DER "GÖDELSCHE BEWEIS" IM SYSTEM DER THEORETISCHEN SEMIOTIK

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(e.f η,θ,ι ) (k.l,ρ,σ ) ց ց (c.d δ,ε,ζ ) (a.b α,β,γ ) (3.b γ,β,α ) (1.h o,ξ,ν ) (g.h ν,ξ,ο ) (i.j κ,λ,µ ) ց ւ ց ւ [1, 1] [1, 1]

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Transkript:

Max Sense DER "GÖDELSCHE BEWEIS" IM SYSTEM DER THEORETISCHEN SEMIOTIK "Ein Beweis ist nur das Pflaster, auf dem der Karren des Mathematikers rollt". Ch.S. Peirce l. Es handelt sich im Folgenden um eine ergänzende s e m i o - t i s c h e Begründung zum sogenannten "Gödelschen Beweis" des Satzes, daß eine zugleich widerspruchsfreie und vollständige Ableitung aller relevanten Sätze einer mathematischen Theorie aus ihrem Axiomen-System (wie es Hilberts diesbezügliche Konzeption verlangte) nicht möglich sei (1931). Zunächst bedeutet also Gödels "Beweis", daß die von Hilbert inaugurierte metamathematisch und finitistisch intendierte axiomatisch-deduktiv.. logische Methode der "Tieferlegung der Fundamente" logisch-mathematischer Systeme keineswegs als die t i e f s t e "Tieferlegung" der "Fundamente" verstanden werden kann. Darüber hinaus bedeutet damit G öde ls "Beweis" jedoch zweifellos auch eine deutliche Limitierung der logisch-axiomatischdeduktiven Beweisidee bzw. ihres Folgerungsschemas derart, daß die t i e f e r e "Tieferlegung" erst hinter der bezeichneten Limitierung beginnt. Tatsächlich besteht die logische und mathematische Denkweise im reinen Sinne und damit das Schema einer Beweisführung in einem F o 1 g e r u n g s s y s t e m, dessen letzter Schluß es als B e w e i s bestätigt. Die widerspruchsfrei gedachte W a h r h e i t des letzten Schlusses ist die nur denkend erscheinende i n t e 1 1 i g i b 1 e R e a 1 i t ä t (Wirklichkeit) der Entität "Beweis". Schon Felix Klein hat in seinem "Erlanger Programm" (1872) davon gesprochen, daß das Verhältnis der Mathematik, genauer: der Geometrie, zur Wirklichkeit ausserhalb des Denkens, außerhalb des mathematischen Denkens liege und demnach auch mathematisch nicht diskutiert werden könne. Hugo Dingler formuliert dazu: 8

"Der Mathematiker hält sich allein an die rein logischen Zusammenhänge, das heißt,seine Arbeit beschränkt sich auf die hypothetischdeduktiven Systeme." Damit stellen also Klein und Dingler fest, "daß die Mathematik kein Mittel besitzt, um die Frage der Wirklichkeit zu behandeln". (vergl. H.Dingler,"Geometrie und Wirklichkeit", Dialectica, 35/36, 1955) Doch auch das, was n u r den k e n d, d.h. als formulierter oder formalisierter Gedanke (wie Hilbert, Curry und die Bourbaki es auch ausdrücken) existent wird, ist schließlich eine Wirklichkeit, eine in Zeichenrelationen thematisierte "Realität", wie die Theoretische Semiotik sagt. Am frühsten in der Geschichte der Mathematik in Amerika hat sich wohl Benjamin Peirce, der Vater von Charles S. Peirce und (nach F. Klein) eigentliche Begründer einer eigenständigen mathematischen Forschung dieser Konzeption der Mathematik angenähert. In den von J.M. Peirce, dem Bruder von Charles, 1881 herausgegebenen Lowell Lectures (1877-78) "Ideality in the Physical Sciences" gibt Benjamin eine diesbezügliche Definition der Mathematik: "Ideality is pre-emintly the foundation of the mathematics". (p.l65) Diese "Ideality" des Verfassers der "Linear Associ-ative Algebra" suggeriert natürlich "Platonismus", und S.F. Barker hat denn auch in seinem Beitrag zur Festschrift zum sechzigsten Geburtstag Kurt Gödels ("Foundations of 1-'lathematics", 1969) von einem "Platonismus" gesprochen, der in Wahrheit ein "Realismus" sei', "a realm ;of real, non-spatial, non-mental, timeless objects", kurz ein mathematischer Realismus. In seinem Zusammenhang reflektiert B~rker natürlich auch auf Gödels Unvollständigkeitstheorem. Er sieht es als eine Konsequenz des Theorems an, daß weder die Zahlentheorie noch die Mengentheorie gleichzeitig "consistent and complete" formuliert werden können, woraus folge, daß weder "Mengen" noch "Zahlen" als reale Objekte im Sinne eines üblichen materialen Objekt-Realismus verstanden werden können. Alle diese limitierenden Probleme wissenschaftstheoretischer Grundlagenforschung legten es nahe, sich mit Übergängen bzw. Zuordnungen zwischen system-interner Mathematik und dem mathematik-externen System der Wirklichkeit zu befassen. Es wird demnach ein operables theoretisches System benötigt, in welchem diese Übergänge bzw. Zuordnungen zum formalen und inhaltlichen Thema gehören, d.h. innerhalb dessen Methodik die zeichen- und sprachinterne Ausdrucksbildung zugleich einem definierten zeichen- und sprachexternen System von rekonstruierbaren Realitätsverhältnissen zugeordnet ist. 9

