Das eigene Sprachenlernen dokumentieren und reflektieren Mit dem neuen Schuljahr beginnt die flächendeckende Einführung des Europäischen Sprachenportfolios (ESP) an den Mitte/schulen. Die Kantonsschule Zürich Birch gehört zu den ersten zwei Pilotschulen und setzt das ESP heute konsequent ein. Der Tenor bei Schülerinnen und Schülern, Lehrpersonen, Schulleitung und Projektverantwortlichen ist positiv. Text: Jaoquellne OlMer Fotos: Johannes Heinzer Französischunterricht der Klasse MN3 an der Kantonsschule Zürich Birch (KZB). Die Sc)iülennnen und Schüler schauen einen Kurzfllm aus dem Episodenfllm «Paris, je t'aime». Auf einem Blatt beantworten sie Fragen zum Film nach dem Prinzip «Richtig oder Falsch». Auf der Rückseite des Blattes geben sie anschliessend eine Selbsteinschätzung ihrer Leistung ab: «Ich kann in Kurzfilmen die Hauptpunkte verstehen oder Hinweise aus dem Kontext nutzen, um mein Verstehen zu überprüfen.» Vier Bewertungsmöglichkeiten stehen zur Auswahl: ungenügend, genügend, gut, sehr gut. Die Schtiler überlegen kurz, bevor sie ihr Kreuzchen setzen. Dann spielt Christine Sidler den Film ein zweites Mal ab. Danach sollen die Schüler die Geschichte nacherzählen und in Zweierteams mündlich weitere Fragen auf dem Blatt beantworten. Auch nach dieser Übung drehen sie das Blatt um und nehmen eine Selbsteinschätzung vor: «Ich kann die Handlung eines Films wiedergeben und meine Reaktionen beschreiben.» Im dritten Teil schliesslich geht es um ein kurzes Rollenspiel - wieder zu zweit aufgrund dessen die Schülerinnen und Schüler darüber urteilen, wie gut sie ein einfaches Gespräch führen, eigene Gefühle ausdrücken und auf Gefühlsäusserungen anderer reagieren können. Seibsteinschätzung ist wichtig Welche Kompetenzen in dieser Stunde geübt werden sollten, hat Lehrerin Christine Sidier gleich zu Beginn der Stunde bekanntgegeben: hören, zusammenhängend sprechen, an Gesprächen teilnehmen. Sie entsprechen dem Niveau Bi, wie es durch das Europäische Sprachenportfolio (ESP) definiert wird. Seit einem Semester arbeitet die Klasse MN3 mit diesem Instrument, das vom Europarat lanciert wurde und in einem Raster von sechs Niveaustufen grundlegende Fremdsprachkonipetenzen in den Bereichen Verstehen (HörenlLesen), Sprechen (an Gesprächen teilnehmen/zusammenhängendes Sprechen) und Schreiben umschreibt. Mit dem ESP sollen unter anderem die Vergleichbarkeit von Sprachkompetenzen geschaffen, die Mehrsprachigkeit und der Dialog zwischen den Kulturen sowie das lebenslange Sprachenlernen gefördert werden. Für die Schülerinnen und Schüler ist es eine laufende Dokumentation ihrer eigenen Fortschritte und ein Ausweis über ihre erworbenen Fremdsprachenkenntnisse, den sie später beispielsweise einer Bewerbung für eine Stelle beilegen können (weitere Informationen s. Kasten). Einer der wichtigsten Aspekte des ESP ist die Selbsteinschätzung, welche die Schülerinnen und Schüler laufend vornehmen und in ihrem Ordner ablegen. Für Alexandra Feusi und Mixjam Peter von der KLasse MN3 eine neue Erfahrung. «Am Anfang war dies schon recht schwierig, wenn man sich aber daran gewöhnt hat, ist es sehr Lehr- ARG U SO' MGUS de Presse AC küdi9er.strosse 13 Postfach CH-802/ LJrich SeI. Q44 388 8200 F0x0L4 388820] wor9us.ch Ausschnitt Seite 1 / 7
