Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste
Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste Geisteswissenschaften Vorträge G 453 Herausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste
Birgit Sandkaulen ICH BIN REALIST, WIE ES NOCH KEIN MENSCH VOR MIR GEWESEN IST Friedrich Heinrich Jacobi über Idealismus und Realismus Ferdinand Schöningh
567. Sitzung vom 16. Dezember 2015 in Düsseldorf Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 2017 Verlag Ferdinand Schöningh, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.schoeningh.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany. Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-506-78837-5
INHALT 5 Inhalt I. Glauben Sie, daß ich gegenwärtig hier vor Ihnen sitze und mit Ihnen rede?........... 7 II. Ein privilegierter Ketzer : Kurzer Exkurs zur Person............................... 10 III. Naiver Realismus?...................... 14 IV. Idealismus: Das szientistische Vorstellungsmodell der Bewußtseinsphilosophie........ 17 V. Entschiedener Realismus: Die zwiefache Offenbarung von Selbst und Welt......... 24 VI. Entschiedener Realismus: Lebendige Interaktionen 30 VII. Anmerkungen......................... 35
6Birgit Sandkaulen Porträt: Friedrich Heinrich Jacobi, gemalt von Johann Friedrich Eich, 1780, Gleimhaus Halberstadt Museum der deutschen Aufklärung
I. GLAUBEN SIE, DAß ICH GEGENWÄRTIG HIER VOR IHNEN SITZE UND MIT IHNEN REDE? 7 Wer ist ein Realist? In der Alltagssprache ist Realist, wer den Dingen scharf ins Auge blickt, wer sich nüchtern mit der Welt konfrontiert, wie sie in all ihren Umständen nun einmal ist. Demgegenüber erscheint der Idealist als ein Traumtänzer, der sich Illusionen hingibt und die Tatsachen wohlfeil verdrängt. Diese Wertung kann man allerdings auch umkehren. Dann liegt der positive Akzent auf dem Idealisten, der deshalb so heißt, weil er Ideale hat, für die er sich einsetzt, während der Realist sich im Kalkül eines bloßen Interessenverfolgs verliert. Dieser Verwendung der Begriffe von Realismus und Idealismus genauer nachzugehen, wäre durchaus interessant. In der Epoche um 1800, für die von Reinhart Koselleck der Name Sattelzeit geprägt worden ist, würde man dann etwa auf Friedrich Schiller stoßen, der sein auffallendes Vergnügen an der Deutung oppositioneller Begriffskonstellationen auch auf die Figuren des Realisten und Idealisten ausgedehnt hat: Der Realist wird fragen, wozu eine Sache gut sei? und die Dinge nach dem, was sie wert sind, zu taxieren wissen: der Idealist wird fragen, ob sie gut sei? und die Dinge nach dem taxieren, was sie würdig sind. 1 Die zweckrationale Einstellung des Realismus und die normativ am Guten orientierte Einstellung des Idealismus sind hier sehr schön auf den Punkt gebracht, und obwohl Friedrich Heinrich Jacobi über Idealismus und Realismus
8Birgit Sandkaulen Schiller seine Neutralität in dieser Sache versichert, ist seine idealistische Akzentuierung der Oppositionsfiguren gut zu erkennen. Gut zu erkennen ist auch, daß er sich die Taxonomie von Wert und Würde stillschweigend aus Kants Moralphilosophie leiht, deren Unterscheidung zwischen dem, was als Mittel für anderes einen Preis und dem, was als Zweck in sich selbst Würde hat, Schiller für seine Deutung realistischer und idealistischer Einstellungen fruchtbar macht. 2 So interessant und aufschlußreich dies jedoch ist um solche Einstellungen und ihre mögliche Wertung geht es im folgenden nicht. Wenn hier gleichfalls das Zwillingspaar der Begriffe Idealismus und Realismus zur Debatte steht, geht es um etwas anderes, um etwas Grundsätzlicheres, was in den skizzierten Varianten als bestimmten Einstellungen zur Wirklichkeit immer schon fraglos vorausgesetzt ist. Ob wir nüchterne Realisten oder überschwängliche Idealisten sind stets nehmen wir stillschweigend an, daß wir uns jedenfalls auf die Wirklichkeit beziehen, daß es uns selbst gibt und daß eine von uns unabhängige Welt existiert. Philosophen hingegen lieben es, alle möglichen Gewißheiten und so auch diese zu befragen. Glauben Sie, daß ich gegenwärtig hier vor Ihnen sitze und mit Ihnen rede? Einer der wichtigsten Debattenbeiträge über diese grundsätzliche Dimension unseres Wirklichkeitsverständnisses stammt von Friedrich Heinrich Jacobi. In seinem als Gespräch inzenierten Text David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus von 1787 tritt er in der Gesprächsrolle des ICH auf, der seinem ER genannten Gesprächspartner die erwähnte Frage stellt. Und so geht das Gespräch weiter: ER. Das glaube ich nicht blos, das weiß ich. ICH. Woher wissen Sie das? 3 Das ist die entscheidende Frage, eine Frage von erkenntnistheoretischem und gleichermaßen ontologischem Format, die mitten in einer ganz alltäglichen Situation aufbricht. Zwei Personen sitzen einander gegenüber und sprechen miteinander, so die Inszenierung des Textes. Selbstverständlich
sind sie überzeugt, daß sie da sitzen, einander sehen und miteinander sprechen: Aber woher wissen sie das, worauf stützt sich ihre Überzeugung? Und was genau meinen sie, wenn sie von der Wirklichkeit ihrer Gesprächssituation überzeugt sind? Sowie man diese Fragen einmal zuläßt, ist gar nichts mehr so selbstverständlich und klar, wie es alltagsweltlich scheint. Sollte man solchen Fragen darum lieber aus dem Wege gehen? Ein Einwand dieser Art kann durchaus naheliegen: Notorisch haben Philosophen nichts besseres zu tun als Verwirrung zu stiften und uns mit Problemen zu belästigen, die sich alltäglich gar nicht stellen. Diesem Einwand folgend würden wir die Pointe, mit der Jacobi aufwartet, allerdings verpassen. Trotz größter Sympathie für unsere alltagsweltlichen Überzeugungen vertritt er durchgehend und in aller Entschiedenheit die Auffassung, daß die Verdrängung von Schwierigkeiten nicht hilft und es jederzeit vorzuziehen ist, sich mit Problemlagen so radikal wie möglich zu konfrontieren. Daß man nicht den Menschen, sondern nur den Pferden Augenklappen anschnalle, hält er im Interesse der Aufklärung für ganz unverzichtbar. 4 Was heißt das aber im vorliegenden Fall? Bevor von Jacobis fundamentaler, in ihren Potentialen bis heute noch gar nicht ausgeschöpfter Schrift über Idealismus und Realismus zu sprechen sein wird, sei eine andere Frage wenigstens kurz berührt: Wer war Friedrich Heinrich Jacobi? 9 Friedrich Heinrich Jacobi über Idealismus und Realismus