NATION UND SPRACHE. Elisabeth Simon



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Transkript:

NATION UND SPRACHE Elisabeth Simon "Nation und Sprache" 1 nennt de Gardt das von ihm herausgegebene Buch, das 1. die historische Dimension des Deutschen, 2. das Deutsche in der Gegenwart und 3. die Sprachen Europas und der Welt diskutiert. Sprache ist nicht nur ein Gegenstand der Germanistik und Literaturwissenschaft sondern auch der Geschichte, Linguistik, Theologie und zunehmend der Medizin und Biochemie. Seitdem man weiß, daß unser Sprachvermögen nicht in einem Zentrum im Gehirn angesiedelt ist - so die Meinung viele Jahre lang -, sondern sich auf das gesamte Gehirn verteilt, hat die Neurologie neue Räume der Forschung erschlossen. Man weiß heute auch, daß die Sprache wie die Musik von emotionalen Verbindungen lebt. Dies bescheinigt der modernen, intellektuell bestimmten, abstrakten Musik der 60er und 70er Jahre z.b. keine guten Aussichten auf die Liebe ihrer Zuhörer. Damit erhält auch der Aufsatz von Heinrich von Kleist: "Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden" eine ganz neue Aktualität. 2 Diese Linie ließ sich fortsetzen von Luther bis zu Heidegger und dem Philosophen George Steiner, der sich mit den philosophischen und psychologischen Räumen der Sprache in unserem Dasein auseinandersetzt. 3 Dieses könnte uns hier Tage beschäftigen, soll aber nicht der Gegenstand dieser kurzen Ausführungen sein, die die Aufmerksamkeit auf das Jahr der Sprachen lenken soll, das die EU in diesem Jahr ausgerufen hat und das auch neue Formen der Sprachvermittlung für ein zukünftiges Europa in den Raum stellt. l. Sprache als Instrument nationaler Identifikation Nation soll uns ebenfalls nur am Rande beschäftigen, obwohl dieses Thema - auch durch die Entwicklung in Mittel und Osteuropa, ganz besonders in Südosteuropa wie in Rumänien - heute von großer Wichtigkeit und Aktualität ist, da Traditionen und kulturelle Entwürfe von langer Dauer sichtbar werden und das zukünftige politische Bild Europas bestimmen könnten. Dieses könnte die Entwicklung eines Europas bedingen, das sich wesentlich von dem Bild unterscheidet, was heute für diesen Kontinent in Zukunft entworfen wird. 4 Nationalismus ist vor allem ein historisches Prinzip, das besagt, das politische und nationale Einheiten deckungsgleich sein sollten. Nationalismus als Empfindung - oder Bewegung - läßt sich am besten mit Hilfe dieses Prinzips definieren. Das Nationalgefühl ist die Empfindung von Zorn über die 1 Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. Von Andreas Gardt. Berlin, New York, 2000. 924 S. 2 Heinrich von Kleist: Sämtliche Werke und Briefe. Zweiter Band. Kunst und Weltbetrachtung Hrsg. Von Helmut Sembdner, München 1952, S. 321-327. 3 George Steiner: Langage et science. 4 Heinz Schilling: Nationale Identität und Konfession in der europäischen Neuzeit, in: Nationale und kulturelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Hrsg. von Bernhard Giesen, Frankfurt a.m. 1991, 577 S. Er weist nach, daß die säkulare Definition moderner Gesellschaften, die darauf achtet, daß politische und soziale Strukturen möglichst autonom bleiben, durch die Ereignisse in Polen, einigen Sowjetrepubliken und ansatzweise in Rumänien in Frage gestellt wird. Kirchen und Glaube können politische Instanzen sein, die wesentlich dazu beitragen, ganze Völker zu gemeinsamen politischen und gesellschaftlichen Handeln zusammenzuführen.

Nation und Sprache Verletzung des Prinzips oder von Befriedigung angesichts seiner Erfüllung, eine nationalistische Bewegung wird durch eine derartige Empfindung angetrieben. 5 Wenn also Karl dem IV., dem Luxenburger und späteren Kaiser des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation von den deutschen Kurfürsten die Stimme in ihrem Gremium wegen mangelnder Deutschkenntnisse versagt wurde, so mögen die wahren politischen Gründe für diese Ablehnung der anderen Fürsten vielleicht andere Beweggründe gehabt haben, die uns heute nicht bekannt sind. Es kann aber sein, daß diese nationale Begründung für die Charakterisierung dieses beliebten böhmischen Königs im nachhinein gefunden wurde. Es ist nämlich vielmehr wahrscheinlich, daß die Umgebung des Kaisers als Umgangssprache auch zu dieser Zeit noch Latein sprach. Die Beherrschung der tschechischen Sprache durch diesen Herrscher mag aber ein weiterer Aspekt in der Skala der Beliebtheit dieses Kaisers und böhmischen Königs sein, dessen nationaler Mythos als Errichter der Hungermauer heute noch lebendig ist. 6 Aber auch die Gründung der Universität von Prag mag die Definition als Sprachnation gefördert haben, da hier - wie auch an der neu gegründeten Universität von Padua die Universitätskörperschaften als Sprachnationen definiert wurden. 7 Diese Beobachtung um den Kaiser Karl IV. soll aber andeuten, daß Sprache zunehmend zur nationalen Identifikation beitrug. So waren die Deutschen seit dem Ende des 11. Jahrhunderts eine prinzipiell durch ihre Sprache definierte Nation 8 mit beträchtlichen regionalen Unterschieden, wie man heute noch weiß. Diese deutsche Nation war als politische Größe nur indirekt begreifbar und berief sich auf ein Imperium, das eschatologische Züge aufwies und daß nicht nur die deutschen Lande sondern auch die spanischen Stände Karls V umfaßte. Von dort führt die Linie zu den Reden von Johann Gottlieb Fichte 9 und der Definition der Kulturnation. Das Aufkommen eines patriotisch motivierten Nationalsprachenbewußtseins findet seine ersten Gründe in den veränderten sprachkulturellen Rahmenbedingungen. Im Zuge der frühneuzeitlichen Territorialisierung entstehen neue politische Ordnung- und Gemeinschaftsvorstellungen. Der Sinn für den Staat als Gebietskörperschaft ist endgültig erwacht. Staatliche Einheiten sind jetzt im politischen Bewußtsein stärker als territoriale Manifestationen mit allen ihren Begleitkomponenten repräsentiert als feudalrechtliche personale Lehnsverbände. 10 Wir können hier nur einige generelle Beobachtungen aufzeigen, ohne auf dieses komplexe Gebilde wie Territorialisierung und Herausbildung des frühneuzeitlichen Staates, der dann zu der Konstitution der Nationalstaaten führte, einzugehen. Wenn aber die Sprache als Identität stiftendes Element einer Kulturnation anzusehen ist, so führten die Bildung der Nationalstaaten und die kulturellen Wurzeln der jeweiligen Regionalstaaten in fast allen Ländern Europas zu Konflikten, die heute noch sichtbar und nicht überwunden sind. Diese Konflikte beeinflussen das kulturelle und soziale Leben besonders, wenn sich eine Sprachgruppe auch sozial von der anderen absetzt, Belgien und auch Kanada sind gute Beispiele dafür. 5 Ernest Gellner: Nationalismus und Moderne. Hamburg 1995, S. 8. 6 Mythen der Nationen. Ein europäisches Panorama. Hrsg. von Monika Flacke. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums unter der Schirmherrschaft von Bundeskanzler Dr. Helmuth Kohl. Begleitband zur Ausstellung vom 20. März 1998 bis 9. Juni 1998. Emmanuel Dité, Der Bau der Hungermauer zur Zeit Karls IV. vor 1891, S. 393. 7 Heinz Thomas: Sprache und Nation, in: Nation und Sprache, a.a.o., S. 91. 8 Heinz Tomas: Sprache und Nation, a.a.o., S. 95. 9 Johann Gottlieb Fichte: Reden an die Deutsche Nation. Mit einer Einleitung von Reinhard Lauth. 5. durchgesehene Auflage. Hamburg 1978, XLI, 268 S. 10 Joachim Knape: Humanismus, Reformation, deutsche Sprache und Nation. In: Nation und Sprache, a.a.o., S. 113. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 447

