Vollversammlung der Hebammen des Burgenlandes Pinkafeld, November 2013
Theres Wess Physiotherapeutin seit 1998 Lehrende seit 2001: derzeit an der FH Campus Wien Fachbereiche Neurologie und Gynäkologie Freiberufliche Tätigkeit: Einzeltherapie Gruppen für Schwangere und Wöchnerinnen
Gliederung Einführung Zahlen und Fakten Ätiologie, Prävalenz und Behandlung von ante- und postpartaler Inkontinenz Pelvic Floor Muscle Training (PFMT) Fragen aus der Praxis Fallbeispiel Aktivierung Literaturangaben
Einführung (Quelle: Irion, J.M. und Irion, G.L.: Women s Health in Physical Therapy, Lippincott W&W, 2010) Während der Schwangerschaft: Intraabdomineller Druck steigt Hormoneller Status bedingt Laxitität von Fascien und Bändern und reduziert den urethralen Druck
Einführung (Quelle: A. Heller: Nach der Geburt. Wochenbett und Rückbildung. Thieme, 2002)
Ätiologie
Zahlen und Fakten: Inkontinenz Cochrane Review Boyle, R., E. J. C. Hay-Smith, et al. (2009). "Pelvic Floor Muscle Training for Prevention and Treatment of Urinary and Faecal Incontinence in Antenatal and Postnatal Women: A Short Version Cochrane Review." 16 RCTs verglichen PFMT versus normale Betreuung während Schwangerschaft und Wochenbett hinsichtlich Prävention und/oder Behandlung von Inkontinenz. 1/3 aller Wöchnerinnen leiden postpartal unter Harn- Inkontinenz 1/10 unter Stuhlinkontinenz
Formen der postpartalen Inkontinenz SUI - stress urinary incontinence Belastungsinkontinenz UUI - urge urinary incontinence Dranginkontinenz Mixed urinary incontinence FI- faecal incontinence Stuhlinkontinenz (fest/flüssig/wind), postpartal meist bei Dammriss 3. oder 4.Grades
Überlegungen PFMT wird zur Prävention und Behandlung empfohlen Trainierte Muskeln sind weniger verletzungsanfällig, können auch leichter wieder-trainiert werden (Motorisches Lernen!), sie haben eine größere Kraftreserve und können daher dem erhöhten intraabdominalen Druck während der Schwangerschaft besser standhalten;
Ergebnisse Prävention Evidenz: mit PFMT: 56% geringeres Inkontinenzrisiko in der Spätschwangerschaft, 50 % geringeres Inkontinenzrisiko postpartal, 30% geringeres Inkontinenzrisiko 3-6 Monate nach der Geburt Behandlung Mit PFMT behandelte Wöchnerinnen mit UI hatten nach 12 Monaten ein um 20% geringeres Inkontinenzrisiko als Wöchnerinnen ohne PFMT, von FI Betroffene sogar ein um 50% geringeres Risiko!
Ergebnisse Hay-Smith, J., B. Berghmans, et al. (2009). International Consultation on Incontinence. PFMT ist Therapie der Wahl! Grade of Recommendation: A, unabhängig welche Inkontinenzform! PFMT möglichst intensiv! Antepartum: intensiv! Grade A-B 3 Mo postpartum mit UI: Grade A
Heilungsschancen 35-80% Heilung der Harninkontinenz durch gezieltes Beckenbodentraining (PFMT) Ergebnisse sind umso besser je intensiver die professionelle Betreuung ist! Allerdings ist bei geschwächtem Beckenboden mit ca 6 monatigem, täglichem Training zu rechnen! Vorteile (vgl. zu OP): effektiv, niedrige Kosten, keine Risiken/ unerwünschte Nebenwirkungen
PFMT Populär durch Kegel, 1948 Motorisches Lernen: Ist die Kontraktion korrekt? Kontrolliert durch Health Care Professional! Koordination: kein Luftanhalten, kein Pressen, keine Ko-kontraktionen von Glutealmuskulatur oder Adduktoren
Diagnostik Abb. Aus Physiotherapie in der Gynäkologie, Thieme 2004
PFMT Inhalte: Kraft Ausdauer Koordination Kombination aus diesen Parametern zb: 1-3 Sets mit je 4-12 Wiederholungen (maximale Kontraktion) abhängig von der Muskelfunktionsprüfung während der Diagnostik Kritisch ist offensichtlich, die Patientinnen dazu zu motivieren, das PFMT in die tägliche Routine einzubauen!
