Unter uns. Ausstellung Stuttgart Stadtraum in Bewegung? Eine fotografische Spurensuche. Raumintervention Anja Ohliger, Christian Holl

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Transkript:

Ausstellung Stuttgart Stadtraum in Bewegung? Eine fotografische Spurensuche. Raumintervention Anja Ohliger, Christian Holl Unter uns Eines der größten Abenteuer der Architektur: in die Innenecken zu schauen und das, was dort vor sich geht, zu beobachten die Rivalität der Wände, ihren Kampf um den Raum und seine Ausrichtung. In jeder Ecke ist die ganze Tragödie des Universum, das monströse Absurdum seine (oder bloß unserer?) Geometrie hineingepfercht, aber auch ein ganz spezifische Alltagsgeschichte hineingeschrieben. Jan Turnovsky, Die Poetik eines Mauervorsprungs Alle Fotos: Wolfram Janzer, Stuttgart 1/11

Eine Ausstellung, in der sich die an ihr Beteiligten über den Stadtraum äußeren und zu dessen Zustand, Gebrauch und Veränderung Stellung beziehen, stellt den Betrachter vor die Herausforderung, sich über seine eigene Position Gedanken zu machen. Dabei unterstützt ihn in gewisser Weise die Eigenheit einer Ausstellung, nämlich die Distanz, die sie zwischen ihrem Thema und dem Betrachter aufbaut. Diese Distanz wird durch die Ästhetik der Abbildung auf der weißen Wand erzeugt, durch die Kombination mit anderen Bildern, die die (räumlichen und zeitlichen) Abstände zwischen dem auf ihnen Abgebildeten schrumpfen lässt. So nah wie in der Ausstellung können die Dinge, die auf den Bildern zu sehen sind, in der Wirklichkeit nie zusammenrücken; der Betrachter jedoch rückt dadurch von ihnen ab. Auch der in der Abbildung in der Regel radikal verkleinerte Maßstab trägt seinen Teil zur Ferne zwischen Ausstellungsbesucher und Bildsujet bei. Erst diese Distanz erlaubt es, das Eingebundensein in die Dinge, die es zu reflektieren gilt, zu erkennen jede Selbstreflexion erfordert es, sich in einem gewissen Sinne von außen betrachten zu können; im Moment des vollständigen Eingebundenseins haben wir keine Möglichkeit, über Alternativen des eigenen Handelns nachzudenken. Diese Mechanismen sind uns in der Regel viel zu vertraut, als dass wir ihrer noch gewahr werden. Doch die Distanz kann auch zu groß werden. Dann wird gerade das, was man hervorrufen möchte, nicht erreicht. Der Betrachter sieht sich nicht mehr als Beteiligter an dem, was er betrachtet. Er ist nur noch der Distanzierte, nur noch Ausstellungsbesucher. 2/11

Die Gestaltung des Raums für die Ausstellung Stuttgart Stadtraum in Bewegung setzt an diesem Punkt an und stellt die eingeübte Routine des Ausstellungsbesuchs in Frage. Wir arbeiten genau mit dieser Balance zwischen Distanz und Unmittelbarkeit: mit der Distanz durch Abstraktion und Verfremdung und mit dem Unmittelbaren, der Konfrontation mit dem Naheliegenden, das so sehr Teil der alltäglichen Wahrnehmung ist, dass es ausgeblendet wird. Meist sind die Bildträger deutlich von einander getrennt: Das Bild ist das Bild, die Wand ist die Wand. Die Wand tritt hinter dem Bild zurück, wird als Medium unsichtbar. Wir unterlaufen diese Routine. Der Außenraum, der Stadtraum wird nicht nur Thema des Ausgestellten, sondern auch Thema der Fläche, auf der die Medien den Stadtraum vermitteln. Die Frage stellt sich so, inwiefern der Ausstellungsraum nicht selbst Stadtraum ist. Das öffnet die Perspektive auf den Stadtraum, der immer auch ein sozialer Raum ist: Der Stadtraum wird gezeigt nicht nur als etwas, das als Abgebildetes die Diskussion über ihn erzeugen soll, sondern auch als etwas, das mit der Ausstellung entsteht: Auch der Ausstellungsraum ist in dem Moment, in dem die Bürger sich über den Raum ihrer Stadt verständigen, städtischer Raum. Ein solcher städtischer Raum ist keiner, der der herausgehobenen Institution bedarf. Es ist kein elitärer Raum. Das sichtbar zu machen, wird die Drastik der Unmittelbarkeit, 3/11