Elisabeth Simon 2. Muttersprache Fremdsprache Sprachen in Europa Es gab keinen Nationalstaat in Europa, in dem sich Landesgrenzen mit denen der Sprache decken und diese Konflikte haben sich mit der zunehmenden Herausbildung eines gemeinsamen Europas nicht verringert, besonders dort nicht, wo die fremdsprachige Bevölkerungsgrupe die Herrschaft ausübte, wie zum Beispiel in Großbritannien. Die Muttersprache muß also nicht die Landessprache sein, wie zum Beispiel in Frankreich und Spanien. Die Staatssprache kann aber auch eine Fremdsprache sein, wie jahrelang in Moldawien, in dem Russisch die Staatssprache war, bis es nach dem Fall der kommunistischen Mauer durch Rumänisch abgelöst wurde. Die Muttersprache mag wohl ein Instrument nationaler Identifikation sein, ist aber in diesen Fällen nicht deckungsgleich mit der Sprache des Vaterlandes. 11 Dieses auf Sprache gegründete Nationalgefühl war den europäischen Völkern bis 1500 weitgehend fremd. 12 Mit der Ausbildung des Territorialstaats wurde die Sprache aber zur kulturellen Identifikation des sich im 18. Jahrhundert ausbildenden Nationalstaates und damit zu einem politischen Konfliktpotential bis zur Moderne und in unsere Zeit. Man muß sich vor Augen halten, daß die Waliser trotz gegenteiliger Gesetzgebung und starker sozialer und politischer Benachteiligung ihre Sprache bewahrten, wobei zu untersuchen wäre, wieweit das durch die Bindung der Sprache mit dem religiösen Bereich bedingt war. Obwohl in den letzten Jahren ein Wechsel zum Englischen beobachtet werden kann, ist das Walisische als Merkmal einer nationalen Identität nicht ersetzbar. So kommt es zu der merkwürdigen Situation, daß das Nationalgefühl der Waliser sehr stark durch eine Sprache bestimmt wird, die aber nur 18% der Bevölkerung beherrschen 13. Ähnlich verhält es sich mit dem Schottischen, das in den letzten Jahren, bedingt durch die stärkere Hinwendung zur schottischen Geschichte und Kultur, ein Revival erlebt. Schottland hat (wie wir es auch im Falle von Walisisch gesehen haben) eine dominierende Sprache: Englisch. Damit ist eine einheimische zweisprachige Basis mit Statusproblemen entstatanden. Es gibt auch etablierte Sprachen, die von den Einwanderern gesprochen werden. Bei allen diesen Sprachen treten angesichts der gegenwärtigen Phase der legalen und politischen Veränderungen Probleme auf, die die Stellung und Präsenz betreffen. Für Schottland begann am 6. Mai 1999 mit der Loslösung der parlamentarischen Aufgaben vom Westminster Parlament in London und der Einrichtung eines schottischen Parlaments in Edinburgh in Holyrood eine neue Ära. 14 Nornisch, Kornisch, Manisch und Gälisch sind andere Sprachen Großbritanniens, die zum Teil heute wiederbelebt werden, aber keinen Platz mehr als gesprochene Muttersprachen haben. Der Erhalt dieser Sprachen und ihrer Texte, ihre Übersetzungen und Überlieferungen gehören zu den großen ungelösten Fragen der europäischen Kultur. Diese Probleme erfordern eine neue und intensive Zusammenarbeit zwischen Forschung und Lehre, Archiv, Verlag und Bibliothek. Mit einem Aufsehen erregenden Buch hat Karl Markus Gauß auf die sterbenden Europäer aufmerksam gemacht. Seine Reisen zu den Sorben, Aromunen, Gottscheer Deutschen, Arbereshen und Sepharden von Sarajevo lehren uns das Staunen über den Reichtum 11 Vergleiche dazu: Gotthard Lerchner: Nation und Sprache im Spannungsfeld zwischen Sprachwissenschaft und Politik in der Bundesrepublik und der DDR bis 1989, in: Nation und Sprache, a.a.o., S. 297. 12 Manfred Görlach: Nation und Sprache: Das Englische, in: Nation und Sprache, a.a.o., S. 614. 13 Manfred Görlach, a.a.o., S. 617. 14 Wendy Axford: Die englischen und die schottischen Sprachen im Kontext der Sprachen von Großbritannien. In: Literatur und Sprache. Ausländische Literatur und Spracherwerb durch Bibliotheken. Literature and Language. Foreign Literature and Language Skills by and with Libraries. Proceedings des internationalen Seminars 1999 /of the international seminar 1999., deutsch/englisch, S. 53-75. 448 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003

Nation und Sprache Europas. Diesen Reichtum können wir uns erhalten - vergessene Stämme und Kulturen, die bei der Bildung der Nationalstaaten an den Rand gedrängt wurden. 15 Ein anderes Beispiel: Sprachen in Spanien zeigen eine Entwicklung, die im Vergleich mit Großbritannien in eine andere Richtung läuft. Spanien ist ein mehrsprachiges Land, in dem sich im Laufe der Zeit das Kastilische als Staatssprache durchgesetzt hat. Das Katalanische war dem gegenüber genau so weit verbreitet, erstreckte sich aber über zwei Staaten: Spanien und Frankreich (Süden). Das Verhältnis von Sprache und Nation ist heute ein ungelöstes Problem in Spanien, was teilweise die Attentate der ETA deutlich machen. Das Spanische (Kastilische) ist nur als Amts- und Staatssprache statuiert, wobei eine gewisse Distanz allen denjenigen Spaniern erlaubt ist, die andere Muttersprachen sprechen. Tatsächlich erklärt das Autonomiestatut (Generalitat de Catalunya, 1979) das Katalanische zur eigenen und zur offiziellen Sprache, das wiederum Kastilisch genannte Spanisch nur zur kooffiziellen Sprache der Autonomen Gemeinschaft. Es entstehen die geradezu paradoxe Situation, daß die staatlich unabhängige Nation über eine Sprache verfügt, welche ihre Angehörigen nur kennen aber nicht sprechen müssen, während die nur autonome Nationalität eine ihr eigene Sprache besitzt. Insofern stehen heute in Spanien Nationalität und Sprache in einem weit engeren Zusammenhang als Nation und Sprache. 16 Wir finden also in Spanien die Situation, daß in einem gesamtstaatlichen Zusammenhang die Vertreter der verschiedenen Regionen in ihrer Muttersprache sprachen: Katalanisch, Galizisch und Baskisch, wobei zu erwähnen ist, daß Baskisch nicht zu den indogermanischen Sprachen gehört. Wie schon kurz angedeutet, verbinden sich die Unterdrückung einer Sprache, mag das nun politisch gewollt sein oder sich aus den kulturellen und sozialen Rahmenbedingungen ergeben, mit nationalen und oft sozialen Ressentiments. Dieses war in Walisien der Fall, als den Kindern untersagt wurde, walisisch zu sprechen und das Land nicht die gewünschte Zweisprachigkeit erhielt. Der soziale und politische Machtfaktor verbindet sich dann mit der Landessprache 17, die nicht die Muttersprache ist und damit für zusätzlichen Konfliktstoff sorgt. Das vorliegende Buch Nation und Sprache von de Gruyter führt hierzu als Beispiel aus Mitteleuropa das Tschechische und Slovakische an. Es ist bezeichnend, daß für alle Staaten, in denen der Nationalismus eine besondere Schubkraft in den letzten Jahren entwickelte, generell gilt, daß die Muttersprache durch die vorherrschende Landes- oder Staatssprache sehr oft das Russische überdeckt wurde: nämlich Moldawien, die Ukraine und Weißrußland. Die slovakische Republik hat sich in vielerlei Hinsicht durch den tschechischen Bruder unterdrückt gefühlt, was nach 1989 zur Betonung der eigenen Sprache führte. Dieses ist ein besonders krasser Fall einer nationalen Überhöhung des Sprachgebrauchs, weil beide Sprachen sich wirklich sehr ähneln, so daß Vertreter beider Sprachen miteinander kommunizieren können. Wenn wir Europa verlassen, so sei hier Kasachstan genannt, dessen nationale Erweckung zu einer besonders rigiden Anwendung der Muttersprache Kasachisch führte, die - darin dem Walisischen vergleichbar - nur von einem Bruchteil der Bevölkerung korrekt gesprochen wird, was große Probleme für die Erziehung und Ausbildung mit sich brachte. 18 Nun mag man mei- 15 Karl Markus Gauß: Die sterbenden Europäer. Unterwegs zu den Sorben, Aromunen, Gottscheer Deutschen, Arbereshen und den Sepharden von Zarajevo. Wien 2001, 240 S. 16 Franz Lebsanft: Nation und Sprache: Das Spanische, in: Nation und Sprache, a.a.o., S. 636. 17 Tilmann Berger: Nation und Sprache: das Tschechische und das Slovakische, in: Nation und Sprache, a.a.o., S. 825-864. 18 Die Bibliothekarische Auslandsstelle am Deutschen Bibliotheksinstitut führte im Jahr 1997 ein Seminar zum Thema Bibliotheksmanagement durch. Der Entschluß, dieses Seminar in Russisch zu halten, basierte auf praktischen Überlegungen, das Seminar nicht durch zusätzliche Sprachprobleme zu belasten. Trotzdem welchselte die Direktorin der Na- ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 449

Elisabeth Simon nen, daß die Länder außerhalb Europas bei dieser Diskussion nur mittelbar beteiligt sind. Dies ist ein Irrtum, denn sowohl innerhalb Europas durch die laufende Einwanderung, die die europäischen Staaten zu multikulturellen umwandeln wird, als auch außerhalb Europas durch die zunehmende Internationalisierung und Gobalisierung werden Anwendung und Beherrschung von Fremdsprachen auch das Gesicht von Europa bestimmen. 3. Sprachunterricht Sprache als Kommunikationsmittel Ausländische Literatur. Konzepte des Lebenslangen Lernens und die Rolle von Bibliotheken Das Erlernen der Muttersprache geht einher mit dem Erwerb der Fähigkeit, sprachliche Äußerungen zu verstehen und situationsgerecht anzuwenden [ ] dem Erwerb eines Systems von Benennungen und Begriffen, die die Umwelt erfassen und gliedern [ ] Dieses steht mit der kognitiven Entwicklung in enger Wechselbeziehung. 19 Hier kann auch nicht weiter auf die schichtenspezifischen Unterschiede des Spracherwerbs eingegangen werden, die der generellen Forderung nach Dreisprachigkeit des zukünftigen europäischen Bürgers mindestens ein Fragezeichen entgegen setzen. Der Spracherwerb und die Sprachbarrieren determinieren heute nicht nur den Umgang mit der sogenannten information literacy 20, sondern sie bestimmen auch weitgehend den Erfolg oder Mißerfolg beim Erlernen von Fremdsprachen. Im Humanismus waren die beiden Sprachen funktional verschieden: Der Laie sprach Deutsch, der Gelehrte Lateinisch und in den meisten Fällen nicht nur dies, sondern auch Griechisch und Hebräisch. Dieser internationale Sprachenkanon garantierte auch die internationale Verständigung mit dem europäischen Wissenstausch und Briefwechsel, der uns heute noch erstaunt. Diese zwei Sprachkulturen, z.b. der lateinischen und der deutschen Sprache, bilden auch schichtenspezifische Sprachenrollen, soziale Strukturen und mit dem ständischen Gefälle verbundene immanente Sprach- und Bildungsbarrieren. 21 Wie stark der Spracherweb in der Kindheit und damit auch das Erlernen von Fremdsprachen von dem sozialen Gefüge der Umwelt determiniert ist, möge jene hübsche Geschichte von dem Pharao unterstreichen, der einem Hirten zwei Kinder zur Aufzucht gab. Diese sollten in einem Raum mit nur Ziegen zu ihrer Nahrung aufwachsen. Keiner durfte mit ihnen sprechen, weil der Pharao wissen wollte, was für ein Wort die Kinder wohl zuerst aussprechen würden, wenn sie das Alter des Lallens hinter sich hätten. Nachdem man das ins Werk gesetzt hatte, öffnete man die Tür, wobei die Kinder ihnen das Wort bekos (ähnliche dem Meckern der Ziegen) entgegen riefen und die Hände entgegen streckten. Nachdem der Pharao erforscht hatte, daß dieses Wort tionalbibliothek in ihrer Begrüßung vom Russischen ins Kasachische. Glücklicherweise war die ausgezeichnete Übersetzerin diesem Sprachwechsel gewachsen. So verständlich der Einsatz für die Muttersprache und für die sich neu konstituierende Nation ist, so bedauerlich ist es, wenn dieser zu Status- und Machtdemonstrationen mißbraucht wird. 19 Theodor Lewandowski: Linguistisches Wörterbuch, Bd. 3, Heidelberg 1976, S. 699f: Spracherwerb. 20 Myoung Wilson: In Daten ertrunken und durstig nach Wissen. Wie information literacy gelehrt wird. Die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, in: Informationsversorgung Politik und Strategie/Information Provision, Politics and Strategy. Proceedings des internationalen Seminars /of the international seminar 1998 der Bibliothekarischen Auslandsstelle am Deutschen Bibliotheksinstitut 1998, S. 414-445. 21 Jochim Knape: Humanismus, Reformation, deutsche Sprache und Nation, in: Nation und Sprache, a.a.o., S. 107. 450 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003