Fragen aus der Praxis Wer soll PFMT machen? Wann soll mit PFMT begonnen werden? Welche Berufsgruppe soll PFMT anleiten? Wie kann PFMT durchgeführt werden?
Wer soll PFMT machen? Schwangere und Wöchnerinnen, kontinent oder inkontinent Kontraindikationen: Frische Wunden, Schmerzen
Wann soll mit PFMT begonnen werden? Am besten präventiv schon vor, aber spätestens während der Schwangerschaft SANFT! Im Frühwochenbett bei gutem AZ mit Fokus auf Wahrnehmung und Atmung INTENSIV! Spätestens im Spätwochenbett!
Wann soll mit PFMT begonnen werden? Im komplikationslosen Frühwochenbett kann bereits am 1. Tag post partum mit Physiotherapie, auch mit PFMT begonnen werden. Es gilt: Zuerst spüren, dann üben! Beckenboden schützen und stützen! (Achtung vor Konstipation und Hustenstößen) Quelle: Der Beckenboden, R.Tanzberger, Urban & Fischer Verlag, 2004
Physiotherapie im Frühwochenbett (Quelle: A. Heller: Nach der Geburt. Wochenbett und Rückbildung. Thieme, 2002)
Wann soll mit PFMT begonnen werden? Bei Besonderheiten im Frühwochenbett durch Dammnaht, bei starken Hämorrhoiden oder post Sectio und damit verbundenen Schmerzen sind die Phasen der Wundheilung zu beachten: Wundheilungsphasen: Entzündungs- oder Reizungsphase (0-5 d) Proliferationsphase Umbau- oder Reifungsphase PFMT erst mit dem 5.-7. Tag post partum und SANFT beginnen!!!
Ziele der Physiotherapie im Frühwochenbett Thrombose- und Embolieprophylaxe Unterstützung der Rückbildungsvorgänge Anregung der Zwerchfelldynamik Aktivierung der Muskeln der abdomino-pelvinen Leibeshöhle Wiederherstellung der Statik Motivierung zur Rückbildungsgymnastik
Wann soll mit PFMT begonnen werden? Spätestens im Spätwochenbett!
Ziele der PT im Spätwochenbett Normalisierung der Statik Ökonomisches Bewegungsverhalten Atemräume wiederentdeckt Zusammenspiel Glottis Zwerchfell Bauchmuskeln Beckenboden verinnerlicht Ermutigung, sich mit sexuellen Problemen an eine kompetente Fachperson zu wenden
Welche Berufsgruppe soll PFMT anleiten? Health Care Professionals Speziell ausgebildete PhysiotherapeutInnen, Hebammen, Gesundheits- und KrankenpflegerInnen, ÄrztInnen Interdisziplinäre Zusammenarbeit! Alle, die mit Schwangeren und Wöchnerinnen zu tun haben, sollten zumindest wissen, wohin sich Frauen mit Inkontinenz wenden können!
