Manuskript Beitrag: Pflege als Privatsache Ein System vor dem Kollaps Sendung vom 8. April 2014 von Tonja Pölitz Anmoderation: Wie wird es sein, wenn man alt ist? Den Gedanken hat sich wohl jeder schon mal gemacht, der kein Kind mehr ist: Ist man krank oder gesund? Allein, im Heim oder bei seiner Familie? Noch ist es so, dass die meisten zuhause alt und dort auch gepflegt werden: Immerhin knapp zwei Millionen. Ohne Familien würden dem Sozialstaat schon jetzt die Kosten nur so davonlaufen. Tonja Pölitz über die Grenzen bei der häuslichen Altenpflege. Text: Zimmerservice in Berlin. Seit fast sieben Jahren pflegt Andrea Volck ihren Vater. Nach zwei Schlaganfällen ist der 79-Jährige halbseitig gelähmt. Das Verhältnis zwischen den beiden - schwierig. Doch eine professionelle 24-Stunden-Pflege zahlt die Kasse nicht. Ohne die Tochter müsste der Vater in ein Heim. Also, die Pflege hier zuhause würde nicht garantiert sein mehr. Kann ich mir nicht vorstellen, dass hier sieben Tage 24 Stunden jemand das hier macht. Das funktioniert so nicht. Und das würde bedeuten, dass er in eine Einrichtung müsste. Alles was hier nach mir kommt, wird richtig beschissen werden. Ganz bestimmt. Ja. Das ist mal ganz klar. Aber dafür kriegt man keinen Orden, ne. Deutschlands größter Pflegedienst - die Familie. Für Andrea Volck bedeutet das: Ihr eigenes Leben macht seit sechs Jahren Pause. Sie hat schlaflose Nächte, er Depressionen, weil der Körper nicht mehr mitmacht. Das zermürbt beide. Tür an Tür mit dem Krankenbett des Vaters leben. Als Tochter fühlt sie sich moralisch dazu verpflichtet.
Pflegende Angehörige werden selbst oft sehr viel früher pflegebedürftig. Denn Pflegen macht einsam und depressiv, weiß auch die 49-Jährige und stellt sich dann ein Leben ohne Belastung vor. Dass es am Anfang erst mal so ist wie: Jetzt bist Du frei. Toll, freu Dich doch! Und das bleibt erst mal aus. Aber ich glaube schon, das kommt dann ganz schnell wieder. Und ich merke schon, dass ich dann auch so ein bisschen anfange zu lächeln. Es entspannt sich. Eine Vorstellung davon, dass es mir danach einfach besser gehen wird. Ja, und eigentlich ist es auch Zeit. Es gibt auch Momente, wo ich wirklich sauer bin und ich sage: So es ist Zeit, dass Du gehst, es ist Zeit. Und das hört sich so böse an. Ja, gibt es aber. Ja! In Deutschland sind derzeit etwa 2,5 Millionen Menschen pflegebedürftig. Nur ein kleiner Teil ist im Heim [0,75 Millionen]. 1,75 Millionen Pflegebedürftige, das sind rund 70 Prozent, werden zuhause betreut - teilweise mit Hilfe ambulanter Pflegedienste, der größte Teil aber allein von Angehörigen. Die Politik setzt ganz auf die Solidarität in der Familie. Ohne sie bräuchte das Land mehr als drei Millionen Vollzeit-Pfleger zusätzlich. Auch deshalb ist Pflegebedürftigkeit in Deutschland ein allgemeines Lebensrisiko. Der Kostenfaktor soll für die Allgemeinheit möglichst gering bleiben. Für Andrea Volck gibt s nicht mal Pflegegeld. Die Leistungen der Pflegeversicherung gehen drauf für den Pflegedienst, der sie am Wochenende entlastet. Aber man erwartet von pflegenden Angehörigen ersten Grades, wie Töchtern und so, dass die das ganz einfach kostenlos machen. Ich habe zurzeit Hartz IV, damit ich wenigstens auch ein bisschen versichert bin. Und mehr Geld habe ich nicht. Experten, die häusliche Pflege in Deutschland untersucht haben kommen zu dem Schluss: Immer mehr Pflegearbeit muss von Angehörigen geleistet werden - oder von Pflegekräften, die wenig verdienen. Frau Merkel hat von den Helden, den stillen Helden gesprochen. Aber im Grunde genommen haben wir ein Geschäftsmodell mit zwei Verlierern. Die Verlierer sind die pflegenden Angehörigen, die ganz überwiegend in der
Familie häuslich pflegen. Und die Verlierer sind die professionell Tätigen. Wir laden bei zwei Gruppen, überwiegend dann bei Frauen, die Lasten ab. Das heißt: familienbasiert. Doch unser familienbasiertes System gerät immer mehr unter Druck: Wir werden immer älter dazu kommen geburtenstarke Jahrgänge. Und nicht alles werden am Ende ausschließlich rüstige Rentner sein. So soll die Zahl der Pflegebedürftigen bis 2050 auf fast fünf Millionen steigen. Das heißt: Die Zahl wird sich verdoppeln. Wie viele werden dann im teureren Heim landen, weil nicht mehr genügend Angehörige für die häusliche Pflege zur Verfügung stehen? Familien trennen sich. Pflege und Beruf sind selten vereinbar. Und immer mehr