Besondere Gerichtsstände I. Gerichtsstand der Niederlassung (Art. 5 Nr. 5 EuGVO, 21 ZPO) II. Gerichtsstand der Streitgenossenschaft (Art. 6 Nr. 1 EuGVO) III. Zuständigkeit für Versicherungssachen (Artt. 8 ff. EuGVO) IV. Zuständigkeit für Verbrauchersachen (Artt. 15 ff. EuGVO, 29c ZPO) V. Gerichtsstand der Belegenheit (Art. 22 Nr. 1 EuGVO) VI: Gerichtsstand für die Streitigkeiten über die Gültigkeit der Beschlüsse der Organe von Gesellschaften (Art. 22 Nr. 2 EuGVO) Fall 1: Gerichtsstand der Niederlassung EuGH 19.7.2012, C-154/11, Mahamdia, RIW 2012, 630 Herr Mahamdia, der die algerische und die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt und in Deutschland wohnt, schloss am 1. September 2002 mit dem Außenministerium der Demokratischen Volksrepublik Algerien einen verlängerbaren Vertrag über die Beschäftigung als Zeitbediensteter für die Dauer von einem Jahr für die Tätigkeit als Kraftfahrer bei der algerischen Botschaft in Berlin. Der auf Französisch abgefasste Vertrag enthielt folgende Gerichtsstandsvereinbarung: VI. Beilegung von Streitigkeiten Im Falle von Meinungsverschiedenheiten oder Streitigkeiten, die sich durch den vorliegenden Vertrag ergeben, sind ausschließlich die algerischen Gerichte zuständig. Herrn Mahamdia oblag in Ausübung seiner Tätigkeiten, Gäste, Mitarbeiter und vertretungsweise auch den Botschafter zu fahren. Ferner hatte er die Korrespondenz der Botschaft zu deutschen Stellen und zur Post zu befördern. Diplomatenpost wurde von einem weiteren Mitarbeiter der Botschaft entgegengenommen bzw. weitergeleitet, der seinerseits von Herrn Mahamdia gefahren wurde. Am 9. August 2007 erhob Herr Mahamdia gegen die Demokratische Volksrepublik Algerien Klage beim Arbeitsgericht Berlin auf Vergütung der Überstunden, die er in den Jahren 2005 2007 geleistet habe. 1. Genießt die Volksrepublik Algerien Immunität in diesem Fall? 2. Ist hier die EuGVO anwendbar und ist das ArbG Berlin zuständig? Fall 2: Mehrere Beklagte EuGH 11.10.2007, C-98/06, Freeport, Slg. 2007, I-8319 = IPRax 2008, 253, 228 Anm. Althammer Der Kläger, wohnhaft in Schweden, war im Bereich der Durchführung von Projekten von Einzelhandelsgeschäften in Form sog. Factory Outlets tätig. Eines dieser Projekte wurde von der Gesellschaft britischen Rechts Freeport plc erworben. Freeport plc versprach dem Kläger zuerst mündlich Zahlung einer Provision bei der Eröffnung des geplanten Geschäfts. Dies wurde in einem späteren Schreiben bestätigt, jedoch unter Anführung dreier weiterer Bedingungen, von denen eine bestimmte, dass die Zahlung von der Gesellschaft geleistet werde, welche Eigentümerin des geplanten Geschäfts sein werde. Diese Bedingungen wurden durch den Kläger angenommen.