Hilfe bei Inkontinenz im Burgenland Quelle: www.kontinenzgesellschaft.at; www.physioaustria.at; www.burgenland.hebammen.at; 3 Inkontinenzambulanzen: Krankenhaus Barmherzige Brüder Eisenstadt (MKÖ Bgld) Bgld. Krankenanstalten Ges.m.b.H.- A.ö. Ladislaus Batthyány-Strattmann Krankenhaus Kittsee Bgld. Krankenanstalten Ges.m.b.H. - A.ö. Krankenhaus Oberwart 10 GynäkologInnen, 6 UrologInnen Keine PT mit Zusatzqualifikation: Beckenbodenpalpation! 14 PT mit Fachbereich Uro-Prokto-Gyn 26 Hebammen mit Wochenbettbetreuung
Wie kann PFMT durchgeführt werden? Tempo der Kontraktionen variieren, um beide Muskelfasertypen anzusprechen (fast twitch und slow twitch) Steigerung durch Veränderung der Ausgangsstellung Gewichte verwenden z.b. Konen (Grade of Recommendation: B) Elektrotherapie Aktive und reaktive Übungen Bio-Feedback Einzel- und Gruppentherapie
Fallbeispiel Frau M. >Frau M. spricht mich nach einer Einheit Fit nach der Geburt im September 2011 an: >Sie verliert seit der Geburt ihres Sohnes vor 7 Wo Harn >Wir vereinbaren einen Termin zur Einzeltherapie
Die Problemidentifizierungsphase Daten der Patientin: Frau M., 31 a momentan karenziert, für 20 Mo unsportlich 1,65m; 81 kg; Ärztliche Diagnose: Harninkontinenz Zusatzdiagnose: Kompressionsfraktur Wirbelkörper LWS vor 10 a
Anamnese Subjektives Hauptproblem: WAS? unfreiwilliger Harnverlust beim Aufstehen, beim Tragen von Lasten (zb Baby), bei Gehstrecken > 15 Min; WIEVIEL? einige Spritzer; WANN? mehrmals täglich, auch nachts; SEIT WANN? Seit 7 Wochen, seit der Geburt des Sohnes (1. Kind, 2955 gr., Kopfumfang: 34 cm): komplikationslose Schwangerschaft, Austreibungsphase 30 Min, in der Hocke; 1xKatheter, PDA, Dammriss 2. Grades;
Weiterführende Anamnese VAS zum Leidensdruck: 3-4/10 Gynäkologische Situation: kein Wochenfluss mehr, aber auch noch keine Periode, laut Gynäkologe: keine Rückbildungsdefizite, Dammnaht gut verheilt; seit der Geburt des Kindes: noch kein Geschlechtsverkehr; Mischkost, Trinkmenge: 1-2 l/d (ohne Kohlensäure, kein Alkohol); WC-Gang: o.b.; mit Vorlage versorgt; Zusätzlich: Kreuzschmerzen: ab und zu, Wenn Kind sehr unruhig
Physische Untersuchung 1 Inspektion allgemein: Status im Stand: typische postpartale Haltung mit abgesunkenem Fußlängsgewölbe, ++LWS-Lordose, +Gewichten am Bauch und Ventralkippung des Beckens; Inspektion lokal Abdomen: linea fusca, striae distensae Palpation: Bindegewebe: allgemein schwach!, Rectusdiastase ca. 1 Daumen breit, Tonus der Bauchmuskeln, Tonus der Rückenstrecker und im Nacken
Physische Untersuchung 2 Muskelfunktionsprüfung Bauchmuskeln (M.rectus abd. und M.obliquii): MW 4 Untersuchung des Beckenbodens: Inspektion: Narbe unauffällig; Sensibilität im Genitalbereich: o.b. Kontraktion: Koordination ; Ausdauer ; Miktionsprotokoll: zur Dokumentation von Trink- und Harnmenge, aber auch von Inkontinenzepisoden
Die physiotherapeutische Diagnose nach ICF: Funktionsfähigkeit und Behinderung Struktur- und Funktionsebene: - Schwäche der Bauch- und Beckenbodenmuskulatur, Hypertonus der Rücken- und Nackenmuskulatur Aktivitäts- und Partizipationsebene: - Unfreiwilliger Harnverlust bei Aufstehen, Heben und Tragen (Belastungsinkontinenz) - Spaziergänge >15 Min unmöglich Kontextfaktoren: Umweltfaktoren: Sohn (7 Wo alt) Personenbezogene Faktoren: Scham!, hohe Motivation für PT
Physiotherapeutische Schlussfolgerungen Seit der Geburt ihres Sohnes leidet Frau M. unter einer Belastungsinkontinenz, die sich durch einen unfreiwilligen Harnverlust (Menge: einige Spritzer) beim Aufstehen, Heben und Tragen äußert (nicht jedoch beim Lachen/Husten oder Niesen). Auch längere Spaziergänge sind momentan dadurch nicht möglich. Die Patientin hat einen 7 Wochen alten Säugling zu betreuen ist dieser unruhig und will viel getragen werden, leidet die Patientin unter überlastungsbedingten Kreuzschmerzen. Der Leidensdruck ist mäßig (VAS 3-4/10), die Patientin schämt sich, was sich auch auf ihr Sexualleben auswirkt.