Nation und Sprache Brot bei den Phrygern bedeutete, räumte man den Phrygern den ersten Platz als ältestes Volk ein. 22 Man wußte damals noch nicht, daß die ersten Sprachübungen der Kinder auf Nachahmung beruhen und das beginnend mit den ersten Lebenswochen. Spracherwerb und Sprachbarrieren bestimmen weitgehend das intellektuelle und soziale Schicksal jedes Einzelnen, wie es heute mit der wieder aufgenommenen Diskussion um Integration und Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit auch als Problem in der öffentlichen Diskussion neu thematisiert wird. In fast allen Staaten ist der Erwerb der Staatsangehörigkeit mit dem Erlernen der Landessprache verknüpft (so müssen z.b. Deutsche, die in die Schweiz einwandern eine Prüfung in Schweizerdeutsch machen). Leider sind in der Bundesrepublik bis jetzt keine bindenden Standards erarbeitet worden. Die Beherrschung der Landessprache ist aber notwendig, will man keine Unterklasse schaffen, die von dem sozialen und kulturellen Leben eines Staates ausgeschlossen ist. 23 In Europa erfolgte die Identifizierung mit der eigenen Nationalsprache über die Ablösung des Lateinischen und Französischen, vor allem in öffentlichen und wissenschaftlichen Texten. 24 Heute läßt sich gerade bei der Veröffentlichung wissenschaftlicher Texte wiederum eine Veränderung beobachten. Diese erscheinen meist in Englisch. Deutsche Wissenschaftler veröffentlichen 50-30% ihrer Texte generell in Englisch, vorherrschend auf den Gebieten der Naturwissenschaft und Wirtschaft. Aber auch in den Geisteswissenschaften wird das Englische zur vorherrschenden Wissenschaftssprache. Das mag viele Gründe haben, einer liegt bestimmt in dem Fortschritt der Informationstechnologie in den USA, so daß die Präsenz in weltweit angebotenen Datenbanken und auch im Netz sehr oft einen Text in Englisch oder Amerikanisch erfordert. 25 Im 19. Jahrhundert gab es keinen Zweifel darüber, daß die Sprache der Briten ein Herrschaftsinstrument weltweit wurde, ob sie nun durch Kaufleute, Missionare, Verwalter oder die Armee vertreten wurde. 26 Das Englische breitete sich durch die Kolonialmacht Großbritanniens und die Politik des Dominiums weltweit aus, so daß sie auch außerhalb des angelsächsischen Raumes - USA, Australien Kanada - zur Staatssprache wurde, so z.b. in Singapur oder zur vorherrschenden Sprache der Oberschicht, der Kaufleute, der Wirtschaft und der Banken wurde. Englisch ist heute die Lingua Franca vieler Länder und Gebiete. Der Vergleich der Sprachen auf Grund einer hohen Anzahl von Menschen, die diese Sprache sprechen, verstellt den Blick. Sowohl Chinesisch als auch Spanisch werden von einer größeren Anzahl von Menschen gesprochen als Englisch. Deutsch ist die auf dem europäischen Kontinent am meisten verbreitete Sprache. Trotzdem erreichen diese Sprachen keine dem Englischen vergleichbare kulturelle und wirtschaftliche Stellung. 22 Herodot: Historien. Deutsche Gesamtausgabe. Übersetzt von A. Horneffer. Neu hrsg. und erl. von H. W. Haussig mit einer Einl. von W. F. Otto. 3. Aufl. Stuttgart 1963, S. 99f. 23 Großbritannien und die angelsächsischen Länder haben zu diesem Problem ein entspanntes Verhältnis. Das zeigt sich zum Beispiel auch daran, daß der British Concil alle offiziellen Besucher, die auf Grund des Kulturabkommens nach England eingeladen wurden, einer informellen Sprachüberprüfung unterzogen wurden. 24 Manfred Görlach, a.a.o., S. 615. 25 Die erste Veröffentlichung meiner Tochter Ruth Simon erfolgte in den USA im Rahmen einer renommierten historischen Zeitschrift der University of Virginia, die mit Hilfe eines von der Bundesregierung geförderten Projekts elektronisch angeboten wird. 26 Vgl. dazu Görlach, a.a.o., S. 616. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 451

Elisabeth Simon 4. Die Generaldirektion Bildung und Kultur der Europäischen Kommission. Projekte und Möglichkeiten Europa hat zur Zeit noch keine Identitätskraft für seine Bewohner entwickelt. Die Sprache als Identitätsfaktor, wie er mit allen Problemen in den Staaten und Regionen Europas wirksam wurde, ist für Europa insgesamt nicht anwendbar. Desto wichtiger ist es, die Möglichkeiten der Kommunikation über die Sprache zwischen den Völkern zu stärken, denn über die Sprache finden die einzelnen Nationen einen stärkeren Zugang zu dem Nachbarn, so daß die Kommunikation zwischen den Ländern Europas den Dialog und zwar nicht nur sprachlich sondern auch kulturell fördert. Dadurch könnte es möglich sein, daß dem Wirtschaftsraum Europa der Staatenbund Europa folgt. Aus diesem Grund wurde das von der EU organisierte Jahr der Sprachen einhellig begrüßt. 27 Das Vorhaben versucht, nicht nur bestimmte Projekte anzustoßen, sondern auch jedermann anzusprechen: Jeder kann Sprachen lernen, ohne Rücksicht auf Alter Herkunft oder Beruf und jeder kann von den Vorteilen profitieren. Mit modernen Methoden macht das Lernen sogar Spaß. Europäische Kommission und Europarat haben dazu einen Leitfaden herausgegeben, Sprachenlernen für alle, und ein Logo entwickelt, eine Art Eidechse. Diese Hinwendung zu einem allgemeinen Publikum wird ausdrücklich in dem Informationstext betont. Die zentrale Botschaft lautet wir folgt: Fremdsprachen lernen öffnet die Türen und jeder kann es. Das ist sehr nützlich und gut, fragt sich nur, wie viele Menschen damit wirklich erreicht werden, denn diese Texte sind alle nur durch das Internet abrufbar. Den ersten Ausschreibungstext hatte ich während eines Seminars in Cluj zum Anlaß genommen, mit Studenten ein europäisches Projekt ansatzweise zu entwickeln. 28 Diese Initiative umfaßte nur Länder der EU, so daß sich z.b. die Untersuchungen auf die westlichen Sprachen konzentrieren. Auch der Leitfaden für die Antragsstellung zeigt dies ganz deutlich. Antragsstellung und Information laufen über nationale Koordinierungsstellen und diese sind nur in den Ländern der EU eingerichtet. Trotz dieser Enttäuschung hätte man sich angesichts der sich entwickelnden Europäischen Gemeinschaft mit der Osterweiterung doch die Einbeziehung zumindest einiger Länder Mittel- und Osteuropas gewünscht ist der veröffentlichte Eurobarometer Report 54 für unser Thema wichtig. Neben Informationen, die wir schon kennen, daß z.b. die Muttersprache oft nicht identisch mit der Nationalsprache ist, daß man als dritte Fremdsprache der EU-Bürger das Deutsche betrachtet sind besonders die Befragungen zum Thema Fremdsprachenerwerb wichtig und interessant. Bevor einige Vergleichsdaten zum Spracherwerb in europäischen Ländern aufgeführt werden, sind zwei Beobachtungen für zukünftiges Handeln wichtig: Die erste betrifft Deutschland. Der Prozentsatz derjenigen, die Spracherwerb nicht für wichtig halten, ist in den neuen Bundesländern besonders hoch, nämlich 39% im Vergleich dazu, halten generell 74 % der Befragten Fremdsprachenerwerb für sehr wichtig. Auf der anderen Seite glaubt der überwiegende Teil der Bevölkerung in Ostdeutschland, daß Spracherwerb für die berufliche Ausbildung und das berufliche Auskommen der Jugendlichen wichtig sind, nämlich 100% aller Eltern. Dieses diffuse Bild könnte nicht so sehr viel über die Einschätzung des Fremdsprachenerwerbes aussagen als vielmehr der Ausdruck einer allgemeinen negativen depressiven Haltung 27 http://europa.eu.int/comm/education/languages/actions/year2001htm 28 siehe Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft vom 8.4.2000. 452 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003

