Landesbischof Dr. Christoph Meyns Predigt zum 1. Advent 2018 über Mt 21, 1-11 in St. Mariae-Jakobi zu Salzgitter-Bad Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserem Vater, und dem Herrn Jesus Christus. Amen. Liebe Gemeinde! Ich danke sehr herzlich für die Einladung zu Ihnen heute hier nach Salzgitter-Bad. Ich bin gerne gekommen und freue mich, heute mit Ihnen zusammen hier in St. Mariae-Jacobi Gottesdienst zu feiern und für Sie aus Anlass der Einführung der neuen Leseordnung die Predigt zu halten. I. Was ist die Kirche? Und wo findet man sie? Was für eine blöde Frage, werden einige denken. Na, hier am Kirchplatz in Salzgitter-Bad natürlich oder am Martin-Luther-Platz oder in der Ernst-Reuter-Straße oder in Gitter oder am Domplatz in Braunschweig. Ja, das ist richtig. Aber andererseits: Das ist wie mit einem Korallenriff. Die Kirchengebäude sind wie das zu Kalk gewordene Fundament, auf dem die Korallen leben, altehrwürdig, imposant, aber nicht die Korallen selbst. Die Kirche, das sind die Menschen, die zur Kirche gehören, werden andere darauf erwidern. Aber welche? Alle Mitglieder? Alle Getaufen? Alle, die am kirchlichen Leben teilnehmen? Die Pfarrerinnen und Pfarrer? Der Bischof? Das Grundgesetz unsere Kirche ist das Augsburger Bekenntnis von 1530 gibt eine andere Antwort. Dort steht im 7. Artikel: Die Kirche [ist] die Versammlung aller Gläubigen [ ], bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden. Und Martin Luther schreibt in den Schmalkaldischen Artikeln, einer der weniger bekannten Bekenntnisschriften: [Die Kirche ist] die heiligen Gläubigen und die Schäflein, die ihres Hirten Stimme hören. [Ihre Heiligkeit] besteht [ ] im Wort Gottes und im rechten Glauben. - 1 -
Die Kirche ist also im Kern weder Gebäude noch Menschen, sie ist ein sprachliches Geschehen. Wir würden modern sagen: Sie ist ein Kommunikationsprozess. Dieses Geschehen hat zwei Seiten, eine äußerlich sichtbare und eine innerlich verborgene. Auf der einen Seite werden Abschnitte aus der Bibel bei öffentlichen Versammlungen laut gelesen und ausgelegt, z. b. im Rahmen von Gottesdiensten, Andachten und Amtshandlungen, am Beginn von Veranstaltungen und Sitzungen, aus Anlass von Grußworten. Und Menschen hören zu. Das ist die äußere, sichtbare Dimension dessen, was die Kirche zur Kirche macht. Gleichzeitig geschieht dabei etwas im Verborgenen. In, mit und unter dem Sprechen und Hören von Mensch zu Mensch spricht Gott selbst jeden Einzelnen von uns an. Was wir da hören und was das, was wir da hören, mit uns macht, entzieht sich der Wahrnehmung und damit dem menschlichen Urteil. Manches davon wissen nur wir selbst. Manches wirkt tief in unsere Seele, unserem Herzen, unserem Gewissen auf einer Ebene, die nicht einmal uns selbst bewusst ist. Manchmal werden wir ermutigt und gestärkt. Manchmal werden wir konfrontiert und hinterfragt. Manchmal werden wir aufgerufen zu handeln. Manchmal sind wir zutiefst befreit und getröstet. Manchmal werden wir nachdenklich. Manchmal bekommen wir es mit der Angst zu tun. Manchmal werden wir unruhig. Manchmal ärgern wir uns. Und manchmal sind wir gelangweilt, weil das, was wir hören, uns jedenfalls unserer eignen Wahrnehmung nach nicht berührt. Was wie da geschieht, was wie bei uns ankommt, liegt nicht in menschlicher Hand. Die Bibel spricht in diesem Zusammenhang vom Heiligen Geist, der in, mit und unter dem gesprochenen und gehörten Wort leise und unsichtbar wirkt und um den wir immer wieder bitten müssen. Oft genug ist davon nichts oder nur wenig zu spüren. Es ist eben keine Frage des Wissens, sondern eine Sache des Glaubens. Wie es Jesus zu Thomas sagt: Selig sind, die nicht sehen und doch glauben! (Joh 20,29). Glaube ist aber eben das Gegenanglauben gegen das, was man sieht. II. Wenn wir nach 40 Jahren eine neue Leseordnung für die Gottesdienste an Sonn- und Feiertagen einführen, dann berührt das also den Kern dessen, was die Kirche ausmacht. Denn daran entscheidet sich, in welcher Woche und an welchem Tag Menschen das Jahr über welche biblischen Texte hören und ausgelegt bekommen. Diese Ordnung ist nicht zufällig. Sie orientiert sich an Jesus, an seiner Geburt, an sei- - 2 -