Die Planungsphase Ziel der Patientin: kein unfreiwilliger Harnverlust mehr Therapieziel: Vollständige Kontinenz nach Abschluss der Behandlungsserie durch eine Wiederherstellung der dehnungsreaktiven Kontraktionsfähigkeit des Beckenbodens ( Trampolineffekt ) zur Rehabilitation der Funktion der abdominopelvinen Leibeshöhle
Erstellung des Therapieplans: Einzeltherapie (5 Einheiten á 60 Min, alle 14 d, im Hausbesuch) Fit nach der Geburt : Rückbildungsgymnastik in der Gruppe (1x/Wo für 1 Semester) Hausübungsprogramm (täglich PFMT: sowohl contract-relax, als auch rasche Sequenzen)
Inhalte: Information, Aufklärung über Anatomie und Pathophysiologie Übungen zur Wahrnehmungs- und Haltungsschulung (Füße, physiologische Aufrichtung der WS, Atmung, Beckenboden) Übungen zum Sphincterverschluss aktiv reaktiv (PFMT) Craniosacraltherapie (Techniken an Sacrum und Diaphragma pelvis) Quelle: Sobotta
Inhalte Beratung: Ökonomisches Bücken/Heben/Tragen Stillpositionen Essen & Trinken Soforthilfen (Hustendreh, The Knack)
Die Umsetzungsphase 1 Behandlungsbeispiel: Bridging mit dem Pezziball Quelle: L. Tacke und M. Stüwe: Rückbildungsgymnastik: Die Übungskarten, Hippokrates 2010
Die Umsetzungsphase 2 Quelle: Beckenboden, Tanzberger, Urban und Fischer, 2004 Behandlungsbeispiel: Die schräge Wandwalze
Die Umsetzungsphase 3 Therapieabschluss: Patientin ist wieder kontinent, wenn auch noch eine gewisse Unsicherheit vorhanden ist; Sie hat gelernt, vor erwartetem erhöhtem Bauchinnendruck bewusst den Beckenboden zu verschließen ( Knack-Manöver ). Wiederbefundungsparameter (Evaluation): Leidensdruck: VAS 0/10 Unfreiwilliger Harnverlust: Menge: 0 Kreuzschmerzen : seit der 3. Einheit nicht mehr vorhanden
Zusammenfassung Ziel muss sein: unsere Klientinnen/Patientinnen zu motivieren, regelmäßig PFMT zu machen! http://www.frauengesundheitwien.at/projekte/abgeschlossene_projekte/nach_themen/har ninkontinenz/alles_unter_kontrolle.html
Für Ihre Aufmerksamkeit!
Anhang: Weitere Indikationen für Physiotherapie im Bereich Uro-, Prokto-, Gynäkologie können sein: Miktions- und Defäkationsstörungen, Anismus, Inkontinenz, Senkungsszustände (Prolaps), sexuelle Dysfunktionen, chronic pelvic pain (manche dieser Diagnosen treffen Männer wie Frauen, manche auch Kinder)
Literatur Bø, K., L. C. M. Berghmans, et al., Eds. (2007). Evidence-Based Physical Therapy for the Pelvic Floor: Bridging Science and Clinical Practice. London, Elsevier.(new edition due for publication late 2013 / early 2014). Boyle, R., E. J. C. Hay-Smith, et al. (2009). "Pelvic Floor Muscle Training for Prevention and Treatment of Urinary and Fecal Incontinence in Antenatal and Postnatal Women: A Short Version Cochrane Review." Hay-Smith, J., B Berghmans, et al. (2009). Adult conservative management.international Consultation on Incontinence. Health Publications Ltd. 2: pp. 1025-1120 Heller, A. Nach der Geburt. Wochenbett und Rückbildung. Thieme, 2002 Henscher, U. Physiotherapie in der Gynäkologie. Thieme, 2004 Irion, J.M. und Irion, G.L. Women s Health in Physical Therapy. Lippincott W&W, 2010 Tacke, L. und Stüwe, M. Rückbildungsgymnastik: Die Übungskarten. Hippokrates, 2010 Tanzberger, R. Der Beckenboden- Funktion, Anpassung und Therapie. Das Tanzberger-Konzept. Urban und Fischer, 2004
Internet: http://www.ics.org/ www.kontinenzgesellschaft.at www.physioaustria.at www.burgenland.hebammen.at