reich», sagt Alexandra, und Mizjam erklärt: «Es ist interessant zu sehen, wo man selber steht und wo man sich verbessern muss.» Beide Schülerinnen lernen darum gerne mit dem ESP. das sie sowohl im Französisch- wie auch im Englischunterricht einsetzen. Welche Vorteile das ESP für ihre berufliche Laufbahn mit sich bringen könnte, haben sich die beiden noch nicht konkret überlegt, Mirjam meint aber: «Es ist sicher positiv, wenn man etwas vorzuweisen hat, auch wenn ich selber kein Sprachstudium machen möchte.» Den Lernprozess dokumentieren und mitverfolgen Das Europäische Sprachenportfolio (ESP) wurde 2001 publiziert und basiert auf dem Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmen für Sprachen (GER), der Sprachkompetenzen in sechs Niveaustufen und in fünf Teilfertlgkeiten (hören, lesen, an Gesprächen teilnehmen, zusammenhängendes Sprechen, Schreiben) einteilt. Die sechs Niveaustufen entsprechen den drei Teilbereichen elementare Sprachverwendung (Ai/A2), selbstständige Sprachverwendung (Bit B2) und kompetente Sprachverwendung (C1/C2). Das ESP hat zum Ziel, den Lernenden aufzuzeigen, wo sie sich in ihrem Lernprozess befinden, wie dieser abläuft und wie er optimiert werden kann. Es besteht aus den Teilen Sprachenpass, Sprachbiografie und Dossier. Schülerinnen und Schüler dokumentieren im Sprachbiografieteil ihre Spracherfahrungen, setzen sich Lernziele und reflektieren ihren Lernprozess sowie ihre interkulturellen Kompetenzen. Im Dossier illustrieren sie ihre aktuellen Sprachkenntnisse mit exemplarischen Arbeiten, und bei wichtigen Anlässen füllen sie den Sprachenpass aus, der interessierten Personen (z. B. mögliche Arbeitgeber) Auskunft über ihre Fremdsprachenkenntnisse gibt. Das Portfolio dient somit einerseits als Informationsinstrument und andererseits als Lernbegleiter. (Martina Widar Fachstelle Fremdsprachen, Mittelschul- und Berufsbildungsamt) Unterricht wird transparenter Neben den Selbsteinschätzungen der Schülerinnen und Schüler geben auch die Lehrpersonen wie gewohnt ihre Beurteilungen ab. Dies könne und müsse aber nicht immer parallel geschehen, wie Christine Sidler zu verstehen gibt. «Bei Übungen, wie wir sie heute gemacht haben, kann ich die Arbeit der Schüler natürlich nicht beurteilen, ich nehme bei anderen Gelegenheiten eine Fremdeinschätzung vor.» Wichtig sei das Gesamtbild von Selbstund Fremdeinschätzungen, das sich für den Schüler ergebe und das Bewusstsein für den Prozess des Sprachenlernens wachsen lasse. Die Lehrperson selber werde durch die Anwendung des ESP gezwungen, sich noch konkreter zu überlegen, wie sie die Stunde gestalten. wie sie was erklären wolle, weil die Ziele jeder Stunde zu Beginn klargemacht werden müssten. «Dadurch wird der Unterricht auch für die Schülerinnen und Schüler transparenter», ist Christine Sidler überzeugt. Als einen Gewinn nicht nur für die Klassen, sondern ebenso für sie persönlich sieht sie die Aufforderung der Projektverantwortlichen an die Lehrpersonen, Ausschnitt Seite 2 / 7
sprachfächerübergreifende Projekte durchzuführen, womit unter anderem der Kulturaustausch gefördert werden soll. Die Jugendlichen arbeiten konzentrierter Auch Ensieh Namdar, die ebenfalls Französisch unterrichtet, wertet die neue Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Sprachlehrpersonen als sehr positiv. So hat sie vor Kurzem ihre 1. Klasse im Englischunterricht besucht und den Unterricht gemeinsam mit der Englischlehrperson gestaltet. «Wir haben immer beide die Aufgaben erklärt und dabei auch mal die Sprachen getauscht. Bei den Schülern hat es grosses Staunen hervorgerufen, dass ihre Französischlehrerin auch Englisch spricht und der Englischlehrer auch Französisch.>' Solche «Experimente» verlangten von den Lehrpersonen eine gewisse Offenheit. räumt Ensieh Namdar ein, die meisten Lehrpersonen an ihrer Schule hätten diese Offenheit. Und auch wenn viele Lehrpersonen dies anfänglich befürchtet hätten: Das ESP mache das Unterrichten nicht aufwendiger. «Neu ist im Grunde nur, dass nun die Kompetenzen und Ziele der Schüler mithilfe von Deskriptoren genau umschrieben werden: <Ich kann...>, dch will...