Dieses benötigte Doppelsystem zeichenthematisierter Repräsentationsklassen und coordinierter zeichenthematisierter Realitätsklassen liegt gegenwärtig nur in der Theoretischen Semiotik vor. (vergl. M. Bense, Vermittlung der Realitäten, 1976; sowie E. Walther, Allgemeine Zeichenlehre,2.Ed. 1979). 2. Die Theoretische Semiotik ist eine systematische Weiterentwicklung der von Peirce (zwischen 1865 und 1867) eingeführten "triadischen Zeichenrelation", bestehend aus einer geordneten Folge einer "monadischen", "dyadischen" und "triadischen Relation". Für diese triadisch geordnete Relationsfolge schreibt er auch "Firstness" (Erstheit), "Secondness" (Zweitheit), "Thirdness" (Drittheit) im Sinne formalisierter "Universal- bzw. Fundamentalkategorien". Auf den triadischen Ze ichenbegriff angewendet, spricht er vom "Zeichen als solchem" (Erstheit), vom "Obj~ktbezug" des Zeichens (Zweitheit) und vom "Interpretantenbezug" des Zeichens (Drittheit). Heute schreiben wir für die "triadische Zeichenrelation": ZR 3 (. 1.,. 2.,.3.} bzw. ZR 3 (M, O, I) Diese formalisierte bzw. generalisierte Form der triadischen Zeichenrelation ist noch kein konkretes Zeichen, sondern nur das fundamentalkategoriale Schema, das Repräsentationsschema des generellen dreisteiligen Peirceschen Zeichenbegriffs. Erst mit der Einführung der (auf Peirce zurückgehenden) S u b- z e i c h e n - die als cartesische (innere) Produktbildungen auf den drei Gliedern der fundamentalkategorialen Relation (als Zeilen bzw. Spalten) konstruierbar sind - in die allgemeine formale Zeichenrelation an Stelle der kategorialen Glieder gewinnt man die differenzierten triadischen Zeichenrelationen als zehn operable "Zeichenklassen", die ich hier nur andeute: Die drei homogenen Zeichenklassen für M, 0 und I 3.1 2.1 1.1 (bzw. IM OM MM) 10

3.2 2.2 1.2 (bzw. IO 00 MO) 3.3 2.3 1.3 (bzw. II OI MI) Nun ist ein Zeichen als solches n u r v o 1 1 s t ä n d i g als t r i a d i s c h e Relation, nicht als monadische und nicht als dyadische Relation, d.h~ nicht als ein Elementarzeichen (M, 0 oder I) und nicht als dualer Zeichenbezug (wie 1.2, 2.3, 3.1 etc.). Das heißt aber, daß nur das v o 1 1 s t ä n d i g e S u b z e i - c h e n des Interpretanten, also "3.3" bzw. "II" bzw. der "argumenti s che Interpretant",etwa im Sinne eines vollständigen logischmathematischen "Beweises", dem Begriff der Vollständigkeit (die als triadische Relation fungiert) genügen kann. Dazu ist jedoch noch zu bemerken, daß, wie der monadische, dyadische und triadische T e i 1 der triadischen Relation einen externen B e z u g aufweisen, auch die vollständige Relation jeder Zeichenklasse als Ganzes einen (zeicheninternen oder zeichenexternen) differenzierten kompositionellen, homogenen oder inhomogenen Realitätsbez ug aufweist, der als solcher bisher oft vernachlässigt wurde, Die operationelle Regel, die, angewendet auf die zur Disposition stehende Zeichenklasse,au s dieser die singulär determinierte "Realitätsthematik" ( wie wir sage; ) erreichbar macht, stammt ursprünglich aus der Geometrie. Es handelt sich um -das "Poncelet-Gergonnesche Prinzip der Dualität". In der projektiven Geometrie (die metrische Geometrie kennt dieses Phänomen nicht) handelt es sich dabei, wie R. Courant und H. Robins sich ausdrücken, um eine Vertauschungsregel für als "dual" bezeichnete Elemente wie z.b. Punkt und Gerade. (Führen wir für die Operation der Dualisierung das bezeichnende "x" ein, dann erweisen z.b. sich folgende Aussagen als dual: Eine G e r a d e Ein p u n k t wird bestimmt durch zwei getrennte Punkte X wird bestimmt durch zwei sich schneidende Geraden Die "Dualität" (Vertauschungsrelation) dieser (definitorischen) Sätze ist, wie man bemerkt, auch dadurch gegeben, daß sie wechsel- 11

