Frieden wahren mit schöpferischen Anstrengungen Rede von Regierungschef Dr. Klaus Tschütscher anlässlich der Feier zum Europatag 2010 am 11. Mai 2010 im Gymnasium Vaduz
2 Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen. Die Worte stammen von Robert Schuman. Der französische Aussenminister formulierte sie vor ziemlich genau 60 Jahren. Seine so genannte Erklärung vom 9. Mai 1950 gilt als Geburtsurkunde der Europäischen Union. Die Worte Schumans fassen Sinn, Herkunft und Herausforderung der heutigen Europäischen Union zusammen. Vor zwei Generationen waren Europa und die Welt vom Schrecken und den Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges gezeichnet. Die Wahrung des Friedens zwischen den Völkern war eine Vision, die den Menschen Hoffnung gab. Diese Vision ist Realität geworden, weil seither viele Politiker und Entscheidungsträger mit schöpferischen Anstrengungen daran gearbeitet und sie weiterentwickelt haben. Sehr geehrter Herr Botschafter Reiterer, sehr geehrter Herr Nägele, sehr verehrte Gäste, liebe Jugendliche, ich freue mich sehr, am heutigen Europatag einige Worte an Sie richten zu dürfen. Insbesondere freut es mich, dass Ihr, liebe Jugendliche, zum diesjährigen Europatag einen aktiven Beitrag leistet.
3 Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen. Wer keinen Krieg gesehen hat, der hat umso mehr die Verpflichtung, alle schöpferischen Anstrengungen zu unternehmen, den Frieden zu wahren. Liebe Jugendliche, genau wie Ihr habe ich den letzten Krieg auch nicht mehr selber erlebt. Und genau deshalb haben wir eine besondere Verpflichtung, den Frieden zwischen den Völkern in Europa zu wahren. Aber was könnt Ihr konkret dazu beitragen? Ich nenne kurz drei Punkte: Informiert Euch, wie das heutige Europa funktioniert. Versucht zu verstehen, in welchen Bereichen die Integration zwischen den 27 Mitgliedstaaten für die Zukunft besonders wichtig ist. Wissen schützt sowohl vor Ängsten als auch vor falschen Erwartungen. So geht es in Europa zum Beispiel nicht darum, dass möglichst viele Kompetenzen von den Hauptstädten nach Brüssel verschoben werden. Nein es geht vielmehr darum, darüber zu verhandeln und zu entscheiden, wo grenzüberschreitende Standards und zentrale Zuständigkeiten Sinn machen. Das ist zum Beispiel in den Bereichen Umweltschutz, Verkehr und Bildung der Fall.
4 Die privilegierte Partnerschaft des EWR-Landes Liechtenstein mit der EU macht so Eure Teilnahme an den umfangreichen Bildungsprogrammen der Europäischen Union möglich. Nutzt Sie! Meine zweite Aufforderung lautet deshalb: Geht hinaus nach Europa. Überschreitet die offenen Grenzen nach West und Ost, nach Nord und Süd. Öffnet Euren Horizont für Neues und Eure Herzen für Ungewohntes und Ihr werdet das Althergebrachte und Gewohnte anders, vielleicht sogar besser schätzen. Lernt andere Menschen, neue Sprachen und andere Kulturen kennen. Seid neugierig auf das Andere, das Ungewohnte, das Überraschende. Es ist klar, dass das Verlassen des Gewohnten und das Überschreiten der offenen Grenzen einen Effort und eine gewisse schöpferische Anstrengung, sprich Eigeninitiative erfordern. Aber sie lohnen sich auf jeden Fall! Offen für andere und ihre Sprache und Kultur zu sein, heisst nämlich auch lernen zuzuhören. Und es heisst fähig werden, sich mitzuteilen. Es heisst, Achtsamkeit lernen. Es heisst, respektvoll miteinander umgehen lernen. Es heisst solidarisch mit anderen sein. Meine dritte Aufforderung an Euch, liebe Jugendliche lautet deshalb: Lebt bewusste Solidarität. Pflegt die Freundschaften untereinander hier in Liechtenstein, aber auch über die Grenzen hinweg. Seid solidarisch gegenüber den Schwächeren, den Benachteiligten und übt Toleranz gegenüber denen, die anders sind als Ihr.
5 Ich sage diese Worte nicht, weil ich Euch belehren möchte. Ich sage sie, weil ich weiss, dass der Zusammenhalt und die Solidarität in unseren Gesellschaften die Grundlage für den Frieden in Europa und der Welt ist. Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen. Und dieser Zusammenhalt muss immer wieder mit schöpferischer Anstrengung gepflegt und erhalten werden. Ihr wachst in einem materiellen Wohlstand auf. Er erlaubt Euch schon früh eine grosse Autonomie. Nutzt sie bestmöglich. Nutzt dieses Privileg zugunsten der Solidarität und damit zugunsten des Zusammenhaltes der Gesellschaft. Denn die Solidarität in einer offenen Gesellschaft ist der beste Garant für einen langen Frieden. Sehr verehrte Damen und Herren, die Solidarität in einer Gemeinschaft muss immer wieder neu auch von den Erwachsenen gepflegt und gesichert werden. Das geht nicht ohne schöpferische Anstrengung. Die derzeitigen Turbulenzen in der Eurozone sind ein Beispiel, wie anstrengend, komplex und aufwändig Solidarität sein kann. Das erwähnte Zitat von Robert Schuman hat noch einen Zusatz: Der Friede der Welt kann nicht gewahrt werden ohne schöpferische Anstrengungen, die der Grösse der Bedrohung entsprechen.
6 An diesem Wochenende haben die Finanzminister der Eurozone grosse Anstrengungen unternommen, um die Stabilität der Eurozone nachhaltig zu sichern. Dabei ging es nicht nur um die Rettung Griechenlands. Vielmehr war die Grösse der Bedrohung tatsächlich beträchtlich. Es ging in diesen Tagen schlussendlich um nichts weniger als um den inneren Zusammenhalt einer Gemeinschaft, die den Frieden für Europa seit 60 Jahren gesichert hat. Schluss Liechtenstein ist nicht EU-Mitglied. Über die EWR-Mitgliedschaft leben wir in einer privilegierten Partnerschaft mit der EU. Das ist unser Weg der Integration in das geeinte Europa. Es ist ein Europa der offenen Grenzen, des Friedens und des Wohlstandes. Um es zu erhalten, bedarf es schöpferische Anstrengungen von uns allen. In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre sehr geschätzte Aufmerksamkeit!