nem Leiden und Sterben, an seiner Auferstehung, an dem Geist, den er sendet, an dem, was das alles für das tägliches Leben und über den Tod hinaus bedeutet. Damit verbinden sich zugleich Themen des menschlichen Lebens: Schwangerschaft, Geburt und Kindheit, die starken Konflikte in der Jugend bis hin zur Ausbildung einer eigenen Identität, die Gestaltung des Lebens als Erwachsener und die Themen des Alters. Das Kirchenjahr ist darauf angelegt, dass das Leben Jesu unser Leben berührt und durchdringt und dabei in ständiger Wiederholung den Glauben immer weiter stärkt und vertieft. Die Grundidee, bestimmte Abschnitte des Alten und Neuen Testaments Sonn- und Feiertagen als Lesungen zuzuordnen, ist uralt. Sie geht auf den Kirchenvater Hieronymus zurück. Der gelehrte Theologe soll um 384 n. Chr ein erstes, nicht mehr erhaltenes Lektionar für die römische Kirche entworfen haben, das schnell Verbreitung fand, in seinen Grundzügen aber bis heute Anwendung findet. Die neue Leseordnung hat sich gegenüber der alten von 1978 nicht allzu stark verändert. Man hat vor allem die Reihenfolge der Predigttexte neu gemischt und an der einen oder anderen Stelle einen Text gestrichen, um dafür einen neuen Abschnitt aufzunehmen, meist einen aus dem Alten Testament. Darüber hinaus ist die Grenze zwischen dem Weihnachtsfestkreis und dem Osterfestkreis neu gezogen worden. Die Weihnachtszeit endet jetzt jedes Jahr am 2. Februar. Liegt Ostern spät, werden zusätzliche Sonntage der Vorfastenzeit eingefügt. Neu eingeführt wurde ein Gedenktag an die Novemberprogrome 1938 am 9. November. III. Um 450 n. Chr. ist in einer Predigt von Maximus, dem ersten Bischof von Turin, das erste Mal von der Adventszeit die Rede. Sie ist zunächst eine siebenwöchige Fastenzeit ab dem Martinstag. Daraus wurden dann im 6. Jh. n. Chr. fünf Adventssonntage. Davon haben sich vier erhalten. An dem Sonntag vier Wochen vor dem Christfest wurden seit dieser Zeit die gleichen Texte gelesen wie heute: als Epistel Röm 13,8-12 und als Evangelium Mt 21, 1-11. Daran hat sich auch in der neuen Leseordnung nichts geändert. Um 800 n. Chr. reiste der friesische Missionar Ludger mit Kaiser Karl dem Großen nach Helmstedt und gründet dort ein Kloster. Damit begann im Braunschweiger Land das kirchliche Leben. Seitdem haben die Menschen in unserer Region über 1.200 Jahre lang jedes Jahr am 1. Advent diese beiden Abschnitte gehört. Seit 1480 haben sie Menschen in dieser - 3 -
Kirche gehört. Für dieses Jahr ist das Evangelium vom Einzug Jesu in Jerusalem die Grundlage der Predigt. Matt. 21.1 Als sie nun in die Nähe von Jerusalem kamen, nach Betfage an den Ölberg, sandte Jesus zwei Jünger voraus 2 und sprach zu ihnen: Geht hin in das Dorf, das vor euch liegt. Und sogleich werdet ihr eine Eselin angebunden finden und ein Füllen bei ihr; bindet sie los und führt sie zu mir! 3 Und wenn euch jemand etwas sagen wird, so sprecht: Der Herr bedarf ihrer. Sogleich wird er sie euch überlassen. 4 Das geschah aber, auf dass erfüllt würde, was gesagt ist durch den Propheten, der da spricht: 5»Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein König kommt zu dir sanftmütig und reitet auf einem Esel und auf einem Füllen, dem Jungen eines Lasttiers.«(Sach 9,9) 6 Die Jünger gingen hin und taten, wie ihnen Jesus befohlen hatte, 7 und brachten die Eselin und das Füllen und legten ihre Kleider darauf, und er setzte sich darauf. 