seitig eine projektive Realisations~F o r d e r u n g (postulator isch) einschließt. Da nun weiterhin die Repräsentationsverhältnisse der "triadischen Zeichenrelationen" der "triadischen Zeichenklassen" generell als externe Be z ü g e und damit als semiotische P r o j e k t i o n der fundamentalkategorial, d.h. auf "M", "0" und "l"j konstituierten "triadischen Zeichenklassen" aufgefaßt werden können, liegt es nahe, das, was Peirce ursprünglich lediglich als "Trichotomie" bzw. "trichotomische" Haupteinteilung der Zeichen bezeichnete, als trichotomischen zeichenklassen-extern postulierbaren bzw. zu fordernden, also coordinierbaren Bezug auf ein durch jeweils eine Zeichenklasse hypothetisch - definitorisch eingeführtes Realitätsverhältnis zu beziehen. Wir bezeichnen diesen Bezug der Zeichenklasse auf ein vollständiges kompositionelles Realitätsverhältnis als deren Re a 1 i t ä t s t h e m a t i k Es wird, wie bereits angedeutet, durch Dualisierung der Ze.ichenklasse (umkehrbar-eindeutig) gewonnen. Heute ist dieses Dualitätssystem, aus den zehn triadischen "Zeichenklassen" und ihren dual coordinierten zehn Realitätsthematiken ein zentraler und fester Bestandteil der Theoretischen Semiotik. Die nachstehende tabellarische Übersicht über die zehn Zeichenklassen und ihre zehn Realitätsthematiken, deren strukturelle Kennzeichnungen, semiotische Realitätsverhältnisse als solche mit typischen Beispielen sowie den von Peirce umgangssprachlich bzw. metasemiotisch (wie wir heute sagen) vorgegebenen Charakteristiken : 12

Zkl Rth Struk. them.realität Beispie 1 3.1 2.1 1.1 X 1.1 1.2 1.3 hom Vollst. M Repertoire s (Metasemiotische Realitätsbeschreibung n. Peirce: Qualiz.e ichen, Sinzeichen, Legizeichen) 3.1 2.1 1.2 x 2.1 1.2 1.3 ihom M-them. 0 Mode 11, Foto (Metasemiotische Realitätsbeschreibung n. Peirce : deskriptiv, designativ, kopulativ) 3.1 2.1 1.3 x 3.1 1.2 1.3 ihom M-them. I Funktion, Urteil (M e tase miotische Realitätsbeschreibung n. Peirce: hypothetisch, kategorisch, relativ) 3.1 2.2 1.2 x 2.1 2.2 1.3 ihom 0-them. M Gleichung, Duft (Metasemiotische Realitätsbeschreibung n. Peirce: abstraktiv, konkretiv, kollektiv) 0-I-them.M Ze i c hen 3.1 2.2 1.3 x 3.1 2.2 1.3 ihom~m-i-them.o Zah~... M-O-them.I. Apr1or1t a t (Metasemiotische Realitätsbeschreibung n. Peirce: Instinkt, Erfahrung ~ Denken) 3.1 2.3 1.3 x 3.1 3.2 1.3 ihom I-them. M. Alphabeth, Code (Metasemiotische Realitätsbeschreibung n. Peirce: suggestiv, imperativ, indikativ) 3.2 2.2 1.2 x 2.1 2.2 2.3 hom Vollst. 0 Abdrücke,Spuren, Teile (Me tasemiotische Realitätsbeschreibung n. Peirce: Icon, Index, Symbol) 3.2 2.2 1.3 x 3.1 2.2 2.3 ihom 0-them. I Regel, Verkehrsz e ichen (Metasemiotische Kealitätsbeschreibung n. Peirce: sympathetisch, schockierend, gewohnt) 3.2 2.3 1.3 x 3.1 3.2 2.3 ihom I-them. 0 gen e reller Satz, Implikation (Metasemiotische Realitätsbeschreibung n. Peirce: saturie rend, praktisch, pragmatisch) 3.3 2.3 1.3 x 3.1 3.2 3.3 hom Vollst. I Be w e i s, Sc h 1 u ß (Metasemiotische Realitätsbeschreibung n. Peirce: rhematisch, dicentisch, argumentisch) (Zkl = Zeichenklasse, Rth = Realitätsthematik, D = Dualisation, Struk. =Struktur, hom = homogen, inhom = inhomogen, them.realität die durch die Fundamentalkategorien gekennzeichnete thematisierte bzw. kompositionelle Realität.) 13