Nation und Sprache der Menschen in den neuen Bundesländern Deutschlands gegenüber der gegenwärtigen Situation sein. Das Ergebnis der Befragung, wann und wie man Sprachen lernt, ist für die zukünftige Entwicklung der Didaktik besonders wichtig. Ein großer Teil der Befragten gab an, daß die Zeit zum Erlernen einer Sprache fehlt. Das ist realistisch und legt offen dar, daß die Anstrengung und die Zeit zum Erwerb einer Fremdsprache sehr oft falsch eingeschätzt werden. Das mag auch erklären, warum nach 3 bis 6 Monaten die meisten Sprachenschüler die Fremdsprachenschule verlassen. Es bleiben in den Kursen meist nicht mehr als 10 % der Studenten übrig, die sich am Anfang angemeldet hatten. Weniger häufig wurde angegeben, daß es an Gelegenheiten fehlte, was darauf schließen läßt, daß das Angebot zum Erwerb einer Fremdsprache recht gut ist. Die meisten Befragten gaben an, daß sie die Sprache bei einem Aufenthalt im Lande erlernen wollten. Die bessere Verständigung für Ferien im Lande wurde häufig als Grund für den Erwerb einer Fremdsprache angegeben ein Beweis dafür, daß der viel gescholtene Tourismus sehr positive kulturelle Auswirkungen haben kann. Dieses Ergebnis gibt den Veranstaltern von Sprachreisen Recht. 29 So bietet z.b. die Carl Duisberg Gesellschaft 30 Sprachreisen für ältere Menschen an (ab 50 Jahren). Dies führt uns aber zum dritten Hindernis beim Erlernen einer Sprache - die Kosten. Dies trifft auch auf das erwähnte Angebot der Carl Duisberg Gesesllschaft zu. Generell läßt sich sagen, daß der Wunsch zum Spracherwerb eine Schule zu besuchen bei der Allgemeinheit weniger stark ausgeprägt ist als angenommen. Die Gründe sind, zusammengefaßt: Mangel an Zeit und Geld und ein fehlendes, auf die individuellen Bedürfnisse zugeschnittenes Programm. 31 Die bis zum 9. Januar dieses Jahres ausgewählten Projekte der EU zum Jahr der Sprachen unterstützen finanziell mehr Sprachfestivals und dienen dem Marketing, als daß sie ihre Aufmerksamkeit auf Strategien richten, wie der Spracherwerb in der EU langfristig zu fördern ist. 32 Der aufgezeigte Trend zum Spracherwerb zusammen mit der Forderung, daß alle Sprachen in der EU vertreten sind und daß jeder Bürger der EU neben der Muttersprache und der zweiten perfekt beherrschten Fremdsprache eine dritte sprechen soll, erfordert neue Wege und neue Möglichkeiten der Sprachvermittlung und des Spracherwerbs in einer engen Zusasmmenarbeit zwischen verschiedenen Institutionen: Schule, Universität, Sprachenschulen und Bibliotheken, die sich verstärkt in das System des Lebenslangen Lernens einbringen müssten. Von dem Ausspruch: As for actions in the field of youth, sport and civil society they will enhance social cohesion in Europe and bring citizens to the forefront of encouraging active citizenship among Europeans. And promoting awareness of Europe s rich culture heritage will help to foster a 29 In Berlin und anderen Städten findet alle zwei Jahre eine Messe von Pro Lingua statt, in der Sprachreisen und Sprachschulen ihre Produkte anbieten. Neben dieser Messe findet auch ein Kulturprogramm statt mit Vorträgen und Diskussionen, an denen sich die Botschaften und Konsulate wie auch die ausländischen Kulturinstitutionen beteiligen. 30 Adresse: 50676 Köln, Weyerstr. 79-83. 31 INRA International Research Associates. Eurobarometer 54. Special. Les Européens et les langues. Rapport redigé par INRA (Europe) European Coordination Office S.A. pour la Direction Générale de l Education de la Culture, geré et organisé par la Direction Générale de L Education et de la Culture Unité Centre pour le citoyen. Analyse de l opinion publique, Fev. 2001, 55 S. mit Anhang. http://europa.eu.int/comm/education/lanugues/call/call/htm 32 European Year of Languages 2001, list of Projects selected for Co-Financing under Call for Proposayls Nr. DG EAC 66/00 publsihed on 8 September 2000 /these are the first group of Proejcts to be selected. Projects may be sumbitted for the second and final deadline until 15 febr.) Project organiser: Gillian McLaughlin Tel. 00322296 1172 Olga Snoeks 003222996642. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 453

Elisabeth Simon truly European identity" 33 sind wir noch sehr weit entfernt. Das Jahr der Sprachen hat aber gezeigt, daß die mangelnde europäische Identität und Kohäsion Sprengstoff für die Europäische Gemeinschaft werden können. Dies wird um so gravierender, wenn nicht die reichen Kulturen Mitteleuropas in den europäischen Dialog einbezogen werden. Dies kann heute geschehen. Die Digitalisierung des kulturellen Erbes 34 der einzelnen Länder und der Einsatz des e-learning 35 in das System des Lebenslangen Lernens sind dafür. Dies erfordert eine Vernetzung der Anbieter. Spracherwerb wird - in den neuen Berufs- und Lebenswelten - zu einem zunehmend individualisierten Prozeß. Es müssen Schnittstellen neu definiert und Partnerschaften gefunden werden, damit Spracherwerb in Europa zu besserer Kommunikation, Öffnung der Nationen und schließlich zu einer Köhäsion der Bürger dieses Kontinents führen kann. * * * L i t e r a t u r : 1. Anderson, Benedict: Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts. Aus dem Englischen (Imagined Communities) von Benedikt Burkard und Christoph Münz. Erweiterte Ausgabe. Berlin: Ullstein 1996. 252 S. 2. Boeckenfoerde, Ernst-Wolfgang: Staat, Nation, Europa. Studien zur Staatslehre, Verfassungstheorie und Rechtsphilosophie. 1. Aufl. Frankfurt a.m. Suhrkamp 1999. 290 S. (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 1419). 3. Bourdieu, Pierre: Rede und Antwort. Aus dem Franz. (Choses dites) übers. von Bernd Schwibs. l. Aufl. Frankfurt a.m.: Suhrkamp 1992. 236 S. 4. Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. (Aus dem Franz.: Le sens practique) übersetzt von Günter Seib. 3. Aufl. Frankfurt a.m: Suhrkamp 1999. 503 S. 5. Foucault, Michel: les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines. Paris: Gallimard 1966. 398 S. 6. Gauger, Jörg Dieter und Justin Stagl: Staatsrepräsentation. Berlin: Dietrich Reimer 1992. 251 S. (Schriften zur Kultursoziologie. Hrsg. von Justin Stagl. Bd. 12). 7. Gellner, Ernest: Nationalismus und Moderne. Aus dem Englischen (Nations and Nationalism) von Meino Büning. l. Aufl. Hamburg: rotbuch Verlag 1995. 214 S. 8. Herodot: Historien. Deutsche Gesamtausgabe. Übersetzt von A. Horneffer. Neu hrsg. und erl.von H.We. Haussig. Mit e. Einf. von W.F. Otto 3. Auflage mit 4 Tafeln und 2 Ktn. Stuttgart: Kröner 1963. XXVIII, 792 S. 9. Informationsversorgung. Politik und Strategie. Information Provision- Politics and Strategy. Proceedings des internationalen Seminars 1998. Deutsch/Englisch. Berlin: Deutsches Bibliotheksinstitut 1998. 445 S. 10. Konersmann, Ralf: Kulturphilosophie. 2. Aufl. Leipzig: Reclam 1998. 376 S. 11. Lewandowski, Theodor: Linguistisches Wörterbuch. Bd 1-3. 2. durchgesehene und erw. Aufl. Heidelberg: Quelle & Meyer 1976. 973 S. (Uni Taschenbücher 200, 201, 300). 12. Literatur und Spracher. Ausländische Literatur und Spracherwerb durch Bibliotheken. Literature and Language. Foreign Literature and Language Skills by and with libraries. Proceedings des internationalen Seminars 1999. Deutsch/Englisch Berlin: Deutsches Bibliotheksinstitut 1999. 307 S. 33 Europea Ecuation and Culture at a glance published bi-monthly by the Directorate for Edu-cation and Culture of tghe European Community. http.//europa.euint/comm/d...n_culture/publ/news/01/newsletter_en.htm 34 e-culture. A newsletter on cultural content and digital heritage. http://www.cordis.lu/ist/ka3/digicult/ennewsletter.htm 35 elearning. What s New in elearning. May 2001 http://europa.eu.int/comm/education/elearning/what.htm 454 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003

Nation und Sprache 13. Metzlers Lexikon der Sprache. Hrsg. von Helmut Glück. Stuttgart, Weimar: Metzler 1993. XX, 710 S. 14. Mythen der Nationen. Ein Europäisches Panorama. hrsg. von Monika Flacke. Eine Ausstellung des Deutschen Historischen Museums unter der Schirmherrschaft von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl. Begleitband zur Ausstellung vom 20. März 1998 bis 15. 9. Juni 1998. Bonn: DHM Deutsches Historisches Museum. 600 S. 16. Nation und Sprache. Die Diskussion ihres Verhältnisses in Geschichte und Gegenwart. Hrsg. von Andreas Gardt. Berlin, New York: de Gruyter 2000. 924 S. 17. Nationale und kultruelle Identität. Studien zur Entwicklung des kollektiven Bewußtseins in der Neuzeit. Hrsg. von Bernhard Giese. 2. Aufl.Frankfurt a.m. Suhrkamp. 1991, 577 S. Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft. 940. 18. Niethammer, Lutz: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer umheimlichen Konjunktur. Reinbek bei Hamburg: rowohlts enzyklopädie im Rowohlt Taschenbuch Verlag. 2000. 679 S. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 455

