JBJS (Am) 2007
Ein Wort zur Ökonomie: Komplexe Extremitätenverletzung Amputation versus Erhaltung auch eine Sache der Ökonomie? Sowohl bei der 2 Jahres-Belastung als auch bei der Langzeitbelastung sind die Kosten für die ERHALTENDE BEHANDLUNG niedriger verglichen mit der verletzungsgerechten Amputation ($ 81Tsd./163Tsd. vs. $ 91Tsd./509Tsd.) Am teuersten: Rekonstruktion Tibiaschaft und Pilon OS-Amputationen Mac Kenzie et al.: JBJS (Am) 2007
Fazit: Immer eine INDIVIDUALENTSCHEIDUNG Basis ist die Kombination aus PHYSIS und PSYCHE Kaum Literatur zum Thema INFEKTION Kaum ENTSCHEIDUNGSHILFE durch SCORES Amputation / Rekonstruktion: Vom physischen Outcome annähernd gleich. Amputation / Rekonstruktion: Psychologische Vorteile bei der Rekonstruktion Kosten: VORTEIL REKONSTRUKTION bei Akutverletzungen Kosten: Übertragbarkeit auf Langzeitverläufe (Infekte etc.) UNKLAR