Mit diesem tabellarischen Überblick wird zweierlei klar: l 1. das System der Theoretischen Semiotik ist ein Dualitätssystem aus (triadischen) "Zeichenklassen" und ihren zugeordneten ( tri c h o to m i s c h e n ) " Re a li t ä t s t h e m a t i k e n " 2. das System der Theoretischen Semiotik ist ein operables F u n d i e r u n g s s y s t e m im Sinne endgültiger Begründung auf tiefstliegender, fundamentalkategorialer, dreisteilig geordneter, hypothetisch repräsentierter W e 1 t - r e 1 a t i o n. 4. Ich kann zu meinem eigentlichen Thema übergehen: zur Entwicklung der s e m i o t i s c h e n Grundlagen für die 1 o g i s c h e Konstituierung des sogenannten "Gödelschen Beweises". Was das hierarchische Moment der in- der Tabelle verzeichneten kompositionellen Realitätsstufen und ihrer entsprechenden Repräsentationswerte angeht, so erscheinen sie (vertikal) vom niedersten Wert des vollständigen "M" (VM=9) über das vollständige "0" (V0=12) bis zum höchsten Wert des vollständigen "I" (VI=l5). Den höchsten Repräsentationswert, d.h. den höchsten Anteil an intelligiblen Bestimmungsstücken der Zeichenklasse bzw. Realitätsthematik bzw. an abstrakter, formaler axiomatisch-deduktiver V o 1 1 s t ä n d i g k e i t der Beweisfähigkeit erreicht natürlich der a r g u m e n t i s c h e I n t e r p r e t a n t (I 3. 3). arg Zkl(I~;~>:3.3 2.3 1.3 x Rth(VI):3.1 3.2 3.3; d. h. durch den argumentischen Interpretanten ist die Voll~tändigkeit eines Beweises im Prinzip semiotisch repräsentiert. Berücksichtigen wir nun weiterhin das Repräsentationsschema des anderen Kriteriums eines logischen Beweises, nämlich die axiomatisch-deduktive W i d e r s p r u c h s f r e i h e i t (W v f), dann findet man dafür den d i c e n t i s c h e n I n t e r p r e t a n t e n (ID 3 : 2 ). lc Zkl(I6i~):3.2 2.3 1.3 x Rth(wf):3.l 3.2 2.3, 14

Man bemerktr daß die Realitätsthematik der W i d e r s p r u c h s f r e i h e i t eine Repräsentationswert-Einheit (mit Rpw=l4) v o r der Realitätsthematik der V o l 1 s t ä n d i g k e i t des axiomatisch-deduktiven Ableitungssystems, also des vollständigen Beweises bzw. des arg'umentischen Interpretanten (mit Rpw=l5) liegt. Der Gödelsehe Unvollständigkeltsbeweis für das w i d e r - s p r u c h s f r e i e axiomatisch-deduktive Beweissystem bedeutet also die Postulierung der Nicht-Vollständigkeit als beweisbares Faktum. Nun ist der Verneinungsbegriff der Theoretischen Semiotik durchaus auch ein Repräsentationsbegriff, d.h. er bezieht sich auf die Verneinung. einer gewissen Repräsentation (Zeichenklasse oder Realitätsthematik) bzw. eines Repräsentationswertes. Das besagt weiterhin, daß die Verneinung einer gewissen Repräsentation sich nicht auf Wahrheitsverhältnisse, sondern auf Realitätsverhältnisse bezieht. Das wiederum bedeutet, daß eine s e m i o t i s c h e V e r n e i n u n g stets einen R e a l i t ä t s w e c h s e 1 (auf eine nächst höhere oder nächst tiefere Realitätsthematik) zur Folge hat. Diese semiotische Verneinungstheorie vorausgesetzt, bedeutet also die verneinte Vollständigkeit eines Beweissystems bzw. die Nicht Vollständig kei t (NV) wie aus den angegebenen Zeichenklassen bzw. Realitätsthema~iken für den argumentischen und dicentischen "Interpretanten" ohne weitere_s ersichtlich ist, den b e r e c h- t i g t e n ü b e r g a n g auf die vorangehende Repräsentationsebene der Zeichenklasse bzw. Realitätsthematik für die Widerspruchsfreiheit dieses Beweissystems: N(VI(Zkl:3.3 2.3 1.3 x Rth:3.1 3.2 3.3) Rpw 15)) 'V b±~!(zkl:3.2 2.3 1.3 x Rth:3.1 3.2 2.3) Rpw 14)) N(I-themat.I)(argumentischer Interpretant) Voll.Beweis Rpw 15 'V I-themat.O (dicentischer Interpretant) Widerspr.freier Beweis Rpw 14 15