AKZENT UND RHYTHMUS IM DEUTSCHEN UND RUMÄNISCHEN Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten Maria Ileana Moise 1. Allgemeines Akzent und Rhythmus sind für die suprasegmentalen Charakteristika einer Sprache determinant. Der sprachliche Rhythmus ist ein systemübergreifendes Phänomen, er vereint mehrere Sprachebenen und bringt sie zum Ausdruck. Er konstituiert den typischen Klang einer Sprache und gilt als Hauptdeterminante des fremden Akzents. Der Rhythmus basiert auf Akzenten, Pausen, Tempovariationen und auf dem Tonhöhenverlauf. Der Akzent ist als Basiskomponente des Rhythmus zu betrachten und wird im Folgenden näher analysiert. In der Fachliteratur werden in den meisten Fällen Sprach 1 - und Sprechrhythmus 2 zusammen behandelt, was eine Simplifizierung des Phänomens zur Folge hat. Die Erklärung liegt hauptsächlich darin, dass beim heutigen Stand der Forschung der Rhythmus nicht eindeutig definiert werden konnte. 2. Der Akzent im Deutschen und Rumänischen Die Gegenüberstellung des Akzents im Deutschen und Rumänischen lässt die Schlussfolgerung zu, dass sich die beiden Sprachen unter diesem Aspekt wesentlich unterscheiden. Die Unterschiede betreffen alle Ebenen, d. h. den Wort-, Wortgruppen- und Satzakzent. Für die Konfrontation der beiden Sprachen werden im Folgenden: a. die Relevanz der Funktionen, b. die Mittel der Akzentuierung, c. die Akzentplatzierungsregeln berücksichtigt. 2. 1 Unterschiede in der Wortakzentuierung Hinsichtlich der Funktionen des Wortakzents kann behauptet werden, dass in beiden Sprachen die universal gültigen Leistungen desselben wirksam sind. Ihre Relevanz und Ausprägung ergibt aber zwischen den beiden Sprachen wesentliche Unterschiede: a. die integrierende, gruppenbildende Funktion ist im Deutschen infolge des stark zentralisierenden Charakters des Akzents bedeutend stärker ausgeprägt als im Rumänischen. Un- 1 Damit bezeichne ich in Anlehnung an METZLER (2000), STOCK (1996), PU{CARIU (1994), GLR (1963) den geregelten Wechsel von betonten und unbetonten Silben/Wörtern, die Wiederkehr der rhythmischen Einheiten in zeitlich ungefähr gleichen Intervallen. Der Sprachrhythmus basiert auf dem jeweiligen System, auf der langue und ist ein typologisches Merkmal. Die Einteilung der natürlichen Sprachen (PIKE 1945; ABERCROMBIE 1967) in akzent-, silben- und morenzähende wird in der Rhythmologie auch heute verwendet. 2 Damit bezeichne ich in Anlehnung an STOCK/VELIČKOVA (2002) die zeitliche Organisation des Sprechens, die annähernd symmetrische Anordnung der rhythmischen Einheiten im Sprechfluss, die Umsetzung der sprachspezifischen mentalen Musterhierarchien in Wirklichkeit, die parole. Bei der rhythmischen Gliederung werden Silbenfolgen und Wörter zu Gruppen zusammengefasst, zu Takten, Akzentgruppen, rhythmischen Gruppen, zum Satz, usw. Diese Einheiten sind als ähnlich zu betrachten, wenn sich ihre Silbenzahl geringfügig unterscheidet oder wenn ihre Aufeinanderfolge auf Grund von Tempovariationen und der damit verbundenen segmentalen Reduktionen/Elisionen in ungefähr gleichen Zeitintervallen stattfindet. Außer sprachspezifischen, grammatischen (syntaktischen), semantischen und intonatorischen Aspekten spielen auch Redeweise und Expressivität des Sprechers, sowie Alliteration, Assonanz und Reim eine Rhythmus prägende Rolle.

Akzent und Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten betonte Vor- und Nachakzentsilben werden punktförmig an die Akzentsilbe gebunden, die phonetisch sehr stark signalisiert wird. Im Rumänischen ist wegen des vergleichsweise geringen Kontrasts zwischen betonten und unbetonten Silben die Bindung der inhaltlich und grammatisch zusammengehörenden Wörter loser. b. Die bedeutungsdifferenzierende Funktion ist im Rumänischen stärker wirksam. Der Akzent ist lexikalisch und grammatisch distinktiv, er unterscheidet Wortpaare wie copii vs. co pii, Wortarten, wie barem vs. ba rem, àcele vs. a cele oder Tempora, z. B. plou` vs. plou `. Im Deutschen ist diese Leistung nur marginal relevant, Wortpaare wie Perfekt vs. per fekt, wiederholen vs. wieder holen sind nur im beschränkten Maße vorhanden. Was die intonatorische Realisierung des Wortakzents anbelangt, sind Unterschiede bezüglich des Beitrags der phonetischen Mittel Lautheit, Tonhöhe, Dauer und Klangfarbe zu erkennen. a. Während im Deutschen an der Akzentrealisierung alle intonatorischen Parameter gleich stark beteiligt sind und zusätzlich auch die Spannung der Muskulatur von Relevanz ist, die Akzentsilbe deutlicher signalisiert wird, wird im Rumänischen der Akzent primär auf Grund der Intensität realisiert, Tonhöhe und Dauer wirken eher kompensatorisch. Der Kontrast ist i. d. R. nur apparativ feststellbar. b. Wesentliche Unterschiede betreffen auch den Charakter der Betonung, im Deutschen ist er zentralisierend, im Rumänischen dezentralisierend. Die Unterschiede in der Wortakzentplatzierung betreffen: a. den Einheitscharakter des Wortschatzes. Im Deutschen ist beim jetzigen Stand der Forschung eine Differenzierung zwischen Erbund Fremdwörtern erforderlich. Für die erste Kategorie gilt eine kapochrone Betonung, die Akzentstelle wird morphologisch bestimmt, es ist zwischen betonbaren und unbetonbaren Präfixen zu differenzieren. Die nicht-nativen Wörter werden kodachron betont, dabei das Silbengewicht beachtet; der Akzent liegt auf der letzten, vorletzten oder vorvorletzten Silbe. Die Versuche, einheitliche Regeln für den gesamten Wortschatz zu formulieren, z. B. GIEGERICHs (1983; 1985) das Silbengewicht berücksichtigende metrische Theorie, EISENBERGs (1991) rhythmische Theorie und VENNEMANNs (1991) mehrere phonologische Aspekte in Betracht ziehenden Prinzipien und Normalitätsbeziehungen haben beim jetzigen Stand explorativen Charakter und bedürfen einer Ergänzung und Revision. Nach ihrer Vollendung könnten sie aber für die Konfrontation des Deutschen und Rumänischen als Ausgangsbasis dienen, weil sie den Akzent vom Wortende her bestimmen, und EISENBERG zusätzlich Regularitäten des Wortrhythmus formuliert und mit Beispielen belegt. Im Rumänischen ist der Unterschied zwischen nativen und nicht-nativen Wörtern infolge der kodachronen Betonung vergleichsweise gering. Hier bestehen aber Akzentdubletten, z. B. tempo vs. tem po, ohne bedeutungsdifferenzierenden Charakter, je nach den Regularitäten der jeweiligen Ausgangssprache. b. Unterschiede liegen auch bezüglich der Stabilität der Akzentstelle vor. Während der Wortakzent im Deutschen in der Mehrzahl der Wörter fest ist, hat er im Rumänischen einen freien Charakter, bei Verben der 1. Konjugation auch einen beweglichen, z. B. cânt` vs. cân t`. Die stabile Akzentstelle im Deutschen führt in Simplizia zu einem Trochäus oder Daktylus, der freie und bewegliche Akzent im Rumänischen zu einer größeren Differenziertheit, einem Jambus, Trochäus, Daktylus, Amphibrachys oder einem Peon. c. Unterschiedlich ist auch die Anwendbarkeit der universalen Akzentprinzipien von W. WURZEL (1980). Während im Deutschen alle sechs Prinzipipien: das segmental-phonologische, morphologische, syntaktische, semantische, kommunikative und rhythmische zur Geltung ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 457

Maria Ileana Moise kommen, sind im Rumänischen nur das rhythmische, z. T. das segmental-phonologische in Fremdwörtern, das semantische und das kommunikative Prinzip anwendbar. d. Hinsichtlich der Akzentplatzierung in Derivata fungieren in den beiden Sprachen entgegengesetzte Regeln. Während im Deutschen die Präfixe betont und unbetont auftreten und auch eine doppelte Präfigierung möglich ist, die Suffixe i. d. R. unbetont sind, z. B. anfangen, be obachten, aufbewahren, be mitleiden, die Fertigkeit, werden im Rumänischen die Präfixe i. d. R. nicht betont, die Suffixe hingegen betont, wobei auch eine doppelte Suffigierung möglich ist, z. B. a des face, c` lu], slu garnic. e. Auch bezüglich der Akzentstelle in Komposita wirken in den beiden Sprachen entgegengesetzte Regeln. Im Deutschen liegt der Hauptakzent initial, der Nebenakzent auf der 2. oder 3. Komponente, bei Idiomatisierungen fungieren Sonderregeln, z. B. Straßenbahn,haltestelle oder Alt weiberfastnacht, Lieb frauenmilch; im Rumänischen liegt der Hauptakzent final, der Nebenakzent initial, z. B.,supra vie]uire. f. Unterschiedlich ist auch der Charakter des Nebenakzents. Im Deutschen ist er etymologisch bedingt und fest, hat morphologisch und semantisch distinktiven Charakter, z. B. Sandstein,kunsthalle vs. Sandsteinkunst,halle oder wiederholen vs. wieder holen, im Rumänischen ist er mobil und hat eher rhythmischen Charakter. Außerdem ist die Anzahl der Komposita vergleichsweise zum Deutschen geringer. 2.2 Unterschiede in der Wortgruppen- und Satzakzentuierung Da die Ausmaße der Wortgruppe stark sprechsituativ bedingt sind und der Wortgruppenakzent ein potenzieller Satzakzent ist, wird der Akzent auf diesen zwei Ebenen zusammen behandelt. Die Unterschiede zwischen dem Deutschen und Rumänischen betreffen auch auf dieser Ebene: a. die Relevanz der Funktionen, b. die Mittel der Akzentuierung und den Beitrag der Konstituenten, c. die Akzentuierungsregeln. Die Relevanz der Funktionen steht mit der Betonungsart in Verbindung: a. Der zentralisierende Charakter des Akzents im Deutschen offenbart sich auf dieser Ebene durch die starke Bindung der unbetonten und deakzentuierten Silben/Wörter an den Akzent. Im Rumänischen ist infolge des dezentralisierenden Charakters des Akzents die Verbindung zwischen den Wörtern innerhalb der Wortgruppe loser, was zu mehr Pausen führt. b. Damit im Zusammenhang steht auch die kulminative oder gipfelbildende Leis-tung des Akzents. Im Deutschen ist sie sehr stark ausgeprägt, der Kontrast zwischen betonter und unbetonter Silbe extrem. Im Rumänischen ist der Kontrast gering. c. Die charakteristische Betonungsart führt im Deutschen zu einer perzeptiv prägnanteren Gliederung, während im Rumänischen bei gepflegter reproduzierender Sprache, infolge der loseren Bindung der Wörter, die Tendenz zu kürzeren Wortgruppen besteht. Unterschiede ergeben sich auch hinsichtlich der Akzentuierungsmittel und des Beitrages der Konstituenten: a. In beiden Sprachen sind die universal gültigen Komponenten (Akzent, Pausen, Tonhöhenverlauf, Tempo) bei der Konstituierung der Wortgruppen wirksam. Die Unterschiede betreffen aber die Wirkung derselben, besonders diejenige der Tempovariationen. Im Deutschen ergeben sie extreme Unterschiede zwischen Relaxation und Akzeleration, präakzentuell ist das Sprechtempo schneller, postakzentuell deutlich verlangsamt. Die finale Dehnung ist im Deutschen perzeptiv deutlicher als im Rumänischen. Zwar werden auch im Rumänischen wichtige Informationen langsamer gesprochen, der Kontrast zu den weniger wichtigen ist aber geringer, der Charakter der Pro- und Enklise loser, die segmentale Abschwächung vergleichsweise gerin- 458 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003