>. Solche Deskriptoren zu einer Übung kann man auch mal selber formulieren, das ist kein grosser Aufwand.» Wie ihre Erfahrung zeige, arbeiteten die Jugendlichen generell konzentrierter und produktiver, wenn sie wüssten, dass sie sich selber einschätzen müssten. Und die Mehrheit der Schüler nehme die Selbsteinschätzung auch sehr gründlich und bewusst vor. ESP unterstützt das selbst organisierte Lernen Dass die Kantonsschule Zürich Birch gemeinsam mit der Kantonsschule Freudenberg die erste Mittelschule war, die vor drei Jahren das ESP einführte, hatte ganz praktische Gründe: «2005 befanden wir uns mitten im Umbruch», erklärt Rektorin Susan Togmna, «aus der Diplommittelschule, der grossen Abteilung unserer Schule, wurde die Fachmittelschule und wir mussten von Grund auf neue Lehrpläne erarbeiten. Dies stellte uns vor die Entscheidung, ob wir bei dieser Gelegenheit das ESP gleich mit aufnehmen wollten oder nicht.» Der Entscheid zugunsten des ESP sei dann ziemlich rasch gefallen. «Wir hatten ohnehin vor, einen kompetenzorientierten Lehrplan auszuarbeiten, Lehr- und Lernprozesse sollten transparent sein, es sollte ein Dialog darüber entstehen, da passte das ESP perfekt ins Konzept.» Mehr noch: Das ESP habe der Schule die Grundlagen geliefert, um die Lernprogramme, mit denen dieses Konzept heute in allen Fächern umgesetzt wird, zu gestalten. Ausschnitt Seite 3 / 7
«Es ist interessant zu sehen, wo man selber steht und wo man sich verbessern muss.)> Alexandra Feusi und Mirjam Peter SchCilennnen MN3 «Gewisse Freiheiten der Lehrpersonen bedeuten eine grössere Vielfalt der Anwendungsformen.» Christina Vogel und Carina Maltsis, Projektleiterinnen Wie die Rektorin fortfährt gebe es einen weiteren Grund, weshalb die KZB von Anfang an auf den ESP-Zug aufgespnmgen sei: die zweisprachige Matura, die an ihrer Schule angeboten wird. Für diesen Lehrgang habe man analog zu den im ESP vorgegebenen eigene Kompetenzen und i)eskriptoren formuliert. Damit man den Schülerinnen und Schülern, welche den zweisprachigen Lehrgang wählten, aufzeigen könne, was sie anders oder mehr lernten als ihre Kameraden In den deutschsprachigen Klassen, sagt Susan Tognina. die selber Englisch unterrichtet. Ihre Bilan7 nach drei Jahren: «Unsere Erfahrungen mit dem ESP sind sehr gut. Viele Dinge, die für uns Lehrpersonen klar sind, können sich die Schüler dank dem EP selber klarrnachen, zum Beispiel, wann sie eine Sprache leichter lernen als eine andere oder welche Verwandtscbaften zwi- Ausschnitt Seite 4 / 7
schen den verschiedenen Sprachen bestehen. Dabei ist das ESP immer nur ein Vehikel.» Eines, das die Reflexion und das selbst gesteuerte Lernen förden, weshalb Susan tognina festhält: «Das Ziel der Mittelschule ist die 5Wdierfähikeit der Maturandinnen und Maturancien. die unter anderem das selbst organisierte Lernen beinhaltet. Das ESF ist ganz auf dieser Linie» Umsefrungsvielfalt zulassen Nachdem man mi Schuljahr 2Q05/06 mit drei Klassen und sechs Lehrpersonen begonnen hatte, wurde das ESP in der Kantonsschule Zürich Birch sehr rasch in den jeweils neuen Klassen eingeführt. Ein Tempo. dem Christina Vogel, die gemeinsam mit Carina Malt- Ausschnitt Seite 5 / 7
Einführung des ESP an Mittel- und Berufsfachschulen 2004 empfahl die Erziehungsdirektorenkonferenz (EDK) die allgemeine Einführung des ESP, worauf die Fachstelle Fremdsprachen des Mittelschul- und Berufsbildungsamts das Instrument den Sprachlehrpersonen der Sekundarstufe II an einer Impulstagung erstmals vorstellte. Seither organisiert sie jedes Jahr zwei halbtägige Erfahrungsaustausch-Treffen zur Arbeit mit dem Sprachenportfolio. 2005 bis 2008 wurde ein Pilotprojekt zur Einführung des ESP an Mittel- und Berufsfachschulen durchgeführt, welches zeigte, dass die Lernenden gut mit dem Instrument arbeiten können und es gewinnbringend für den Unterricht eingesetzt werden kann. Für die generelle Einführung des Portfolios an den Berufsfach- und Mittelschulen entwickelte die Fachstelle Fremdsprachen ein Handbuch und die Materialplattform www.espzh.ch, die die Lehrpersonen bei der Arbeit mit dem ESP unterstützen. 