die wir im Alltag zu sehen verlernen, gesteigert. Wir haben deswegen das Thema der Ecken gewählt. Das sind jene Orte im Stadtraum, die bei der Bewegung im Stadtraum ausgespart bleiben und über die die Wahrnehmung hinweggleitet. Was wir ja genau wissen: Kein Wunder also, dass genau das passiert, was in Ecken eben oft passiert. In einer Ausstellung sind die Ecken ebenso die Orte, von denen man sich fern hält, in die Ecken hängt man keine Bilder. Man würde sonst betonen, dass Bilder auf Wänden hängen, und Ablenken von dem, was auf den Bildern zu sehen ist. Zum Stadtraum gehören die Ecken aber genauso dazu wie die großen, offenen Freiräume, wie die erhebenden Fassaden der Repräsentation, wie die Orte des Gesprächs, der Verhandlung, des Spiels, das Kaufens und Verkaufens. Zwischen ihnen liegen die Ecken als Ausgangs- und Endpunkte, zwischen denen sich aufspannt, was die Stadt ausmacht. Dieser Raum wird durch die Gestaltung, die die Ecken miteinbezieht, sichtbar zur Anwesenheit gebracht, mit den ganz konkreten Zeichen der unmittelbaren Nachbarschaft, und mit Ausschnitten der Bilder jener Situationen, wie sie überall, in vielen Städten zu finden sein könnten. Es wird das Sichtbarmachen sichtbar gemacht und damit wiederum jene Distanz, die erst im 4/11

Betrachter die Fragen erzeugt, die die Ausstellung stellt: Was ist mein persönliches Verhältnis zum Stadtraum, wie sehr bewegt er mich, was geht er mich an? Die Ecken dort wo der Raum die Richtung wechselt, wo die Orientierung neu justiert wird, wo Bewegung ihren Ausgang nimmt und zur Ruhe gebracht wird, wo die sich aus verschiedenen Richtungen kommenden Äußerungen über den Raum, über seinen Anspruch an ihn treffen und kollidieren sind eben in genau dieser Konfrontation von Flächen, Farben, Strukturen, Sockeln, Leisten, von Zuständigkeiten und Artikulationen, das was gerade auch die Stadt ausmacht, eine ständige Auseinandersetzung verschiedener Haltungen, Sichtweisen, die nur selten harmonisch vermittelt wird. In der Stadt ist das üblich, weil es zum Wesen der Stadt gehört. In der Stadt ist möglich, dass zusammengehört, was unterschiedlich ist. Zu ihr gehört, dass Unterschiede nicht in einer Weise harmonisiert werden, die das Besondere und Individuelle, das Abgründige, das Hochtrabende und das Beeindruckende in Gleichförmigkeit aufgehen lässt. Natürlich ist es nicht so, dass der Zustand ihrer Ecken Auskunft über die pluralistische Verfassung einer Gemeinschaft gibt. Aber sie dürfen ein Bild für das sein, was unserer Meinung nach ein Stadtraum leisten soll, nämlich die Unterschiede derer, die ihn benutzen, zu respektieren. Wer anders ist, darf nicht in eine Ecke gestellt werden. 5/11

Stuttgart Stadtraum in Bewegung? Eine fotografische Spurensuche. Ausstellung des Deutschen Werkbund Baden-Württemberg Kunstbezirk Stuttgart, 19. November 2016 7. Januar 2017 Kuratiert von Andrea Scholz, Jörg Berchtold, Wolfram Janzer und Frank Huster Zur Ausstelung erschien ein Katalog in der av edition, Ludwigsburg 6/11

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