Akzent und Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten ger, der Kontrast zwischen dem prä- und postakzentuellen Teil der Wortgruppe weniger auffällig als im Deutschen. Zwar treten im Rumänischen in der ungepflegten Sprache phonetische Wörter auf, z. B. du-su-mi-s-a, usw., wo die Selbständigkeit der einzelnen Formative vom lautlichen Gesichtspunkt aufgegeben wird und die Formativ- und Silbengrenzen verwischt werden, die schwachen Formen im Deutschen, z. B. im (in dem), usw. sind aber auch in der Standardsprache gestattet. b. Die Unterschiede zwischen den beiden Sprachen betreffen weiterhin den Einsatz der phonetischen Mittel. Während im Deutschen, wie im Falle des Wortakzents, bei der Konstituierung des Wortgruppen- und Satzakzents alle Mittel beteiligt sind, kommen im Rumänischen primär die Intensitäts- und Tonhöhenmodifikationen in Frage. Der Akzent ist auch auf dieser Ebene dezentralisierend, während im Deutschen der zentralisierende Charakter stark ausgeprägt ist. c. Unterschiedlich ist auch der Tonhöhenverlauf am Wortgruppen- und Satzende. Zwar bestehen in beiden Sprachen progrediente, terminale und interrogative Verläufe, im Rumänischen ist aber die Amplitüde geringer, was einen tieferen Höhepunkt, bzw. höheren Tiefpunkt des Tonhöhenverlaufs zur Folge hat. Im Deutschen ist das Steigerungs- und Gefälleintervall größer, ADRIAENS (1984) zufolge von zehn Halbtönen. Im Rumänischen erreicht die Melodie am Satzende nicht die Lösungstiefe, was im Deutschen eine Fortsetzung und kein Ende der Äußerung signalisiert. Die Kontraste zwischen den beiden Sprachen betreffen auch die Akzentplatzierungsregeln: a. In beiden Sprachen gilt das Prinzip des Fortschreitens der Information vom Bekannten zum Unbekannten. Unterschiede ergeben sich aber infolge der systembedingten Wortfolge in der jeweiligen Sprache. Während im Rumänischen keine Verbalklammer vorhanden ist und in der sachlich-neutralen Rede das am weitesten rechts befindliche Inhaltswort betont wird (z. B. Attribute, Umstandsbestimmungen, Objekte), liegt im Deutschen der Wortgruppen- und Satzakzent nicht immer final, sondern kann eine leichte Linkstendenz aufweisen, das finite Verb erhält einen Nebenakzent, z. B. Martin Luther wurde im Jahre 1483 in Eisleben als Sohn eines BERGmanns geboren. Martin Luther s-a n`scut în anul 1483 în Eisleben ca fiu de miner. b. Unterschiede ergeben sich auch bezüglich der Regeln zur Betonbarkeit der Formwörter. Prinzipiell gilt für beide Sprachen die Akzentlosigkeit derselben. Die Situationen aber im Rumänischen, wo ein Kontrastakzent gesetzt wird, sind sehr häufig. Außerdem haben die Einsilber einen variablen Status, sie treten mal betont, mal unbetont auf (vgl. SFÎRLEA 1970: 193), z. B. Dac` tu socote[ti c` sunt vinovat`? Dar în ce situa]ie ai pus-o? c. In beiden Sprachen tritt ein rhythmischer Akzent auf, der auf einer Alternation von betonten und unbetonten Silben/Einheiten basiert. Wegen des mobilen Wortakzents, der Akzentdubletten ohne bedeutungsdifferenzierenden Charakter ist aber der rhythmische Akzent im Rumänischen häufiger als im Deutschen, wo er hauptsächlich in Sätzen mit geringem Informationsgehalt auftritt, in denen keine Fokusalternative zur Debatte steht. Untersuchungen von LÖTSCHER (1983: 52) geben für das Deutsche als präferierte Stellen den Satzanfang, den thematischen Teil an, oder das Mittelfeld nach stark hervorgehobenem Element im Vorfeld. Die angeführten systembedingten Unterschiede zwischen dem Deutschen und Rumänischen führen zu potenziellen Fehlern bei rumänischen Deutschlernenden, denen im DaF-Unterricht aus Rumänien Rechnung getragen werden muss. ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 459

Maria Ileana Moise 2.3 Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten in der Akzentuierung im Deutschen und Rumänischen Trotz zahlreicher Unterschiede in der Akzentuierung bestehen zwischen den beiden Sprachen auch Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten. Sie betreffen: a. das Vorhandensein des Akzents auf der Wort-, Wortgruppen- und Satzebene b. die Hierarchie der Akzente (Wortakzent, potenzieller Wortgruppen- und Satzakzent) c. die Wirksamkeit der meisten Funktionen des Akzents (kulminative, bedeutungsdifferenzierende, usw.) d. die Komplexität der Akzentuierungsregeln e. die Existenz des rhythmischen Akzents f. die Wirksamkeit der Thema-Rhema-Gliederung g. die prinzipielle Unbetonbarkeit der Funktionswörter h. die Akzentrealisierung als Komplexerscheinung i. die schwächere intonatorische Realisierung der Nebenakzente 3. Der Rhythmus im Deutschen und Rumänischen 3.1 Unterschiede im Sprachrhythmus Für die Bestimmung des Rhythmustyps einer Sprache wurden in der Fachliteratur (AU- ER/UHMANN 1988; VÖLTZ 1994; DAUER 1987; DUFTER 1997; KALTENBACHER 1998; 1999) mehrere Kriterien und prototypische Merkmale formuliert 3. Die einzelnen Autoren berücksichtigen aber dieselben nur selektiv. Bei der Analyse des Rhythmus des Deutschen und Rumänischen habe ich alle Kriterien in Betracht gezogen, dieselben wurden sogar mit phonetisch-intonatorischen erweitert. Es handelt sich um die phonetischen Merkmale des Akzents, die Betonungsart und um charakteristische Phänomene der rhythmischen Euphonie. Berücksichtigt wurde auch die distinktive Funktion des Akzents auf grammatischer Ebene. Meine Absicht war, für den silbenzählenden Charakter des Rumänischen ausführliche theoretisch fundierte Belege bringen zu können. Bezüglich der rumänischen Forschung in diesem Bereich ist festzustellen, dass CHI}ORAN (1970; 1977), POPA/PÂRLOG (1973) und PÂRLOG (1997), die einzigen rumänischen Wissenschaftler, die sich mit dem sprachlichen Rhythmus in unpoetischer Sprache beschäftigt haben, den Rhythmus des Rumänischen als silbenzählend definieren. Die Argumente von POPA/PÂRLOG (1973) basieren aber nur auf Ergebnissen der Fehleranalyse von Äußerungen rumänischer Englischlernenden, ohne genügend fundierte Belege, im Sinne von systembedingten Charakteristika für das Rumänische zu bringen, welche diese Zuordnung untermauern. Für die Konfrontation des Sprachrhythmus in den beiden Sprachen werden im Folgenden: a. die Isochronie herstellenden rhythmischen Grundeinheiten, b. die Silbenstruktur und die sie beeinflussenden Faktoren, c. der sprachspezifische Akzent als Fixpunkt der rhythmischen Ein- 3 A. die perzeptive Isochronie der rhythmischen Einheiten B. die Reduktionsprozesse C. die Silbenstruktur und die Klarheit der Silbengrenzen D. die Beziehungen zwischen Silbenstruktur und Akzentposition E. die Position des Wortakzents F. die distinktive Funktion des Akzents G. Phänomene der rhythmischen Euphonie 460 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003