2008 begann die stufenweise Einführung des ESP an den Berufsfachschulen, 2009 folgt nun diejenige an den Mittelschulen. In einer zweitägigen Ausbildung werden ausgewählte ESP-Koordinationspersonen von jeder Schule in die Arbeit mit dem ESP eingeführt. Sie arbeiten danach mit dem Instrument im eigenen Unterricht und entwickeln anschliessend zusammen mit ihren Fachschaften ein schulspezifisches Konzept zur generellen Einführung des ESP an ihrer Schule. Gemäss diesem Konzept wird das ESP bis 2012 eingeführt. Martina Wider; Fachstelle Fremdsprachen, Mittelschul- und Berufsbildungsamt «Das ESP ist ganz auf der Linie des selbst organisierten Lernens.» Susan Tognina, Rektonn sis die Projektverantwortung innehat, anfangs mit Skepsis begegnete. «Die Lehrpersonen brauchen natürlich etwas Zeit, um dieses Instrument kennenzulernen und es pädagogisch gewinnbringend einsetzen zu können», sagt sie, «darum war ich zunächst der Ansicht, die Einführung müsste auf freiwilliger Basis stattfinden.» Rückblickend sieht sie die rasche flächendeckende Einführung innerhalb der Schule aber positiv. «Wenn die Schülerinnen und Schüler das ESP von Anfang an in einer zweiten und allenfalls in einer dritten Sprache verwenden können, erkennen sie den Sinn schneller.» Bei einer so vorangetriebenen Einführung müsse man im Gegenzug aber akzeptieren, dass nicht alle Lehrpersonen mit der gleichen Intensität und im selben Rhythmus das ESP im Unterricht umsetzten, erklärt Christina Vogel an die Adresse jener Schulen gerichtet, welche die Einführung noch vor sich haben. Gewisse Freiheiten der Lehrpersonen bedeuteten auch eine grössere Vielfalt der Anwendungsformen, fährt sie fort. Auch die Art und Weise, wie die Implementierung erfolge, müsse sicher der Schule überlassen werden. «Wir hatten am Anfang eine fixe ESP -Lektion im Stundenplan aufgeführt, dies ist zwar ideal, aber natürlich eine Frage von Finanzen und personellen Ressourcen.» Wichtig sei jedoch, dass die theoretischen Erklärungen, welche das ESP zu Beginn in der Klasse benötige, immer mit dem praktischen Unterrichtsinhalt verbunden würden. Die Literatur kommt (noch) zu kurz Ziemlich schnell habe man an der KZB jedoch gemerkt, dass die ursprüngliche Ausschnitt Seite 6 / 7
Gliederung und Gestaltung des ES?- Ordners im AJ.itag zu unübersichtlich und für die Schülerinnen und Schüler zu wenig ansprechend sei. «Darum haben wir für unsere Schule eine etwas schlankere Version entworfen», sagt Christina Vogel. «als Piiotschule wollten wir da auch etwas experimentieren.» Ausserdem habe man festgestellt, dass die Literatur in der heutigen Fassung zu kurz komme, weshalb sich seitens der Gymnasien auch Widerstand gegen das ESP geregt habe. «Da ich auch an der Universität tätig bin, habe ich nun angefangen, Deskriptciren für Literaturkompetenzen zu formulieren, in der Hoffnung. dass dieser Versuch eintliesst in eine spätere Überarbeitung des ES?.» Laut Christina Vogel eine Chance. um sich explizit mit Fragen zu Kernkompetenzen im Bereich der Literatur auseinanderzuset2en, Ein Anliegen, das die volle Unterstützung von Rektorin Susan Tognirni geniesst: «Die Lehrpersonen müssten sich dafür stärker vernetzen, was eine Aufwertung der Literatur bedeuten würde.» Allfäilige Ängste, die Lehrpersonen würden in ihrer Auswahl der zu besprechenden Werke eingeschränkt, teilt Susan Tognina nicht. '<Die Deskriptoren sind ja in der Regel sehr weit gefasst und würden die Freiheit der Lehrpersonen nicht beschneiden. Gewisse Kernkompetenzen zu definieren wäre aber sehr wichtig und auch für die Hochschulen relevant.» Ausschnitt Seite 7 / 7