Netzwerkförmige (Re-)Organisation und tarifpolitische Parallelwelten: Heben Unternehmensnetzwerke die tarifpolitischen Institutionen aus den Angeln? Markus Helfen Fachbereich Wirtschaftswissenschaft Management-Department, Freie Universität Berlin 9. Hans-Böckler-Forum zum Arbeits- und Sozialrecht 21. 22. März 2013, Berlin
Überblick 1. Hintergrund des Forschungsprojekts 2. Forschungsansatz 3. Ausgewählte Fallbeispiele 4. Zusammenfassung und Diskussion 2
Hintergrund des Forschungsprojekts: Tariflosigkeit auf dem Weg zum Normalzustand? Hauptthese: Netzwerkförmige (Re-)Organisation der Wertschöpfung führt zu Fragmentierung in tarifpolitische Parallelwelten Leitung: Prof. Dr. Jörg Sydow, Dr. Markus Helfen, Lehrstuhl für Unternehmenskooperation, Management-Department, Fachbereich Wirtschaftswissenschaft, Freie Universität Berlin Projektmitarbeit: Dipl.-Soz. Manuel Nicklich Dipl.-Politologin Susann Budras Kooperationspartner: Prof. Dr. Olaf Deinert, Manfred Walser, Universität Göttingen Chiara Benassi, London School of Economics Förderung: Hans Böckler-Stiftung (2011-466-2) 3
Hintergrund des Forschungsprojekts: Schrumpfende Tarifbindung 1995/6 bis 2011 Westdeutschland Ostdeutschland 100% 17 27 39 27 43 51 10 Anteil der Beschäftigten in Prozent 50% 8 7 17 11 12 73 65 54 56 46 37 0 1995 1999 2011 1996 1999 2011 Flächentarifvertrag Firmen-/Haustarifvertrag (Quelle: bei Betrieben ab 5 Beschäftigten, eig. Darstellung nach: Müller-Jentsch/Ittermann 2000, Ellguth/Kohaut fortlfde. Berichte auf Basis des IAB-Betriebspanels). 4
Hintergrund des Forschungsprojekts: Industrienahe Dienstleistungen Facility Services Industrial Services Personal-Dienste Dienstleistungsspektrum 5
Forschungsansatz: Netzwerkförmige Reorganisation und Tertia(l)isierung Netzwerkförmige (Re-)Organisation Mehr-Arbeitgeber- Beziehungen Tarifpolitische Fragmentierung Dienstleistungsorientierung Tertialisierung Verbandliche (Des-)Integration Feldspezifischer Kontext: Regulation, Technologie, Tradition, Branchenkultur(en) Offene, nicht-deterministische Prozesse (Multiple Perspektiven, Ebenen): (Ver-)Handlungspraktiken der (kollektiven) Akteure: netzwerkbezogene Personalpolitik und tarifpolitische Vertretung 6
Forschungsansatz: Netzwerkförmige (Re-)Organisation und Tertia(l)isierung Grad der Tarifbindung, Tarifniveau Notation: Dienstleistungsunternehmen 1-n Kundenunternehmen 1-n Zulieferunternehmen 1-n Managementfunktionen (1-n) Wertschöpfungsprozesse (1-n) Ausgelagerter/tertiarisierter Prozess (1-n) 7
Forschungsansatz: Mehr-Arbeitgeber-Beziehungen Definition: ( ) eine Situation, in der die Beschäftigungserfahrungen der Arbeitnehmer von mehr als einem Arbeitgeber geformt werden, und zwar in Kontexten, in denen Organisationen zwecks gemeinsamer Güterproduktion oder Dienstleistungsbereitstellung über [Organisations-]Grenzen hinweg zusammenarbeiten. (Marchington et al. 2011: 314) Verschiedene Grundformen (nach Marchington et al. 2010: 461) Mehrere unabhängige Arbeitgeber im selben Arbeitsprozess/ am selben Arbeitsort ( multi-employer sites ) Allianz mehrerer Arbeitgeber ein Arbeitgeber ist an mehreren, wechselnden Arbeitsorten tätig Typ der Mehr-Arbeitgeber-Konstellation: Multiple Perspektiven: Dienstleistungsunternehmen, Kundenunternehmen, Beschäftigte Beziehungen: Kunden-Dienstleister, Kunden-Mitarbeiter, Dienstleister-Mitarbeiter Kriterien: Dienstleistungsart, Vertragsgestaltung (Vertragslaufzeiten, Wiederholung, konkrete Abwicklung), Prozesstyp (Arbeitsintensität, Kern/Rand) 8
Forschungsansatz: Mehr-Arbeitgeber-Beziehungen Dreiecksverhältnis der Dienstleistungsbeschäftigung Dienstleistungs- Beschäftigte Regulär Beschäftigte Geschäfts-/ Netzwerkbeziehung Beschäftigungs- beziehung Leistungsbeziehung Beschäftigungsbeziehung Dienstleistungsunternehmen Kundenunternehmen Legende Management Dienstleistungsunternehmen Management Kundenunternehmen (Quelle: Eigene Erstellung in Anlehnung an Havard et al. 2009, Mitlacher 2007) Ausgelagerte/tertiarisierte Tätigkeit (1-n) Wertschöpfungsprozesse (1-n) 9
Forschungsansatz: Verbandliche Des-Integration Branchenmäßige Interessenaggregation unterbrochen, da fehlende Tarifverbände, schwacher Gewerkschaftsdruck Verbandliche Pluralisierung: a) kooperativ als Koordination zwischen Verbänden (Tarifgemeinschaften), b) (neue) Gewerkschafts-/Verbandskonkurrenz Vervielfältigung der (hypothetischen) Verhandlungsbeziehungen entlang der Geschäftsbeziehungen zwischen den Netzwerk-Unternehmen Beobachtete Ansatzpunkte: Zentrales Unternehmen im branchenübergreifenden Netzwerk, Drei-Parteien-Beziehung auf Kollektivebene 10