8 Aber eine sehr große Menge breitete ihre Kleider auf den Weg; andere hieben Zweige von den Bäumen und streuten sie auf den Weg. 9 Das Volk aber, das ihm voranging und nachfolgte, schrie und sprach: Hosianna dem Sohn Davids! Gelobt sei, der da kommt in dem Namen des Herrn! Hosianna in der Höhe! 10 Und als er in Jerusalem einzog, erregte sich die ganze Stadt und sprach: Wer ist der? 11 Das Volk aber sprach: Das ist der Prophet Jesus aus Nazareth in Galiläa. Unzählige Male ist dieser Abschnitt ausgelegt worden. Unzählige Predigten sind dazu überliefert. Der allgemeine Tenor durch anderthalb Jahrtausende hindurch: So wie die Menge Jesus begrüßt, so sollen auch wir Jesus als Gottes Sohn in unser Herz einziehen lassen. Und so wie die Menge ihre Kleider ablegt, so sollen wir uns durch Fasten und Gebet entblößen und so auf das Weihnachtsfest vorbereiten. Mein Zugang zum Einzug Jesu in Jerusalem ist das, was Matthäus im Anschluss überliefert. Jesus geht vom Stadttor aus schnurstracks in den Tempel. Erst dort endet sein Weg. Er stößt die Stände der Geldwechsler und Taubenhändler um. Er heilt Blinde und Taube und lässt sich von Kindern als König proklamieren. Aus dem Tempel als dem zentralen Ort Israels, an dem man in fest gefügter Ordnung Opfer brachte, macht er einen Ort, an dem Kranke Heilung finden und Kinder Beachtung erfahren. Wer also durch die Worte der Bibel hindurch Jesus begegnet, wer heute im Anschluss an die Geschichte vom Einzug in Jerusalem singt: Macht hoch die Tür und komm o mein Heiland Jesu Christ, meins Herzens Tür dir offen ist, der muss damit rechnen, dass er nicht einfach nur bestärkt und getröstet wird und singen und jubeln darf, sondern dass immer auch zugleich damit auf einen Weg gerufen wird, der ihn über den Horizont des Gewohnten hinausführt. Denn wenn politische, rechtliche, kulturelle oder soziale Ordnungen dazu führen, dass Menschen abgewertet, ausgegrenzt, diskriminiert oder ungerecht behandelt werden, dann sind wir als Christen dazu aufgerufen, diese Ordnungen zu überschreiten. Ich kann mir deshalb keine Kirchengemeinde vorstellen, die nur selbstgenügsam - 4 -
ihre Gottesdienste feiert und in ihrem Gruppen und Kreisen zu Adventsfeiern zusammenkommt. An irgendeiner Stelle, und sei es auch noch so bescheiden, muss es den Bezug zum Gemeinwesen geben, müssen Menschen in Not Hilfe finden, die wie die Kranken zur Zeit Jesu. Natürlich drängt sich bei dem massiven Zuzug von Flüchtlingen nach Salzgitter in den letzten Jahren das Thema Flüchtlingshilfe geradezu auf. Und ja, eben das bringt die gewachsene Ordnung auch durcheinander und kann schnell in Konflikte mit unserem Umfeld führen, wenn etwa Kirchengemeinden ein Kirchenasyl durchführen. Insofern zieht in der Adventszeit nie nur Jesus bei uns ein, sondern mit ihm das Elend der Welt: die Kranken und die Sterbenden, die Einsamen und die Trauernden, die Langzeitarbeitslosen und die Alleinerziehenden, die Depressiven und die Suchtkranken, die gestörten Familien, die vernachlässigten Kinder und die Strafgefangenen. Kein Beten ohne Tun des Gerechten, keine Kirchengemeinde ohne den Einsatz für das Gemeinwohl, keine Kirche ohne Diakonie, kein 1. Advent ohne Brot für die Welt. Jesus in unser Herz einziehen zu lassen, das bedeutet für mich heute nicht, sich in die Innerlichkeit zurückzuziehen. Wie Dietrich Bonhoeffer es 1943 schreibt: Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren in der Kirche muss neu geboren werden aus diesem Beten und diesem Tun. Auch das, liebe Gemeinde, ist im Gtunfr seit der ersten Leseordnung zur Zeit des Hieronymus und den ersten Adventslesungen bei Ludger nie anders gewesen. Immer hat sich die Kirche Menschen in Not zugewandt: den Witwen und Waisen, den Bettlern und den Pestkranken, den Tagelöhnern und dem städtischen Proletariat. Ich wünsche Ihnen in Salzgitter-Bad, dass die neue Leseordnung segensreiche Wirkung entfaltet, für das Beten und für das Tun. Ich wünsche Ihnen, dass Ihnen durch die Texte hindurch immer wieder Gott selbst begegnet, dass Sie den Zuspruch und den Halt spüren, der davon ausgeht, dass sie den Widerspruch aushalten können, den man dabei spürt und dass Sie sich immer wieder neu in Anspruch nehmen lassen für den Weg, der daraus folgt: ein waches Herz für die Nöte der Menschen, die Bereitschaft, sich für sie einzusetzen, Mitleid, Barmherzigkeit und Nächstenliebe. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen. - 5 -