Henri Maldiney Verstehen

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Transkript:

VERSTEHEN

Henri Maldiney Verstehen Übersetzt aus dem Französischen von Sabine Metzger Mit einem Vorwort von Bernhard Waldenfels VERLAG TURIA + KANT

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http:/dnb.ddb.de abrufbar. Bibliographic Information published by Die Deutsche Bibliothek Die Deutsche Bibliothek lists this publication in the Deutsche Nationalbibliografie; detailed bibliographic data is available in the internet at http:/dnb.ddb.de. ISBN 3-85132-460-9 Originaltext:»Comprendre«, erschienen 1961 in der Revue de Métaphysique et de Morale Verlag Turia + Kant, 2006 A-1010 Wien, Schottengasse 3A / 5/ DG1 info@turia.at www.turia.at

Inhalt Vorwort (Bernhard Waldenfels)................. 7 Verstehen................................. 15

Vorwort

Der lapidare Titel dieses außerordentlich dichten Textes deutet nur an, was er erwarten lässt. Das Verstehen, um das es geht, fungiert nicht als bloßer methodischer Gegenbegriff zum Erklären. Er beschränkt sich auch nicht auf das dialogische oder textuelle Verstehen, das alle Spielarten der Hermeneutik für sich in Anspruch nehmen. Selbst Heideggers Verstehen als»grundmodus des Daseins«trifft die Sache nur zum Teil. Das Verstehen, auf das es dem Autor ankommt, erweist sich als ebenso problemgeladen wie der Sinn, den es erschließt. Vorliegender Text erschien erstmalig 1961 in der Revue de Métaphysique et de Morale und wurde später in einen 1973 in Lausanne veröffentlichten Aufsatzband Regard Parole Espace aufgenommen. Der 1912 geborene Autor Henri Maldiney lehrte Philosophie, insbesondere Philosophische Anthropologie und Ästhetik, an der Universität Lyon, fernab der Pariser Großszene. Sein anthropologisches Denken ist in weitem Maße der Daseinsanalyse von Ludwig Binswanger verpflichtet. Der erste, der diese in Frankreich bekannt gemacht hat, ist er nicht. Dieses Verdienst gebührt dem polnischen Psychopathologen Eugène Minkowski und seiner Frau Françoise Minkowska. Auch Maurice Merleau-Ponty bezieht sich bereits 1945 in seiner Phänomenologie der Wahrnehmung auf Bins- 9

wanger, und von Michel Foucault erscheint 1954 die Übersetzung von Traum und Existenz mit einer ausführlichen Einleitung. Doch Maldiney geht über all dies hinaus, indem er der Daseinsanalyse eine eigenständige philosophische Form verleiht. Binswanger hat diesen eigenwilligen Versuch in seinem Vorwort zu den späteren Auflagen von Grundformen und Erkenntnis menschlichen Daseins ausdrücklich gewürdigt. Der Text, mit dessen Übersetzung Maldiney erstmals in Deutschland als Buchautor auftritt, fügt sich in einen vielfältigen Kontext. Das französische Umfeld ist mit Namen wie J. Cavaillès, M. Foucault, H. Hyppolite, J. Lacan und G. Politzer ansehnlich, aber spärlich besetzt. Eine Auseinandersetzung mit Merleau-Ponty und Sartre, den Protagonisten der französischen Phänomenologie, bleibt dem Leser überlassen. 1 Auf der deutschsprachigen Seite begegnen wir längst auch in Frankreich bekannten Forschern wie den deutschjüdischen, aus Deutschland vertriebenen Medizinern Kurt Goldstein und Erwin Straus sowie Roland Kuhn, einem Schweizer Psychiater aus dem engsten Kreis von Binswanger. Hinzu kommt natürlich Binswanger selbst, umgeben von dem Dreigestirn Freud, Husserl und Heidegger. Zitiert werden Aufsätze aus den zwanziger und dreißiger Jahren, also aus den Phasen der ersten Freudrezeption und der durch das Erscheinen von Sein und Zeit ausgelösten Umorientierung. Das Hauptwerk von 1942 sowie die spätere psychopathologische Nutzung der Husserlschen Konstitutionslehre bleiben unerwähnt. Im Mittelpunkt steht die neue Form der Daseinsanalyse, die bei ihrem Begründer unter wechselnden Namen wie»phänomenologische Anthropologie«,»thematische existenziale 10