Menschen werden mit nur einem oder gar keinem Kind mehr alt. Genügend Töchter, die wie Andrea Volck bereits sind zu pflegen, wird es rein zahlenmäßig nicht mehr geben. O-Ton Prof. Thomas Klie, Sozialrechtler und Gerontologe, Universität Freiburg: Die sind erst mal schlicht nicht da. Die kriegen wir auch nicht gebacken, in so kurzer Zeit. Das ist unser Fertilisationsverhalten. Und heute schon fehlen Frauen dreimal häufiger wegen kranker pflegebedürftiger Angehöriger als wegen ihrer Kinder. Insofern haben wir da wirklich eine dramatische und noch nicht hinreichend zur Kenntnis genommene Scherenentwicklung zwischen der Zahl auf Pflege angewiesener Menschen heute und in der Zukunft und denen, die sie pflegen sollen. Also, die Familienpflege nimmt ab. Weitsichtige Politik müsste schon längst angefangen haben, das professionelle System zu stärken, damit es einspringen kann. Aber genau das ist ja nicht passiert. In Skandinavien, in Dänemark ist es passiert: Paul Bucka hat Parkinson. Zweimal täglich steht ihm eine professionelle Pflegekraft zur Seite. Schwester Wiebke - bezahlt von der Gemeinde. Möglichst lange zuhause pflegen, so lautet auch in Dänemark der Grundsatz. Aber anders als in Deutschland, wo 70 Prozent noch immer von Angehörigen gepflegt werden, lassen sich die Dänen mehrheitlich gern von Profis versorgen. Der Pflegebedarf wird ohne Pflegestufen individuell ermittelt. Steuerfinanziert vom Staat. Und das entlastet auch Buckas Frau.
O-Ton Ina Bucka, pflegende Ehefrau: Wir können ja selber sagen, so und so viel können wir selber und so und so viel möchten wir auch selber. Und dann kommen die auch einmal im Jahr von der Kommune. Wenn man 75 geworden ist, da kommen die auch von der Kommune. Da kommt eine und sie schätzt auch ein und sie hat uns eigentlich auch auf dieses Bett hingewiesen. Dänen können sich auf das Einwohnerversorgungsprinzip verlassen. Die Gemeinde ist in der Pflicht und sorgt mit der Familie. Wenn Angehörige pflegen, dann sogar im Auftrag der Kommune und gegen Bezahlung. Ganz anders ergeht es ihrer Schwester in Deutschland. O-Ton Ina Bucka, pflegende Ehefrau: Meiner Schwester graut schon, wenn sie ins Pflegeheim soll. Sie sagt: Ich kann das gar nicht bezahlen. Sie wohnt ja in Deutschland. Wir werden in Deutschland keine dänischen Verhältnisse bekommen. Aber wir können uns ein Stück weit in diese Richtung bewegen. Wir brauchen eine ganz andere Rolle der Kommunen in der Zukunft bei der Gestaltung der alternden Gesellschaft. Sagen Experten. Doch eine Strukturreform, den großen Wurf, wagt Deutschland nicht. Stattdessen: klein-klein. Die Beiträge zur Pflegeversicherung sollen um 0,5 Prozent steigen. Außerdem sollen rüstige Rentner einspringen und 100 Euro dazu verdienen, etwa für Spaziergänge mit Pflegebedürftigen. O-Ton Prof. Thomas Klie, Sozialrechtler und Gerontologe, Universität Freiburg: Dort jetzt so ne Art monetarisiertes Ehrenamt einzuführen, als Nebenverdienst für Rentner, ist weder kulturell noch sozialpolitisch ne Lösung. Selbstverständlich brauchen wir das Engagement von Bürgerinnen und Bürger, aber zunächst als Zeitspende und nicht gegen Geld. Gefragt ist eine Strukturreform - und an die will heute keiner ran. Andrea Volck gehört zu den geburtenstarken Jahrgängen, die in den nächsten Jahren in Rente gehen. Was wenn sie irgendwann zu den Pflegebedürftigen gehört? Das sieht ganz übel aus. Ich habe extrem schlechte Rente. Das habe ich zu meinem Bruder auch gesagt: Gegen unsere Altersarmut, da können wir heute gar nix mehr gegen tun. Ich
habe keine Kinder. Das sage ich ihm auch immer. Da sage ich: Vater, was glaubst Du denn, wenn Deine Tochter alt ist, wie es der gehen wird? Habe ich Angst vor, ganz klar, habe ich richtig Angst vor. Ich habe keine Vorstellung davon, wer das übernimmt. Deutschland erwartet in Zukunft fast fünf Millionen Pflegebedürftige. Hat aber hat keine Antwort auf die große Frage: Wer soll uns mal pflegen? Zur Beachtung: Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt. Der vorliegende Abdruck ist nur zum privaten Gebrauch des Empfängers hergestellt. Jede andere Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung des Urheberberechtigten unzulässig und strafbar. Insbesondere darf er weder vervielfältigt, verarbeitet oder zu öffentlichen Wiedergaben benutzt werden. Die in den Beiträgen dargestellten Sachverhalte entsprechen dem Stand des jeweiligen Sendetermins.