Eigentümerin des Geschäfts wurde die später gegründete Freeport Leisure (Sweden) AB, die eine Tochtergesellschaft von Freeport plc ist und von ihr kontrolliert wird. Als keine der Gesellschaften die Provision zahlte, erhob der Kläger Klage auf ihre Zahlung gegen Freeport plc und Freeport Leisure (Sweden) AB als Gesamtschuldner vor dem Gericht in Göteborg, d.h. am Sitz der Freeport Leisure (Sweden) AB. Ist das Gericht bezüglich der Freeport plc aufgrund des Art. 6 Nr. 1 EuGVO zuständig, insbesondere unter Berücksichtigung der Tatsache, dass die Klage gegen Freeport plc einen vertraglichen Anspruch betrifft, wobei gegenüber Freeport Leisure (Sweden) AB keine vertragliche Beziehung bestand, sodass die beiden Klagen auf verschiedenen Rechtsgrundlagen beruhen? Kann Freeport plc einwenden, dass die Klage nur deshalb erhoben worden ist, um sie den Gerichten ihres Wohnsitzstaates zu entziehen? Fall 3: Versicherungssachen BGH 26. 9. 2006, VI ZR 200/05, NJW 2007, 71 mit zust. Anm. Staudinger = VersR 2006, 1677, VersR 2007, 327 krit. Anm. Heiss Der Kl., der in Deutschland seinen Wohnsitz hat, verlangt von der Bekl., einer Haftpflichtversicherung mit Sitz in den Niederlanden, Schadensersatz wegen eines Verkehrsunfalls in den Niederlanden mit einem Versicherten der Bekl. Das AG am Wohnsitz des Kl. hat die Klage wegen fehlender internationaler Zuständigkeit deutscher Gerichte als unzulässig abgewiesen. Das BerGer. (OLG Köln VersR 2005, 1721) hat mit einem Zwischenurteil die Zulässigkeit der Klage bejaht. Mit der vom BerGer. zugelassenen Revision erstrebte die Bekl. weiterhin die Klageabweisung. Der BGH hat das Verfahren ausgesetzt und dem EuGH die folgende Frage zur Vorabentscheidung vorgelegt: Ist die Verweisung in Art. 11 II EuGVO auf Art. 9 I lit. b EuGVO dahin zu verstehen, dass der Geschädigte vor dem Gericht des Ortes in einem Mitgliedstaat, an dem er seinen Wohnsitz hat, eine Klage unmittelbar gegen den Versicherer erheben kann, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist und der Versicherer seinen Wohnsitz im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats hat? Vermerk: Art. 5 der Richtlinie 2005/14/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 11.5.2005 (ABl. EU 2005 L 149/14) hat die Kfz-Haftpflicht-Richtlinie 2000/26/EG vom 16. 5. 2000 in folgender Weise ergänzt: Erwägungsgrund 16a: Nach Art. 11 II i.v. mit Art. 9 I lit. b der Verordnung (EG) Nr. 44/2001 des Rates vom 22. 12. 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen kann der Geschädigte den Haftpflichtversicherer in dem Mitgliedstaat, in dem er seinen Wohnsitz hat, verklagen. Vgl. dazu auch EuGH 13.12.2007, C-463/06, Odenbreit, Slg. 2007, I-11321 sowie die abschließende Entscheidung des BGH v. 6.5.2008, VI ZR 200/05, RIW 2008, 635. Tenor des EuGH: Die Verweisung in Art. 11 Abs. 2 der Verordnung Nr. 44/2001 des Rates vom 22. Dezember 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung und Vollstreckung
von Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen auf Art. 9 Abs. 1 Buchst. b dieser Verordnung ist dahin auszulegen, dass der Geschädigte vor dem Gericht des Ortes in einem Mitgliedstaat, an dem er seinen Wohnsitz hat, eine Klage unmittelbar gegen den Versicherer erheben kann, sofern eine solche unmittelbare Klage zulässig ist und der Versicherer im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats ansässig ist. S. auch das schweizerische BG 2.5.2012, 4A_531/2011, DAR 2012, 472 und AG Trier 14.12.2011, 31 C 