Akzent und Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten heit analysiert. Diese Kriterien betrachte ich als eine Zusammenfassung der oben angeführten Charakteristika. a. Die Isochronie herstellende rhythmische Grundeinheit bildet den ersten wesentlichen Unterschied zwischen dem Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Im Deutschen ist es theoretisch der Takt, in der gesprochenen Sprache die Akzentgruppe, im Rumänischen die Silbe, betonte oder unbetonte. Diese Einheiten kehren in zeitlich ungefähr gleichen Intervallen wieder. Für die Isochronie der rhythmischen Einheiten finden im Deutschen Reduktionen der unbetonten Silben und Wörter statt, die einen Dauerausgleich zwischen den Akzenten zur Folge haben. Auch im Rumänischen treten Ausgleichprozesse ein, sie betreffen aber nur die Silbe. Die höheren rhythmischen Einheiten entsprechen also hier der Länge der enthaltenen Segmente. Dieser Umstand führt im Deutschen zu einem akzentzählenden, im Rumänischen zu einem silbenzählenden Rhythmus. b. Die Analyse der Silbenstruktur und der sie beeinflussenden Faktoren ergibt zwischen den beiden Sprachen weitere Kontraste. - Obwohl auf den ersten Blick bezüglich der Silbenstruktur in den beiden Sprachen keine wesentlichen Unterschiede vorzuliegen scheinen, da in beiden Sprachen komplexe Konsonantensequenzen im on- und offset möglich sind, ergibt die Analyse der Häufigkeitsrate der Konsonantencluster in der Koda im Deutschen mehr Konsonantenanhäufungen (32 CCC- Verbindungen) als im Rumänischen (16 Konsonantencluster). Im Deutschen treten außerdem in flektierter Form infolge der Tempobeschleunigung auch 4 bis 5 Konsonanten auf, z. B. du strolchst, des Herbsts. In dieser Hinsicht kann behauptet werden, dass die Silbenstruktur im Deutschen komplexer ist. Immerhin weicht das Rumänische unter diesem Aspekt von den prototypischen silbenzählenden Merkmalen eindeutig ab. - Wird der Silbentyp in den beiden Sprachen verglichen, so sind laut Angaben von MEIN- HOLD/STOCK (1982: 204f.), ESSER (1960) im Deutschen die meisten Silben geschlossen, während im Rumänischen nach ROSETTI (1967: 82) die Mehrzahl offen ist. - Wird das Kriterium Erhaltung der Silbengrenze herangezogen, z. B. die Geminaten und ihre Konstanz, so treten andere Kontraste auf. Während im Deutschen ihre Zahl sehr groß ist und an der Silbengrenze eine Reduktion derselben stattfindet, sind im Rumänischen in der Hochsprache Doppelkonsonanten untypisch. In dieser Hinsicht weist das Rumänische intakte Silbengrenzen auf, während diese im Deutschen verwischt sind. Werden auch andere grenzsignalisierende Faktoren in Betracht gezogen, wie z. B. der Knacklaut, die Aspiration der anund auslautenden Klusile oder die Auslautverhärtung im Deutschen, so fungieren sie als deutliche Signale für die Silbengrenze. Diese Grenzsymbole sind für das Rumänische uncharakteristisch, stimmhafte Verschlusslaute, z. B. glob, globului, bleiben ungeachtet ihrer Position immer stimmhaft. Für das Deutsche kann also sowohl von klaren als auch von verwischten Silbengrenzen gesprochen werden, besonders bei beschleunigtem Tempo, während sie im Rumänischen dominant intakt bleiben und deutlich zu erkennen sind. - Werden die auf der segmentalen Ebene stattfindenden koartikulatorischen Prozesse verglichen, die den Charakter des Rhythmus in den beiden Sprachen determinieren, so treten sowohl im Deutschen als auch im Rumänischen Assimilationen, Reduktionen, Elisionen auf. Wird hingegen der Charakter dieser Prozesse berücksichtigt, so ergeben sich wesentliche Unterschiede. So z. B. sind für den Rhythmus im Deutschen die quantitativen und qualitativen Modifikationen der Vokale in den unbetonten Silben von besonderer Relevanz, z. B. Kürzung und Entspannung der langen Vokale, Öffnung der geschlossenen, Reduktion oder Elision der E-Laute in Endungen, Zentralisierung der Endung -er. Die Akzentvokale heben sich durch Gespanntheit der Muskulatur und deutliche Artikulation ab. Wenn die den Silbenkern betreffenden phonetischen Prozesse im Rumänischen berücksichtigt werden, so können keine qualitativen oder quantitativen Veränderungen beobachtet werden. Im Rumänischen haben ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 461

Maria Ileana Moise die Vokale, ob betont oder unbetont, nur einen Wert, eine mittlere Länge. Auch die Hiatusauflösung durch Hinzufügung der unsilbischen Vokale [i] oder [u], z. B. mitralier`, elogiat, sowie die für die Bildung von phonetischen Wörtern stattfindenden Elisionen, z. B. [I acum - > [-acum, se opre[te -> s-opre[te, usw. beeinflussen den Akzentvokal auf keine Weise. Sie können zwar auf der Silbenebene eine komplexere Struktur bewirken, tragen aber zum Ausgleich der einzelnen Silbendauern bei. Während die Modifikationen im konsonantischen Bereich im Deutschen (Auslautverhärtung) den Eindruck von Härte verstärken (vgl. MEINHOLD/STOCK 1982: 208; GREGOR-CHIRI}Ă 1991: 75), so unterstützt die regressive Assimilation (Stimmhaftwerden der Konsonanten) im Rumänischen den weichen, fließenden Klang der Sprache. - Wird das Merkmal Vokalharmonie in den beiden Sprachen verglichen, so kann für das Deutsche von einer annähernden Vokalharmonie gesprochen werden, da allein für den Schwa-Laut in der Akzentsilbe eine totale Restriktion besteht. Im Rumänischen betrifft die Einschränkung nur das entstimmte [i] im Plural einiger Substantive, für die Phoneme /`/ und /î, â/ kann die Akzentverlagerung z. B. in l`u d`, l`u da, usw. nicht als Beweis für eine eindeutige Restriktion für diese Vokale in der Akzentsilbe angenommen werden, diese Phoneme treten sowohl in betonter als auch in unbetonter Position auf. Wird die Häufigkeitsrate des Schwa-Lautes im Deutschen und des entstimmten i im Rumänischen verglichen, so tritt das letztere seltener auf. Für das Deutsche kann also von einer partiellen Vokalharmonie, für das Rumänische von einer fast totalen ausgegangen werden. c. Unterschiede betreffen auch die Akzentstelle als Fixpunkt für die rhythmische Einheit: - Bezüglich dieses Kriteriums sind die Unterschiede zwischen dem Deutschen und Rumänischen beim heutigen Stand der Forschung des Wortakzents sehr groß. Im Deutschen werden Erbwörter kapochron betont, Fremdwörtern kodachron, im Rumänischen besteht generell eine kodachrone Akzentuierung. - Auf höheren Ebenen sind infolge der wirksamen Thema-Rhema-Gliederung in der sachlichneutralen Rede die Unterschiede geringer. Während aber im Rumänischen eine deutliche Rechtstendenz mit Finalbetonung besteht, so kann im Deutschen infolge der spezifischen Wortfolge eine leichte Linkstendenz festgestellt werden, z. B. Drei Jahre später/ im Jahre fünfzehnhundertzwölf/ wurde er zum Doktor theologiae/ und Professor für Bibelerklärung/ in Wittenberg ernannt/ Trei ani mai târziu/ în anul/ o mie cinci sute doisprezece/ a fost numit doctor în teologie/ [i profesor în interpretarea bibliei/ la Wittenberg/ Hinzu kommen Unterschiede bezüglich des Status der Nebenakzente, als Rhythmus konstituierende Elemente. Im Rumänischen werden die Nebenakzente in geringerem Maße abgeschwächt als im Deutschen und sind i. d. R. als Rhythmus konstituierend wirksam. Im Deutschen ist wegen der Tempovariationen die Tendenz zur Deakzentuierung derselben stärker. Infolgedessen entstehen längere rhythmische Einheiten, während im Rumänischen wegen der Realisierung aller potenziellen Akzente die höheren rhythmischen Einheiten kürzer sind, z. B. Martin Luther // wurde im Jahre 1483 // in Eisleben // als Sohn // eines BERGmanns geboren.// 1 2 3 4 5 Martin Luther // s-a n`scut // în anul 1483// în Eisleben // ca fiu // de miner.// 1 2 3 4 5 6 462 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003

Akzent und Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten 3.2 Unterschiede im Sprechrhythmus Für die Gegenüberstellung des Sprechrhythmus werden: a. Pausen und Sprechtempo als Rhythmus optimierende Faktoren b. die Länge der Interstressintervalle und die Position der rhythmischen Schwere c. die rhythmische Euphonie berücksichtigt. a. In beiden Sprachen sind Pause und Tempo Rhythmus konstituierende Faktoren, zugleich optimieren sie auch denselben. Der Einsatz der Pausen ist allerdings in der reproduzierten Sprache strenger geregelt, in der frei produzierten Sprache ist z. B. die Zahl der Häsitationspausen größer; sie haben oft rhythmischen Charakter und können den Akzent ersetzen, oder die Taktdauer regulieren. Wegen der laxen Bindung zwischen den Wörtern innerhalb der rhythmischen Gruppe ist die Zahl der Pausen im Rumänischen vergleichsweise zum Deutschen größer. Dadurch entstehen mehrere kürzere Akzentgruppen. Im Deutschen hingegen sind infolge der Reduktionsprozesse die Akzentgruppen länger, Atempausen sind nicht notwendig. Zwar treten in beiden Sprachen vom Textinhalt abhängig Tempovariationen auf, ihre Auswirkungen sind aber unterschiedlich. Im Deutschen begünstigen und produzieren sie Vokal- und Konsonantenreduktionen und elisionen, die Isochronie der höheren rhythmischen Einheiten. Die Anzahl der von den rhythmischen Einheiten enthaltenen Wörter spielt keine besondere Rolle, da durch Reduktionen/Elisionen perzeptiv eine zeitlich ungefähr gleiche Aufeinanderfolge der Akzente gesichert werden kann, ohne dass die Dauer der rhythmischen Einheit wesentlich vergrößert wird. Im Rumänischen bewirken die mit den Tempovariationen verbundenen koartikulatorischen Prozesse eine Optimierung der Silbenränder und der Silbenlänge und nicht der höheren rhythmischen Einheiten. Die Verbindung zwischen den Wörtern bleibt vergleichsweise zum Deutschen loser. b. Auch bezüglich des zweiten Kriteriums, der Länge der Interstressintervalle und der Position der rhythmischen Schwere bestehen zwischen den beiden Sprachen Unterschiede: - Während im Deutschen durch die Tempovariationen die Interstressintervalle ausgeglichen, d. h. gekürzt oder gedehnt werden, so entspricht im Rumänischen die Länge der höheren rhythmischen Einheit der Dauer der enthaltenen Silben. Während die Interstressintervalle im Deutschen infolge der Deakzentuierungen größer sind, betragen sie im Rumänischen nach SFÎRLEA (1970: 191f.) 1 3 unbetonte Silben, z. B. Martin Luther // wurde im Jahre vierzehnhundertdreiundachtzig // in Eisleben // als Sohn // 2 10 4 3 eines Bergmanns geboren.// 2 Martin Luther // s-a n`scut // în anul o mie patru sute optzeci [i trei // în Eisleben // ca fiu // 1 1 2 1 2 1 1 2 1 1 3 de miner.// 2 c. Während im Deutschen die Hauptakzentposition in höheren rhythmischen Einheiten eine relative Mobilität (vorletzte, vorvorletzte, viertletzte Silbe oder eine weiter mediale Position) aufweist, liegt im Rumänischen in der sachlich-neutralen Rede der Hauptakzent in den meisten Fällen final, d. h. auf der letzten oder vorletzten Silbe. d. Die rhythmische Euphonie bezieht sich auf die Anwendung von Wohlgeformtheitsregeln wie Schlaghinzufügung, d. h. Konstituierung eines neuen Akzents, Schlagbewegung, Akzentverlagerung, Schlageliminierung, Akzentverlagerung oder Deakzentuierung. Der Rhythmus basiert in beiden Sprachen auf den Haupt- und Nebenakzenten. Der Unterschied in der Herstellung der ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 463

