Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste

Ähnliche Dokumente
Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste

WERT UND WIRKLICHKEIT

Zwischen Bilderlast und Bilderschatz. Pressefotografie und Bildarchive im Zeitalter der Digitalisierung

Kritik der vernetzten Vernunft

Julia Kockel Oliver Hahn

Whittaker, Holtermann, Hänni / Einführung in die griechische Sprache

Elmar Nass. Vision Mensch Mission Hoffnung

Respekt und Anerkennung

Medienwissen kompakt. Herausgegeben von K. Beck, Berlin, Deutschland G. Reus, Hannover, Deutschland

William K. Frankena. Ethik. Eine analytische Einführung 6. Auflage

Kober & Michel John Searle

Grundkurs Philosophie des Geistes

Stolpersteine Das Gedächtnis einer Straße

Gebrauch oder Herstellung?

Grundwissen Theologie Offenbarung. Bearbeitet von Klaus von Stosch

Vermögenseinlagen stiller Gesellschafter, Genußrechtskapital und nachrangige Verbindlichkeiten als haftendes Eigenkapital von Kreditinstituten

Geschichte des modernen ökonomischen Denkens

Führungsstile im Vergleich. Kritische Betrachtung der Auswirkungen auf die Mitarbeitermotivation

UTB Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage

Bereitgestellt von TU Chemnitz Angemeldet Heruntergeladen am :28

Die Macht der Reflexion. Zum Verhältnis von Kunst, Religion und Philosophie bei G.W.F. Hegel

Usability Analyse des Internetauftritts der Firma MAFI Transport-Systeme GmbH

Rede im Studium! Eine Einführung: Bearbeitet von Tim-Christian Bartsch, Bernd F. Rex

WERT UND WIRKLICHKEIT

SPD als lernende Organisation

Bedeutung und psychischer Gehalt

Heinrich Hemme, Der Mathe-Jogger 2

Eine Statustheorie moralischer Rechte

Spätes Bietverhalten bei ebay-auktionen

Verantwortung und Strafe ohne Freiheit

Das Konzept der organisationalen Identität

Die gesetzliche Unfallversicherung - von der Behörde zum modernen Dienstleistungsunternehmen

Medienwissen kompakt. Herausgegeben von K. Beck, Berlin, Deutschland G. Reus, Hannover, Deutschland

Schreiben im Ingenieurstudium

Kundenorientierung von Dienstleistungsunternehmen als kritischer Erfolgsfaktor

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form an Dritte weitergegeben werden! Aus Becker, R., H.-P.

Software entwickeln mit Verstand

GRUNDKURS PHILOSOPHIE DES GEISTES

Yoga - die Kunst, Körper, Geist und Seele zu formen

Quo Vadis Journalistenausbildung?

360 -Beurteilung und Persönlichkeitstest in der Führungsbeurteilung

Stephan Zech. Über das Stimmen von Raum

Neue Bibliothek der Sozialwissenschaften

Entscheidungshilfe zur Auswahl Schlanker Produktionssysteme für die Montage von Werkzeugmaschinen

Prinzipien in der Ethik

Kennzahlenbasiertes Prozeßcontrolling für den Produktionsbereich in einem Unternehmen der Investitionsgüterindustrie

Abraham und Sara Alles, was wir wissen müssen

Ist Europa ein optimaler Währungsraum?

Die Big Five und ihre Auswirkungen auf das Gründungsverhalten

Unterrichtsmaterialien in digitaler und in gedruckter Form. Auszug aus: Wie Kinder Verlust erleben. Das komplette Material finden Sie hier:

Der Zusammenhang zwischen Mitarbeiterzufriedenheit und Mitarbeiterbindung

Erfolgsfaktoren für virtuelle Teams

Kommunikation im Krankenhaus

Literatur als moralfreier Raum?

Glossare zu den Bänden <i>keilschrifttexte aus Assur literarischen Inhalts 1 3</i>

Zwecke und Mittel in einer natürlichen Welt

Unterrichtsmaterialien in digitaler und in gedruckter Form. Auszug aus: Abraham und Sara. Alles, was wir wissen müssen

Didaktische Unterrichtsforschung

Orsolya Friedrich, Michael Zichy (Hrsg.) Persönlichkeit. Neurowissenschaftliche und neurophilosophische Fragestellungen.