Ich denke, daß hiermit wenigstens der metamathematische Teil der Gödelsehen Beweiskonzeption semiotisch demonstriert ist, der besagt;"wenn die Arithmetik widerspruchsfrei ist, ist sie unvollständig" (Nagel, Newman, p.93). Die semiotische Vollständigkeit eines Beweises kann den ausschließlichen Wahrheitswert "w" nur nominal-definitorisch, aber nicht in finiter-definiter!<onstruktion erreichen. Das heißt, daß der Vollständigkeitsbegriff nur rein abstrakt in ausschließlich hypothetischer (angenommener) ideeierender "Formalisation" denkbar ist. Die doppelte Forderung der "Vollständigkeit" und "Widerspruchsfreiheit" an einen Beweis im logischen Folgensystem muß somit auch beim Übergang in das semiotische Fundierungssystem t r i c h o t o m i s c h e r B e g r ü n d u n g entweder auf "Widerspruchsfreiheit" oder auf "Vollständigkeit" im Gödelsehen Sinne limitiert werden. 5. Das Tieferlegungsschema des "Gödelschen Beweises" kann also repräsentiert werden als ein semiotisches, r e 1 a t i o n a 1 e s und geordnetes Tiefer}egungsschema auf die drei (degenerierenden) I -} 0-)M =Stufen kompositionell thematisierter Realitäten. Der Begriff "Tiefe" bezeichnet hier kein Maß für Kompliziertheit oder Schwierigkeiten, sondern das, was G.H. Hardy in $einem schönen Buch "A Mathe m a t i c i an ' s A p o 1 o g y " ( 1 9 6 9, p. 1 0 9 f f ) s o nennt,als er davon sprach, daß "mathematische Ideen" oft in "strata", in "Schichten" angelegt seien und daß die niedrigere Schicht auch die "tiefere Idee" sei. Dementsprechend sprechen wir vom Maß der F u n d i e r u n g einer begrifflichen oder anschaulichen Entität auf die r e 1 a t i o n a 1 e T i e f e n f o 1 g e der drei Repräsentationsschichten I -) 0 -) M mit ihren drei numerischen Repräsentationswerten 15 -) 12 -} 9, die für die drei homogen komponierten Haupt-Realitätsthematiken des hypothetisch-intelligiblen "I" (.3.), des relativ-objekt-setzenden "0" (.2.) und des repertoiriell-selektionsfähigen 'im" (.1.) stehen. 16

Internationale Zeitschrift f_ür Semiotik und Ästhetik 8. J a h r gang, Heft 4, 1983 INHALT Elisabeth Walther: Charles S. Peirce's Bemerkungen über das 'Methoden-Zeitalter' 5 Max Bense: Der "Gödelsche Beweis" im System der Theoretischen Semiotik 8 Robert E. Tarpnto: Angelika Karger: Claude Gandelman: Hans Michael Stiebing: Elisabeth Walther: Sign, Data, and Information. An Introduction to a Semiotic Understanding of Information Semiotische Orbitalbildung der kategorialen Bezüge L~ dialectique ordre/desordre comme sujet de l'oeuvre d'art visuelle et verbale (Musik-) Interpretation aus semiotischer Sicht Die Relevanz der Bedeutungsbegriffe von Victoria Welby und Charles S. Peirce für die heutige Semiotik 17 25 31 48 54 INTERNATIONALES SEMIOTISCHES COLLOQUIUM IN PERPIGNAN ( Armando P lebe) 65 Wolfgang Kühlwein, Die Verwendung der Feindseligkeitsbezeichnungen in der altenglischen Dichtersprache (Angelika Karger) 66 Inhalt von Jahrgang 8, 1983 67