Maria Ileana Moise rhythmischen Euphonie zwischen dem Deutschen und Rumänischen fußt auf: a. der Regelhaftigkeit des Akzents (fest mobil, Akzentdubletten), b. der Häufigkeit der Verwendung des rhythmischen Akzents und c. der mehr oder weniger strengen Erhaltung der rhythmischen Wohlgeformtheit. M. E. wird im Rumänischen der rhythmische Akzent häufiger verwendet. a. Auf Grund der relativ vielen Akzentdubletten besteht im Rumänischen die Möglichkeit, zu rhythmischen Zwecken Akzente zu versetzen, ohne eine Bedeutungsänderung zu verursachen, ein Phänomen, das im Deutschen fremd ist. b. Die Einsilber haben einen variablen Status, sie treten mal betont, mal unbetont auf. Auch die Rolle der Formwörter ist weniger streng geregelt, als im Deutschen, sie werden oft betont. c. Infolge des schwachen Kontrasts zwischen betonten und unbetonten Silben tritt der Kontrastakzent häufiger auf. d. Im Rumänischen wird die rhythmische Euphonie durch den geringen Kontrast zwischen Haupt- und Nebenakzent unterstützt, d. h. die letzteren werden i. d. R. realisiert, nicht deakzentuiert. e. SFÎRLEA (1970: 192f.) zufolge ist die Alternanz zwischen betonten und unbetonten Silben obligatorisch. f. Im Deutschen werden die Interstressintervalle durch Tempovariationen und segmentale Reduktionen / Elisionen reguliert. Nebenakzente tragende Wörter werden oft deakzentuiert. Zusätzliche Akzente sind demzufolge für die Optimierung der Interstressintervalle selten nötig, was allerdings tempoabhängig ist. Die weiter oben beschriebenen Unterschiede ergeben in den beiden Sprachen verschiedene Rhythmustypen, im Deutschen einen hämmernden, stoßenden staccato-rhythmus, im Rumänischen einen weichen, gleitenden, fließenden legato-rhythmus, obwohl die beiden Sprachen die prototypischen Merkmale nicht in idealer Weise erfüllen. Das Deutsche zeigt z. B. beim langsamen Sprechen silbenzählende Merkmale auf, sein akzentzählender Charakter ist auch schwächer ausgeprägt als derjenige des Englischen. Wenn die prototypischen Merkmale der akzentzählenden Sprachen in Betracht gezogen werden, so besteht im Deutschen eine Restriktion inder Akzentsilbe nur für den Schwa-Laut, im Englischen jedoch sind gesonderte Vokalreihen vorhanden, die Silbengrenzen sind sowohl intakt als auch verwischt, die bedeutungsdifferenzierende Funktion des Akzents ist nur marginal wirksam, usw. Untersuchungen für das Deutsche belegen auch Unterschiede zwischen Dialekt und Hochsprache, der Wiener Dialekt soll silbenzählender sein als das österreichische Hochdeutsch. Sprachhistorische Untersuchungen von KALTENBERG (1999: 217) verweisen im AHD und frühen MHD auf deutliche silbenzählende Merkmale. Wenn im Rumänischen die Silbenstruktur, die Relevanz der lexikalisch und grammatisch distinktiven Funktion des Akzents, die Mobilität der Akzentstelle, die Komplexität der Wortakzentuierungsregeln berücksichtigt werden, nähert es sich den Charakteristika der akzentzählenden Sprachen. Auch für das Rumänische ist anzunehmen, dass zwischen Dialekt und Hochsprache Unterschiede bestehen, dass in den verschiedenen Entwicklungsetappen, infolge der Aufnahme von Fremdwörtern aus verschiedenen Sprachen, andere Charakteristika galten als heute. 3.3 Ähnlichkeiten in der Rhythmisierung im Deutschen und Rumänischen Trotz zahlreicher Unterschiede zwischen dem Rhythmus in den beiden Sprachen kann auch von Ähnlichkeiten gesprochen werden. Die betreffen: a. Die Silbe als Grundeinheit des Rhythmus, als Baustein für die Konstituierung der höheren rhythmischen Einheiten; b. Die Akzente (Hauptakzente) sind Fixpunkte für die Rhythmisierung; 464 ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003

Akzent und Rhythmus im Deutschen und Rumänischen. Unterschiede, Gemeinsamkeiten, Ähnlichkeiten c. Sprachspezifische koartikulatorische Prozesse dienen zur Optimierung, Angleichung der Silbenstruktur und -länge; d. In beiden Sprachen kann von einer Rechtstendenz der Akzentstelle in höheren rhythmischen Einheiten ausgegangen werden; e. Sowohl im Deutschen als auch im Rumänischen existiert ein rhythmischer Akzent; f. Pause und Sprechtempo haben eine Rhythmus konstituierende und optimierende Rolle. 4. Potenzielle Fehler rumänischer Deutschlernenden bei der Akzentuierung und Rhythmisierung im Deutschen a. Die angeführten Unterschiede führen zu potenziellen Fehlern bei rumänischen Deutschlernenden, die auch für andere Ausgangssprachen mit silbenzählendem Charakter Gültigkeit haben. Sie beziehen sich hauptsächlich auf: a. die Konstituierung, Konservierung und Optimierung der rhythmischen Einheiten, das Segment und Suprasegment betreffende Prozesse, b. die Akzentplatzierung und -realisierung: b. Die potenziellen Fehler in der Realisierung des Wortrhythmus betreffen die Initialbetonung im Deutschen und die Verteilung der Akzente in Derivata und Komposita. c. Zahlreiche Fehler sind bei der Akzentplatzierung auf der Akzentgruppenebene zu erwarten, da im Rumänischen die Tendenz besteht, den Akzent final zu setzen, im Deutschen aber derselbe infolge der unterschiedlichen Wortfolge eine leichte Linkstendenz aufweisen kann. Der rumänische Lernende wird voraussichtlich auf Grund des negativen Transfers aus der Muttersprache in den rhythmischen Einheiten den Akzent final setzen. e. Weil im Rumänischen alle Silben (betonte und unbetonte) intonatorisch wenig differenziert werden, tendiert der rumänische Deutschlernende auch im Deutschen die Silben alle gleich lang auszusprechen und die unbetonten Silben zu stark zu gewichten. Der Fehler gilt für Lernende mit silbenzählender MS als charakteristisch. d. Damit im Zusammenhang stehen potenzielle Fehler bei der Reduktion der unbetonten Silben, besonders des Schwa-Lautes in Endungen und bei der Realisierung des vokalisierten r, die für den Rhythmus des Deutschen von besonderer Relevanz sind und für den Erwerb des Deutschen vielleicht die größte Schwierigkeit bedeuten (vgl. VÖLTZ 1994: 102). Es ist anzunehmen, dass der rumänische Deutschlernende die Endungen voll realisiert, was zur Längung der Akzentgruppe, zur Unisochronie der rhythmischen Einheiten führt. Auch dieser Fehler gilt für Lernende mit einer silbenzählenden MS als charakteristisch. Der Reduktionsprozess des e im Stammauslaut und in Flexionsmorphemen ist bei rumänischen Deutschlernenden besonders schwer zu beheben, da es im Rumänischen einen ähnlichen Vokal mit Phonemstatus gibt, das <`>, das dem deutschen Schwa zwar in gewisser Hinsicht ähnlich ist, (zentral gebildeter Vokal), jedoch auf keinen Fall mit ihm identifiziert werden darf. e. Zu erwarten sind auch Koartikulationsprozesse, die im Deutschen normwidrig sind, z. B. regressive Assimilationen, Palatalisierungserscheinungen oder die stimmhafte Realisierung der Konsonanten im Silben- und Wortauslaut. f. Potenzielle Fehler betreffen auch die Realisierung der Knacklaute am Silben- und Wortanfang bei anlautendem Vokal, die im Rumänischen fremd sind und sich letztendlich auf die charakteristische deutsche Rhythmisierung negativ auswirken. g. Da im Rumänischen die Anzahl der unbetonten Silben zwischen den Akzenten im Vergleich zum Deutschen geringer ist, werden die rumänischen Sprecher innerhalb der Akzentgruppe und der rhythmischen Gruppe voraussichtlich zu mehreren Akzenten tendieren. Dadurch wird die rhythmische Struktur der Einheiten zerstört. Auch dieser Fehler ist für Lernende mit silbenzählender MS kennzeichnend. h. Ebenfalls als potenzielle Fehlerquelle gelten auch die in der gesprochenen Sprache sehr häufigen schwachen Formen, da das Phänomen im Rumänischen nicht als solches vorhanden ZGR 1-2 (21-22) / 2002, 1-2 (23-24) / 2003 465