Ausgewählte Fallbeispiele: Forschungsdesign Qualitative Branchenstudien zu Industrienahen Dienstleistungen Tarifpolitik unter Bedingungen der netzwerkförmigen Reorganisation der Wertschöpfung Quantitative Verbandsbefragung zur Erfassung der Integrationsleistung der Verbände Sekundäranalysen Triangulation durch Betrachtung mehrerer Ebenen, Akteursgruppen und Verknüpfung von qualitativer und quantitativer Forschung (Flick 2008): wechselseitige Überprüfung Erfassung unterschiedlicher Aspekte Kontextualisierung gewonnener Daten 11
Ausgewählte Fallbeispiele: Bisherige Interviews DL- Unternehmen Kundenunternehmen (OEM) Gewerkschaften/ Verbände Gesamt Arbeitgeber- Vertreter(innen) Arbeitnehmervertreter(innen) 6 5 5 16 7 8 10 25 Gesamt 13 13 15 41 12
Fallbeispiel I: (Tarif-)vertragliche Diversität im Dienstleistungskonglomerat Gewerkschaftliche Organisationsbereiche NGG IG BAU Facility Service Ver.di IG BCE Industry Service Service Holding Aviation Service IG Metall 13
Fallbeispiel II: Separater Dienstleistungstarif in Anlehnung an Ursprungsbranche "Das was wir heute Industrieparks nennen, das war früher alles in den Großunternehmen drin, das war alles chemische Industrie. (...) Dann wurden die Unternehmen alle zergliedert, zerlegt, separiert. Natürlich mit der Tendenz: 'Ich mach jetzt hier ein Logistik-Unternehmen oder technische Services und die nehme ich raus aus den Tarifverträgen'. Unser Kampf ist seit 20 Jahren, die drin zu halten im Flächentarifvertrag. (GewerkschaftTD4) Tarifstruktur am Standort Anzahl der Unternehmen Flächentarif Chemie 11 Andere Flächentarife (Metall, ) 10 Diverse Haustarife dar. InfraPark (700 Beschäftigte) (-10% Flächentarifvertrag der chemischen Industrie) 60 tariflos 39 Gesamt (~9.000 Beschäftigte): 120 14
Fallbeispiel III: Übertragung von Tariflosigkeit durch hybride Wertschöpfung Dienstleister 1 ( ) Montage FuE Market. Prozess QK Management Service Fertigung AnlagenAG Prod. Dienstleister 2 Kunde (OEM) Dienstleister 3 15
Zusammenfassung: Netzwerkförmige Re-Organisation und Tertia(l)isierung Tertia(l)isierung in den Kundenbranchen jenseits der Reduzierung der Wertschöpfungstiefe: a) Zerteilung der Leistungserstellung in (zeitlich begrenzte) Kooperationen im Sinne einer hybriden Wertschöpfung (Ganz/Bienzeisler 2010) b) Aufwertung der DL-Bestandteile in der Wertschöpfung (intern) und Auftritt als Dienstleister (extern) Dienstleistungsunternehmen: a) Entstehung einer breiten Palette an (industrienahen) Dienstleistungen: dauerhafte Branchenbildung? b) Starker Trend zu Bundling und Generalisten, starke Überschneidung der DL-Felder, Vision als Komplettbetreiber c) Kombination von Werkverträgen und Leiharbeit in Dienstleistungserbringung: Unterauftragsvergabe, Kombination Werkvertrag mit Arbeitnehmerüberlassung 16
Zusammenfassung Institutionelle Fragmentierung der Tarifpolitik Definition von Standards: a) Zunehmende Regelambiguität, -ambivalenz, -diversität, Regelkonflikt und Regellosigkeit b) Überschneidung mit weißen Flecken : Tariflose Parallelwelten in einem Wertschöpfungszusammenhang mit ansonsten tarifgebundenen Unternehmen c) Absenkung des Entgeltniveaus durch parallele Lohnlinien Abnehmende Regulationsfähigkeit der Sozialpartner: a) Lücke zwischen Anwendung etablierter Verhandlungspraktiken und Wirkungen b) Lücke zwischen formaler Regelfindung und durchsetzung c) Verbandskonkurrenz 17
Diskussion Institutionelle Wandel: Jenseits einzelner Skandalphänomene in Bezug auf das Entgeltniveau liegt in Regelkonflikt und Regeldiversität eine besondere Sprengkraft Triangularisierung ( Der Kunde wird Tarifpartei ): Systematischer Charakter mehrerer Lohnlinien in tertia(l)isierten Wertschöpfungsnetzwerken bislang weder theoretisch noch praktisch hinreichend erfasst Zunahme der Verbandskonkurrenz: (Status-)Konkurrenz zwischen den Gewerkschaften (ggf. Arbeitgeberverbänden) bekommt zusätzliches Gewicht Konflikte zwischen betrieblicher und überbetrieblicher Ebene Fehlen von Arbeitgeberverbänden: Konstruktion einer Branchenidentität als Grundlage für Interessenaggregation brüchig Bedarf an Gesetzgebung: Bestehendes gesetzliches Regelwerk für netzwerkförmige Reorganisation nicht angemessen: Selbst bei starker Mitbestimmung (Hoher Organisationsgrad, etc.) nur eingeschränkte Handlungsfähigkeit und -bereitschaft der Betriebs- bzw. Tarifparteien 18