UTB Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage

Orientierung Geschichte Das Mittelalter. Orientierung Geschichte. Bearbeitet von Gerhard Lubich

Die Balanced Scorecard als Instrument des strategischen Managements aus Sicht eines mittelständischen Logistikunternehmens

Sport. Silke Hubrig. Afrikanischer Tanz. Zu den Möglichkeiten und Grenzen in der deutschen Tanzpädagogik. Examensarbeit

Familienunternehmen WIFU 2. Exploration einer Unternehmensform. Explorationen zu Familienunternehmen

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Industrieanlagen im Bau- und Immissionsschutzrecht

Einstieg in das Influencer Marketing

Unterrichtsmaterialien in digitaler und in gedruckter Form. Auszug aus: Bibel - etwas für mich? Das komplette Material finden Sie hier:

Ökonomische Theorie des Gesellschaftsvertrags

Nachhaltige Entwicklung im Tourismus in den Alpen

Selbstgesteuertes Lernen bei Studierenden

Frauen im Schwangerschaftskonflikt

Übergewichtige Kinder und Jugendliche in Deutschland

Basiswissen Soziale Arbeit. Band 6

Poetogenesis 7. Die Metapher. Kognition, Korpuslinguistik und Kreativität. Bearbeitet von Ralph Müller

Picking the winners - Dienstleistungsorientierte Bestandspflegeund Ansiedlungspolitik

Künstlerische Therapien

Storytelling in Onlinewerbefilmen

Sexueller Missbrauch - Kinder als Täter

Eine Arbeitsgemeinschaft der Verlage

Das Spannungsverhältnis von Teamarbeit und Führung

Gerd Lehmkuhl / Ulrike Lehmkuhl. Kunst als Medium psychodynamischer Therapie mit Jugendlichen

Unterrichtsmaterialien in digitaler und in gedruckter Form. Auszug aus: Lucius Annaeus Seneca, Zeit und Freizeit

Unterrichtsmaterialien in digitaler und in gedruckter Form. Auszug aus: Lehrer sein - spirituelle Lösungen. Das komplette Material finden Sie hier:

Hedonismus und das gute Leben

Carl Schmitts Rolle bei der Machtkonsolidierung der Nationalsozialisten

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Finanzierung von Public Private Partnership Projekten

Die Übertragung von Wirtschaftsgütern bei Personengesellschaften im Ertragssteuerrecht

Logistik, Transport und Lieferbedingungen als Fundament des globalen Wirtschaftens

2017, V&R unipress GmbH, Göttingen ISBN Print: ISBN E-Book:

Kapitalbedarfs- und Liquiditätsplanung bei einer Existenzgründung

Im Wandel... Metamorphosen der Animation

Abenteuer Softwarequalität

Das Insolvenzverfahren unter Berücksichtigung der Ertragssteuern und der Umsatzsteuer

Das Amt Leuchtenburg

Bildung für nachhaltige Entwicklung in Schulen verankern

Frost- bzw. Frost-Taumittel-Widerstand von Beton

Beiträge zur Theorie des Familienunternehmens

Transkript:

Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste

Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste Geisteswissenschaften Vorträge G 453 Herausgegeben von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften und der Künste

Birgit Sandkaulen ICH BIN REALIST, WIE ES NOCH KEIN MENSCH VOR MIR GEWESEN IST Friedrich Heinrich Jacobi über Idealismus und Realismus Ferdinand Schöningh

567. Sitzung vom 16. Dezember 2015 in Düsseldorf Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 2017 Verlag Ferdinand Schöningh, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) Internet: www.schoeningh.de Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlages nicht zulässig. Printed in Germany. Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISBN 978-3-506-78837-5

INHALT 5 Inhalt I. Glauben Sie, daß ich gegenwärtig hier vor Ihnen sitze und mit Ihnen rede?........... 7 II. Ein privilegierter Ketzer : Kurzer Exkurs zur Person............................... 10 III. Naiver Realismus?...................... 14 IV. Idealismus: Das szientistische Vorstellungsmodell der Bewußtseinsphilosophie........ 17 V. Entschiedener Realismus: Die zwiefache Offenbarung von Selbst und Welt......... 24 VI. Entschiedener Realismus: Lebendige Interaktionen 30 VII. Anmerkungen......................... 35

6Birgit Sandkaulen Porträt: Friedrich Heinrich Jacobi, gemalt von Johann Friedrich Eich, 1780, Gleimhaus Halberstadt Museum der deutschen Aufklärung

I. GLAUBEN SIE, DAß ICH GEGENWÄRTIG HIER VOR IHNEN SITZE UND MIT IHNEN REDE? 7 Wer ist ein Realist? In der Alltagssprache ist Realist, wer den Dingen scharf ins Auge blickt, wer sich nüchtern mit der Welt konfrontiert, wie sie in all ihren Umständen nun einmal ist. Demgegenüber erscheint der Idealist als ein Traumtänzer, der sich Illusionen hingibt und die Tatsachen wohlfeil verdrängt. Diese Wertung kann man allerdings auch umkehren. Dann liegt der positive Akzent auf dem Idealisten, der deshalb so heißt, weil er Ideale hat, für die er sich einsetzt, während der Realist sich im Kalkül eines bloßen Interessenverfolgs verliert. Dieser Verwendung der Begriffe von Realismus und Idealismus genauer nachzugehen, wäre durchaus interessant. In der Epoche um 1800, für die von Reinhart Koselleck der Name Sattelzeit geprägt worden ist, würde man dann etwa auf Friedrich Schiller stoßen, der sein auffallendes Vergnügen an der Deutung oppositioneller Begriffskonstellationen auch auf die Figuren des Realisten und Idealisten ausgedehnt hat: Der Realist wird fragen, wozu eine Sache gut sei? und die Dinge nach dem, was sie wert sind, zu taxieren wissen: der Idealist wird fragen, ob sie gut sei? und die Dinge nach dem taxieren, was sie würdig sind. 1 Die zweckrationale Einstellung des Realismus und die normativ am Guten orientierte Einstellung des Idealismus sind hier sehr schön auf den Punkt gebracht, und obwohl Friedrich Heinrich Jacobi über Idealismus und Realismus