221/11, DAR 2012, 471. Fall 4: vereinfacht nach EuGH 17.9.2009, C-347/08, Vorarlberger Gebietskrankenkasse, Slg. 2009, I- 8661 Die Vorarlberger Gebietskrankenkasse (VGKK) mit Sitz in Dornbirn (Österreich) hatte als Sozialversicherungsträgerin Leistungen für eine durch einen Auffahrunfall Geschädigte mit damaligem Wohnsitz in Vorarlberg erbracht. Als Folge ging gemäß 332 Abs. 1 ASVG der Schadenersatzanspruch der unmittelbar Geschädigten insofern auf die VGKK über ( Legalzession ). Da das auffahrende Fahrzeug in Deutschland bei der WGV- Schwäbische Allgemeine Versicherungs AG (WGV-SAV) haftpflichtversichert war, begehrte die VGKK von Letzterer unter Berufung auf die eingetretene Legalzession den Ersatz des Aufwandes für die Leistungen zugunsten der unmittelbar Geschädigten. Mangels Zahlungsbereitschaft der WGV-SAV erhob die VGKK eine Regressklage beim Bezirksgericht Dornbirn und begründet die Zuständigkeit mit dem Wohnsitz der unmittelbar Geschädigten im Einzugsgebiet des Bezirksgerichts. Dagegen wendet sich die Beklagte. Sind die österreichischen Gerichte international zuständig? Fall 5: Verbrauchersachen EuGH 7.12.2010, C-144/09, Hotel Alpenhof, Slg. 2010, I-12527 = JZ 2011, 949, 954 Anm. von Hein Herr Heller, wohnhaft in Deutschland, war über die Internetseite des Hotels Alpenhof (Österreich) auf das Angebot des Hotels aufmerksam geworden und reservierte dort mehrere Zimmer für eine Woche um den 1. Januar 2008. Die Buchung und ihre Bestätigung erfolgten per E-Mail, da auf der Seite des Hotels eine E-Mail-Adresse angegeben war. Während des Aufenthalts beanstandete Herr Heller die Hotelleistungen und reiste ohne Zahlung der Rechnung ab. Das Hotel Alpenhof erhob daraufhin die Zahlungsklage vor dem Bezirksgericht Sankt Johan in Pongau (Österreich). Sind die österreichischen Gerichte für diese Klage international zuständig? Vgl. dazu auch EuGH 6.9.2012, C-190/11 Mühlleitner (Folien).
Fall 6: Grundstücksbelegenheit vereinfacht/aktualisiert nach EuGH 18.5.2006, C-343/04, Land Oberösterreich/ČEZ as, Slg. 2006, I-4557 = RIW 2006, 624 mit krit. Anm. Knöfel Der Freistaat Bayern ist Eigentümer mehrerer Grundstücke, die für die Landwirtschaft und landwirtschaftliche Versuche verwendet werden und auf denen der Freistaat eine Landwirtschaftsschule betreibt. Diese Grundstücke befinden sich etwa 60 km vom tschechischen Atomkraftwerk T. entfernt, das am 9. 10. 2004 den Probebetrieb aufnahm. Das genannte Atomkraftwerk wird von ČEZ, einem zu 70% in tschechischem Staatsbesitz befindlichen tschechischen Energieversorgungsunternehmen, auf einer ihm gehörenden Liegenschaft betrieben. Der Freistaat Bayern, der hier als Eigentümer der genannten Grundstücke auftritt und nach dessen Ansicht der Betrieb von Atomkraftwerken keine Form der Ausübung von Hoheitsgewalt, sondern der Privatwirtschaftsverwaltung darstellt, die der zivilen Jurisdiktion unterliegt, brachte am 31. 7. 2006 beim LG Regensburg eine Klage gegen ČEZ ein. Die Klage richtet sich mit dem Hauptbegehren auf das Urteil, ČEZ habe die vom Atomkraftwerk T. ausgehenden Einwirkungen durch ionisierende Strahlungen auf die Grundstücke des Freistaates Bayern insoweit zu unterlassen, als das Maß der Einwirkungen, die von einem nach dem anerkannten Stand der Technik betriebenen Atomkraftwerk ausgehen würde, überschritten werde. Hilfsweise begehrt der Freistaat Bayern, die durch ionisierende Strahlungen hervorgerufene Gefahr insoweit zu unterlassen, als die Gefahr, die von einem nach dem anerkannten