Anthropologie«oder umständlicher als»ontisch-anthropologische, an faktischem menschlichen Dasein durchgeführte phänomenologische Hermeneutik«firmiert und die zwischen Heideggers fundamentalontologischer Daseinsanalytik und einer Freud zugeschriebenen naturalistischen Verengung der Psychoanalyse ihren eigenen Weg sucht. 2 Entscheidend ist für Binswanger, dass der Faden zur empirischen Forschung sowie zur klinischen und therapeutischen Praxis nicht abreißt. Dabei geht es nicht um eine einseitige philosophische Grundlegung von Empirie und Praxis als vielmehr um einen Balanceakt zwischen expliziter und impliziter Philosophie, wie er auch Merleau-Ponty vorschwebte. All dies spielt auch bei Maldiney eine Rolle, doch trotz vieler ausdrücklicher Anleihen und unausdrücklicher Anspielungen spricht sein Text eine eigene Sprache. Die Schwierigkeit des Textes liegt darin, dass der Autor häufig von einer Beschreibungsebene auf die andere überwechselt und dem Leser damit eine große Flexibilität zumutet. Der Lohn der Mühe ist ein Reichtum an Facetten und eine Öffnung von Horizonten, die weit über das unmittelbare Thema hinausweisen. Den theoretischen Rahmen bildet eine Anthropogenese, die den unaufhörlichen Übergang vom Naturmenschen zum Kulturmenschen nachzeichnet und auf diese Weise den Dualismus von Natur und Kultur untergräbt. Die Analysen kreisen um die Existenzweise von Eigenleib, Ding und Anderer, denen mit Eigenwelt, Umwelt und Mitwelt drei verschiedene Weltformen zugeordnet werden. Das Grundmotiv des Verstehens verbindet sich mit dem der Wahrnehmung. Dem Sinn der Sprache entspricht eine Sprache der Sinne, wie es sich bereits in dem von Erwin 11

Straus gewählten Titel Vom Sinn der Sinne andeutet. Com-prehendere und per-capere werden im Anschluss an Binswanger als zwei Formen eines Nehmens-bei-etwas verstanden, die sich im Ausdruck als einem realisierten Sinn treffen.»in der Wahrnehmung schreiten wir vom Ausdruck zum Sinn und nehmen den Sinn [...] im Ausdruck wahr. Im Verstehen schreiten wir vom Sinn zum Ausdruck. Verstehen bedeutet, den Ausdruck im Sinn zu verstehen.«der Sinn entsteht immer wieder neu aus dem Nicht-Sinn. Der thematische Sinn, der sich in objektiven Formen kristallisiert, lebt von den Überschüssen eines Unthematischen, das sich in Form von Bedeutungsskizzen und Bedeutungsrichtungen andeutet, ohne endgültig fassbar zu sein. Intentionalität besagt mehr als ein bewusstes Abzielen, sie bewegt sich in schräger Richtung, ihr wird durch den Andrang des Neuen gleichsam die Spitze abgebrochen. Erprobungsfelder für ein Verstehen, das dem Unverständlichen Raum gibt, liefert die Psychoanalyse. Die Traumanalyse findet ihren Ort zwischen manifestem und latentem Sinn, in einem Sinn, der nicht bereits im Verborgenen vorliegt, sondern aus dem Traumbericht und der Traumdeutung hervorgeht, als der Sinn einer Existenz,»die sich in ihrem Erscheinen verbirgt«. Der Sinn liegt nicht hinter dem, was sich zeigt, er ist selbst ein Hintersinn. Dem entspricht das analytische Gespräch als Forum für einen Sinn, der im Wechselspiel von Nähe und Ferne seinen Ort sucht und aus einer Lebensgeschichte erwächst, die in der Analyse gleichzeitig voran- und zurückschreitet. Wie bei Lacan tritt der Analytiker und, wenn die Analyse gelingt, auch der Analysand primär als Respondent, einbezogen in ein Geschehen, das den nor- 12

malen Gang einer einverständlichen Kommunikation unterbricht. Pathologien erweisen sich als Störung und Verformung elementarer Existenzstrukturen, etwa als Entleerung der Zukunft oder als Fixierung auf die Vergangenheit, die dazu führen, dass die Erfahrung ihrer offenen Horizonte beraubt und der Sinn in festen Themen eingefroren wird. 3 Von daher fällt ein Licht auf klassische Themen wie Identifizierung, Widerstand und Übertragung. Wie etwa im Falle der ödipalen Identifizierung mit dem Vater stoßen wir auf Formen einer gelebten Unmöglichkeit. Die Erfahrungsrechnung geht niemals auf. Es macht den besonderen Reiz dieses Textes aus, dass der aus Phänomenologie und Hermeneutik, aus Psychoanalyse und Psychopathologie gewonnene Grundriss nach allen Seiten hin überschritten wird. Dies führt zu Ausflügen in die Tierwelt, in die Welt des kindlichen Spiels, in die Bild- und Dichtkunst. Wir stoßen auf die Strichführung bei Klee und Kandinsky, wir geraten in die fremdartige Eingangsszene von Kafkas Schloss und begegnen dem Wechselspiel von Worten und Dingen in den Poemen von Francis Ponge. 4 Zwischen den Zeilen dieses Essays findet sich viel Anregendes, das es verdient, nach gut vierzig Jahren mit neuen Augen gelesen zu werden. Bernhard Waldenfels ANMERKUNGEN 1 Zum zeitgenössischen französischen Hintergrund vgl. vom Verfasser Phänomenologie in Frankreich, Frankfurt am Main, 2. Aufl., 1998, Kapitel VI, 9, sowie speziell zu Maldiney S. 442-449. 2 Zum wissenschaftstheoretischen und wissenschaftspraktischen Status der Daseinsanalyse vgl. Max Herzog, Weltentwürfe. Ludwig 13

Binswangers phänomenologische Psychologie, Berlin/New York 1994, S. 79-88. 3 Vgl. hierzu das 1991 in Grenoble erschienene Werk Penser l homme et la folie. 4 Zahlreiche spätere Schriften des Autors befassen sich mit der Rolle von Wort und Bild in der Kunst und speziell auch mit Francis Ponge.