Bildungssoziologie. Geschichte, Themen, Klassiker



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Transkript:

Bildungssoziologie Geschichte, Themen, Klassiker Mirco Wieg, M.A. Abteilung für Bildungsforschung und Bildungsmanagement Gastvortrag vom 20.01.2011 in der Vorlesung: Einführung in die sozialwissenschaftliche Bildungsforschung (WiSe 10/11) Leitung: Prof. Dr. Heiner Barz

Inhalt 1. Was ist Bildungssoziologie? 2. Historischer Abriss 3. Parsons und Schelsky 4. Pierre Bourdieu

Begriffe

Was ist Bildung? Humankapital/Qualifikation (zunehmend seit der Industrialisierung)

Was ist Soziologie? Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. Weber 1972, S. 1

Was ist Bildungssoziologie? Wissenschaft, die nach kollektiven Erscheinungen sucht, die im Bildungsgeschehen sichtbar werden oder sich auf Bildungs- beziehungsweise Erziehungsprozesse zurückführen lassen, und diese nach einem soziologischen Erklärungsmodell analysiert. eigene Definition

Geschichte

Entstehungsgeschichte (1920er - 1950er Jahre) 20er und 30er Jahre: Schreibende Lehrer geben Impulse Unterbrechung der Entwicklung im Nationalsozialismus 50er Jahre: Langsames (Wieder-)Aufleben Zunehmende Verbindung mit der neu aufkommenden Disziplin Bildungsforschung

Hochphase (1960er Jahre) 1964 prangert Georg Picht in einer Artikelserie die deutsche Bildungskatastrophe an. Bildungskatastrophe und kein Ende Ralf Dahrendorf beklagte in der Wochenzeitschrift Die Zeit den geringen Anteil von Arbeiterkindern an den Universitäten. Aufschwung der Bildungsforschung und damit nicht zuletzt Sicherung der Grundlagen der Bildungssoziologie

1970er Jahre bis heute 1970er Jahre: Abklingen des politischen und öffentlichen Interesses 1990er Jahre: TIMSS-Studie zeigt Leistungsdefizite deutscher Schüler. 2000er Jahre: PISA offenbart Benachteiligung von Kindern aus einkommensschwachen Familien.

Talcott Parsons und Helmut Schelsky

Klassiker Talcott Parsons (1902 1979): Subsysteme (auch das Bildungssystem) sorgen für Erhaltung und Stabilität der Gesellschaft (Gesamtsystem) Funktionen des Sozialisations- und Bildungssystems: Vorbereitung auf das Leben als Erwachsener (Wertevermittlung) Verteilung der Menschen auf Berufssparten (Selektion- und Allokation) unkritische Perspektive auf soziale Ungleichheit Parsons, Talcott (1968): Die Schulklasse als soziales System, in: Ders.: Sozialstruktur und Persönlichkeit, Frankfurt (zuerst 1964), S. 161-193.

Klassiker Helmut Schelsky (1912 1984) Schule als soziale Dirigierungsstelle Kritik: Schule fördert keine Begabungen und selektiert auch nicht nach Fähigkeiten! Schule verweigert Zugangschancen und generiert sich als Agentur des Staates und nicht als Interessenvertretung der Familien! Schelsky, Helmut (1961): Schule und Erziehung in der industriellen Gesellschaft, 3. Aufl.,Würzburg (zuerst 1957)

Pierre Bourdieu

Pierre Bourdieu 1. Biographie und Werke 2. Video: Interview 3. Kapital (und Habitus) 4. Wie wirkt Kapital? 5. Welchen Einfluss hat die (Hoch-)Schule? 6. Bourdieus Forderung: Rationale Pädagogik!

Biographie und Werke Biographisches 1930-2002 1964-81 Professur für Kultursoziologie an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) ab 1981: Lehrstuhl für Soziologie am Collège de France, Paris Werke u.a.: 1964: Die Illusion der Chancengleichheit 1979: La Distinction (dt.: Die feinen Unterschiede, 1982) 1993: La Misère du monde (dt.: Das Elend der Welt, 1997)

Interview mit Pierre Bourdieu Film ab

Was wissen wir jetzt? Was versteht Bourdieu unter Soziologie? Was sagt er zum sozialen Wandel? Wie kommt es zur Stabilität?

Bourdieus Verständnis von Soziologie Die Enthüllung des Verborgenen hat deshalb immer einen kritischen Effekt, weil in der Gesellschaft das Verborgene immer ein Geheimnis ist, [ ]. Das Geheimnis trägt zum Fortbestand einer auf Tarnung ihrer stärksten Selbsterhaltungsmechanismen angewiesenen Sozialordnung bei [ ]. Bourdieu/Passeron 1971, S. 15

Kapitalformen Ökonomisches Kapital Soziales Kapital Kulturelles Kapital inkorporiert objektiviert institutionalisiert vgl. Bourdieu 1992, S. 49ff.