Stand der Technik betriebenen Atomkraftwerk ausgehen würde, überschritten werde. ČEZ hält die deutschen Gerichte für unzuständig und macht u.a. geltend, dass Art. 22 Nr. 1 EuGVO auf Immissionsabwehrklagen nicht anwendbar sei. Ist das LG Regensburg zuständig? Fall 7: Streitigkeiten über die Gültigkeit der Beschlüsse der Organe von Gesellschaften vereinfacht nach EuGH 2.10.2008, C-372/07, Hasset und Doherty, Slg. 2008, I-7403 Frau Hasset und Frau Doherty erhoben vor einem irischen Gericht zwei Schadensersatzklagen gegen zwei irische Krankenhäuser aufgrund eines schweren Schadens, der ihrer Ansicht nach durch einen Behandlungsfehler der dort beschäftigten Ärzte verursacht worden war. Die Verfahren endeten mit einem Vergleich, aufgrund dessen jeder Klägerin eine Entschädigung gezahlt wurde. Im Rahmen dieser Verfahren haben die beiden Krankenhäuser die Beteiligung der behandelnden Ärzte am Rechtstreit beantragt, um gegen sie Regressansprüche geltend zu machen. Die beiden Ärzte waren Mitglieder der MDU, eines ärztlichen Berufsverbandes in Form einer Gesellschaft englischen Rechts mit Sitz in England. Die Aufgabe der MDU bestand darin, ihre Mitglieder bei den Rechtsstreitigkeiten wegen eines ihnen unterlaufenen Behandlungsfehlers zu entschädigen. Die Ärzte beantragten bei der MDU den Ersatz des Betrags, zu dessen Zahlung an das jeweilige Krankenhaus sie verurteilt werden könnten. Der Vorstand der MDU beschloss gemäß Art. 47 und 48 der Satzung der MDU, wonach die Entscheidung über einen Entschädigungsantrag im uneingeschränkten Ermessen des Vorstands steht, den Antrag der Ärzte abzulehnen. Da die Ärzte sich durch diese ablehnenden Entscheidungen in ihren satzungsmäßigen Rechten verletzt sahen,
beantragten sie beim High Court, die MDU am Rechtsstreit zu beteiligen. Gegen diesen Antrag machte die MDU geltend, dass sich die sie betreffenden Anträge im Wesentlichen auf die Gültigkeit der Entscheidungen bezögen, die der Vorstand erlassen habe. Daher fielen diese Anträge unter Art. 22 Nr. 2 EuGVO mit der Folge, dass allein die Gerichte des Vereinigten Königreichs und nicht die irischen Gerichte zuständig seien. Ist Art. 22 Nr. 2 EuGVO auf eine solche Streitigkeit anwendbar? Fall 8: BGH 12.7.2011, II ZR 28/10, RIW 2011, 800 X. ist Gesellschafter und Director einer nach dem Recht des Vereinigten Königreichs gegründeten Private Limited Company mit eingetragenem Sitz in England. Der tatsächliche Verwaltungssitz befindet sich in Deutschland im Gerichtssprengel des LG Hanau. Nr. 31 (A) des Gesellschaftsvertrags dieser Limited bestimmt Folgendes: Alle Streitigkeiten zwischen Gesellschaftern sowie der Gesellschafter mit der Gesellschaft oder ihren Organen werden den Gerichten der Bundesrepublik Deutschland zugewiesen, sofern die Gesellschaft ihren tatsächlichen Verwaltungssitz in der Bundesrepublik Deutschland unterhält. Örtlich zuständig in der Bundesrepublik Deutschland ist dann das Gericht am Verwaltungssitz der Gesellschaft. Am 27. März 2008, in der Abwesenheit von X., beschloss die Gesellschafterversammlung der Limited, dass X. als Director der Limited ausscheidet und dass mit dem anderen Director (S.) ein Dienstvertrag über seine Unternehmensführungstätigkeit geschlossen wird. Daraufhin erhob X. vor dem LG Hanau eine Klage auf die Nichtigerklärung dieser Beschlüsse, da die Gesellschafterversammlung nicht ordnungsgemäß einberufen worden und daher nicht beschlussfähig gewesen sei. Sind die deutschen Gerichte für diese Klage zuständig?