8Birgit Sandkaulen Schiller seine Neutralität in dieser Sache versichert, ist seine idealistische Akzentuierung der Oppositionsfiguren gut zu erkennen. Gut zu erkennen ist auch, daß er sich die Taxonomie von Wert und Würde stillschweigend aus Kants Moralphilosophie leiht, deren Unterscheidung zwischen dem, was als Mittel für anderes einen Preis und dem, was als Zweck in sich selbst Würde hat, Schiller für seine Deutung realistischer und idealistischer Einstellungen fruchtbar macht. 2 So interessant und aufschlußreich dies jedoch ist um solche Einstellungen und ihre mögliche Wertung geht es im folgenden nicht. Wenn hier gleichfalls das Zwillingspaar der Begriffe Idealismus und Realismus zur Debatte steht, geht es um etwas anderes, um etwas Grundsätzlicheres, was in den skizzierten Varianten als bestimmten Einstellungen zur Wirklichkeit immer schon fraglos vorausgesetzt ist. Ob wir nüchterne Realisten oder überschwängliche Idealisten sind stets nehmen wir stillschweigend an, daß wir uns jedenfalls auf die Wirklichkeit beziehen, daß es uns selbst gibt und daß eine von uns unabhängige Welt existiert. Philosophen hingegen lieben es, alle möglichen Gewißheiten und so auch diese zu befragen. Glauben Sie, daß ich gegenwärtig hier vor Ihnen sitze und mit Ihnen rede? Einer der wichtigsten Debattenbeiträge über diese grundsätzliche Dimension unseres Wirklichkeitsverständnisses stammt von Friedrich Heinrich Jacobi. In seinem als Gespräch inzenierten Text David Hume über den Glauben oder Idealismus und Realismus von 1787 tritt er in der Gesprächsrolle des ICH auf, der seinem ER genannten Gesprächspartner die erwähnte Frage stellt. Und so geht das Gespräch weiter: ER. Das glaube ich nicht blos, das weiß ich. ICH. Woher wissen Sie das? 3 Das ist die entscheidende Frage, eine Frage von erkenntnistheoretischem und gleichermaßen ontologischem Format, die mitten in einer ganz alltäglichen Situation aufbricht. Zwei Personen sitzen einander gegenüber und sprechen miteinander, so die Inszenierung des Textes. Selbstverständlich

sind sie überzeugt, daß sie da sitzen, einander sehen und miteinander sprechen: Aber woher wissen sie das, worauf stützt sich ihre Überzeugung? Und was genau meinen sie, wenn sie von der Wirklichkeit ihrer Gesprächssituation überzeugt sind? Sowie man diese Fragen einmal zuläßt, ist gar nichts mehr so selbstverständlich und klar, wie es alltagsweltlich scheint. Sollte man solchen Fragen darum lieber aus dem Wege gehen? Ein Einwand dieser Art kann durchaus naheliegen: Notorisch haben Philosophen nichts besseres zu tun als Verwirrung zu stiften und uns mit Problemen zu belästigen, die sich alltäglich gar nicht stellen. Diesem Einwand folgend würden wir die Pointe, mit der Jacobi aufwartet, allerdings verpassen. Trotz größter Sympathie für unsere alltagsweltlichen Überzeugungen vertritt er durchgehend und in aller Entschiedenheit die Auffassung, daß die Verdrängung von Schwierigkeiten nicht hilft und es jederzeit vorzuziehen ist, sich mit Problemlagen so radikal wie möglich zu konfrontieren. Daß man nicht den Menschen, sondern nur den Pferden Augenklappen anschnalle, hält er im Interesse der Aufklärung für ganz unverzichtbar. 4 Was heißt das aber im vorliegenden Fall? Bevor von Jacobis fundamentaler, in ihren Potentialen bis heute noch gar nicht ausgeschöpfter Schrift über Idealismus und Realismus zu sprechen sein wird, sei eine andere Frage wenigstens kurz berührt: Wer war Friedrich Heinrich Jacobi? 9 Friedrich Heinrich Jacobi über Idealismus und Realismus