Inkorporiertes kulturelles Kapital Inkorporiertes kulturelles Kapital ist ein Besitztum, das zu einem festen Bestandteil der Person, zum Habitus geworden ist; aus Haben ist Sein geworden. (PB 1992, S: 49ff) Bourdieu 1992, S: 49ff

Exkurs: Habitus Wahrnehmungs- und Handlungsmatrix, die immer wieder gleiche Gefühle, Handlungen, Wahrnehmungen, Gedanken und Geschmackspräferenzen verursacht. Löw 2003, S. 47

Beispiele für inkorporiertes kulturelles Kapital Wissen Umgangsformen Sprechweise Geschmack Interpretationsschemata Kleidungsstil Gesten feste Gewohnheiten Vorlieben Leichtigkeit Eleganz vornehme Zurückhaltung vgl. Vorwort zu Bourdieu/Passeron 1971, Bourdieu 1992, S. 49ff., Bourdieu 1973, S. 101

Weitere Formen des kulturellen Kapitals Objektiviertes kulturelles Kapital z.b. Kulturgüter wie Bücher, Bilder, Instrumente, Maschinen Institutionalisiertes kulturelles Kapital v. a. Titel

Wirkung von Kapital: Beharrungsvermögen und Aneignung Die ungleiche Verteilung von Kapital, also die Struktur des gesamten Feldes, bildet somit die Grundlage für [ ] die Fähigkeit zur Aneignung von Profiten und zur Durchsetzung von Spielregeln, die für das Kapital und seine Reproduktion so günstig wie möglich sind. Bourdieu 1992, S. 49ff.

Wirkung von Kapital: Verschleierung [ ] die Übertragung von Kulturkapital [ist] zweifellos die am besten verschleierte Form erblicher Übertragung von Kapital [ ]. Um seine volle Wirksamkeit [ ] ausspielen zu können, bedarf das kulturelle Kapital [ ] der Bestätigung durch das Unterrichtssystem, also der Umwandlung in schulische Titel. Bourdieu 1992, S. 49ff.

Schulbildung: Fehlender Ausgleich In dem die Schule es unterlässt, durch eine methodische Unterweisung allen das zu vermitteln, was einige ihrem familiären Milieu verdanken, sanktioniert sie die Ungleichheit, die alleine sie verringern könnte. Bourdieu 2001, S. 48

Bildungschancen nach sozialer Herkunft (1961/62) Bourdieu 1971, S. 21

Bourdieu 1973, S. 100

Beispiel zur Hochschule: Ausdruck/Sprache Die Professoren machen, bewusst oder unbewusst, einen Unterschied zwischen der natürlichen Ungezwungenheit des Ausdrucks und eleganten Lässigkeit, und der angestrengten Ungezwungenheit, die bei Studenten aus den Volks- oder Mittelklassen häufig anzutreffen ist [ ]. Bourdieu 2001, S. 42

Beispiel zur Hochschule: Bewertungskriterien Die Professoren entscheiden, mangels methodischer Darlegung der Prinzipien und Bemühungen um Einheitlichkeit, nach besonderen Kriterien die von Professor zu Professor variieren [ ]. Man versteht, dass die Studenten im Allgemeinen dazu verdammt sind, wie die Auguren zu rätseln, die Geheimnisse der Götter zu erforschen [ ]. Bourdieu 2001, S. 151

Schulbildung: Verschleierung Das Schulsystem überzeugt die Verlierer davon, dass sie für ihre Eliminierung selbst verantwortlich sind. Begabungsideologie: Gesellschaftliche Erbschaft wird in individuelle Begabung oder persönliches Verdienst umgewertet. Die unteren Klassen übernehmen diese Sichtweise und erleben ihre Unterprivilegierung als persönliches Schicksal. vgl. Bourdieu 2001, S. 21, 147f.

Wirkung der Schule: Fazit Die Schule konserviert soziale Unterschiede. Bildung macht in diesem Sinne also nicht frei, sondern verfestigt Unfreiheit. Chancengleichheit durch Bildungsprozesse ist laut Bourdieu eine Illusion! Bourdieu, Passeron 1971

Bourdieus Forderung: Rationale Pädagogik! Eine rationale Pädagogik ist eine Pädagogik, die vom Kindergarten bis zur Hochschule methodisch und kontinuierlich die Wirkung der sozialen Faktoren kultureller Ungleichheit zu neutralisieren sucht. Bourdieu 2001, S. 152

Fragen und Diskussion

Literatur Bourdieu, Pierre / Passeron, Jean Claude (1971): Die Illusion der Chancengleichheit. Bourdieu, Pierre (1973): Kulturelle Reproduktion und soziale Reproduktion. Bourdieu, Pierre (1992): Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Bourdieu, Pierre (1992): Die verborgenen Mechanismen der Macht. Bourdieu, Pierre (2001): Wie die Kultur zum Bauern kommt. Hurrelmann, Klaus / Engel, Uwe (1989): Bildungssoziologie, in: Endruweit, Günter / Trommsdorf, Gisela: Wörterbuch der Soziologie, Stuttgart, S. 90-98. Löw, Martina (2003): Einführung in die Soziologie der Bildung und Erziehung, Opladen. Weber, Max (1972): Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen (zuerst 1922).