Rainer Sachse Persönlichkeitsstörungen verstehen Zum Umgang mit schwierigen Klienten
Prof. Dr. Rainer Sachse, geb. 1948, ist Leiter des Instituts für Psychologische Psychotherapie (IPP) in Bochum. Er hat zahlreiche Bücher vor allem zur Psychotherapieforschung und zur therapeutischen Beziehungsgestaltung veröffentlicht (u. a. bei Hogrefe). Bekannt sind auch seine paradoxen Ratgeber:»Wie ruiniere ich meine Beziehung aber endgültig«;»selbstverliebt, aber richtig«;»schwarz ärgern, aber richtig«(klett-cotta und dtv).
Rainer Sachse Persönlichkeitsstörungen verstehen Zum Umgang mit schwierigen Klienten
Rainer Sachse Persönlichkeitsstörungen verstehen Zum Umgang mit schwierigen Klienten 2. Auflage 2011 ISBN-Print: 978-3-88414-508-1 ISBN-PDF: 978-3-88414-710-8 ISBN-ePub: 978-3-88414-810-5 Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. Weitere Informationen zu psychischen Störungen und ihrer Behandlung im Internet unter: www.psychiatrie-verlag.de Psychiatrie-Verlag GmbH, Bonn 2010 Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf ohne Zustimmung des Verlags vervielfältigt, digitalisiert oder verbreitet werden. Lektorat: Ingeborg Sahm, Köln Umschlaggestaltung: p.o.l: kommunikation design gmbh, Köln Typografiekonzeption: Iga Bielejec, Nierstein Satz: Psychiatrie-Verlag GmbH, Bonn Druck und Bindung: CPI books, Leck
Der Zweck des Buches 7 Persönlichkeitsstörungen sind Beziehungsstörungen 11 Persönlichkeitsstörungen sind nicht pathologisch 13 Wie sich Klienten mit einer Beziehungsstörung verhalten 17 Wann ist eine Störung eine Störung? 20 Wo Diagnosen hilfreich sind und wo ihre Grenzen liegen 23 Wie man Persönlichkeitsstörungen verstehen kann 26 Das Modell der doppelten Handlungsregulation 26 Die Befriedigung von Wünschen auf der Motivebene 27 Aus der Biografie abgeleitete Grundannahmen auf der Ebene der Schemata 29 Manipulatives Verhalten auf der Spielebene 31 Selbstdarstellung durch Images und Appelle 33 Tests: Warum Klienten ihre Therapeuten testen 35 Charakteristika von Klienten mit Persönlichkeitsstörungen 37 Ich-Syntonie: Wie Klienten ihre Erfahrungen verinnerlichen 37 Repräsentation: Warum Klienten sich nicht als Teil des Problems sehen können 38 Geringe Änderungsmotivation als logische Konsequenz verstehen 41 Die Klienten kommen meist nicht wegen der Persönlichkeitsstörung in Therapie 42 Klienten mit Persönlichkeitsstörungen sind beziehungsmotiviert 44 Verwicklung in Spiele 46 Professionelle Helfer leisten therapeutische Arbeit in Alltagssituationen 47
Therapeutische Möglichkeiten und Strategien 50 Komplementarität zur Motivebene: Wünsche erfüllen und Defizite aufdecken 50 Komplementarität zur Spielebene oder: Das Problem von Nähe und Distanz 52 Konfrontation mit Spielen ein therapeutisches Muss 53 Komplementarität und Konfrontation gehören zusammen 54 Bestehen von Tests 56 Aufbau und Verstärkung von Alternativverhalten 56 Die persönliche Haltung des Therapeuten 57 Besonderheiten der einzelnen Persönlichkeitsstörungen 58 Narzisstische Persönlichkeitsstörung 58 Histrionische Persönlichkeitsstörung 68 Dependente Persönlichkeitsstörung 77 Selbstunsichere Persönlichkeitsstörung 84 Passiv-aggressive Persönlichkeitsstörung 88 Schizoide Persönlichkeitsstörung 94 Paranoide Persönlichkeitsstörung 98 Zwanghafte Persönlichkeitsstörung 104 Die Beratung von Angehörigen 112 Die Situation von Angehörigen 112 Was Angehörige verändern können 113 Wie Therapeuten Angehörige unterstützen können 114 Die Zusammenarbeit im Team 116 Literatur 119
7 Der Zweck des Buches Klienten mit sogenannten Persönlichkeitsstörungen gelten im Allgemeinen als schwierig: Als Klienten, die an Therapeuten, Bezugstherapeuten, Pflegepersonal, ja an alle Interaktionspartner hohe Ansprüche stellen, die gleichzeitig jedoch wenig kooperativ sind, sich wenig an Regeln halten,»nervig«sind, zu denen man nur schwer Kontakt bekommt. Als Klienten also, die gerade im Stationsalltag große Probleme bereiten (vgl. Fiedler 2007; LeLord & André 2009; Trautmann 2004). Andererseits sind dies aber auch Klienten, die gerade im Stationsalltag, im Setting der Psychiatrie, eine große Rolle spielen. Viele Klienten mit Persönlichkeitsstörungen lassen sich bei Krisen stationär einweisen und hoffen auf Hilfe. Auf allgemeinpsychiatrischen, psychotherapeutischen und auch anderen Stationen sind diese Klienten daher besonders häufig anzutreffen. Sie stellen insbesondere für das Pflegepersonal, aber auch für Ärzte, Psychologen, Sozialarbeiter, Ergotherapeuten, für alle, die als Bezugstherapeuten tätig sind, eine große Herausforderung dar. Diese Klienten nehmen oft keine Ratschläge an, folgen keinen Anweisungen, scheinen nicht aus Erfahrungen zu lernen und produzieren immer wieder von neuem Verhaltensweisen, die ihre Interaktionspartner ärgern oder hilflos machen. Um mit diesen Klienten umgehen zu können, benötigt man ein besonderes Wissen, ein tieferes Verständnis davon, wie die Klienten»psychisch funktionieren«, was sie wollen, wie sie denken und fühlen und warum sie so handeln, wie sie handeln. Und man benötigt Strategien zum Umgang mit ihnen. Dieses Buch versucht nun, den Lesern ein solches tieferes Verständnis persönlichkeitsgestörter Klienten nahezubringen und elementare Strategien im Umgang mit ihnen zu erläutern. Es wendet sich an psychotherapeutisch tätige Ärzte und Psychologische Psychotherapeuten, aber auch an Pflegende, die mit diesen Klienten täglich interagieren, an Ergotherapeuten, an Angehörige und alle, die ein grundlegendes Verständnis dieser Störungen gewinnen wollen. Das Buch versucht dafür zu werben, diesen Klienten ganz anders als bisher gegenüberzutreten, sie ganz anders als bisher zu behandeln und ihnen damit neue Chancen der eigenen Veränderung einzuräumen. Der Umgang aller Beteiligten mit diesen Klienten wird hier immer
8 Der Zweck des Buches als ein therapeutischer Umgang betrachtet: Pflegende können, da vor allem sie sehr viel Kontakt mit den Klienten haben, großen therapeutischen Einfluss auf sie ausüben. Ärzte und Psychologen und alle, die als Bezugstherapeuten arbeiten, können durch ihr Verhalten Änderungsprozesse bei den Klienten anregen. Alle Fachgruppen arbeiten in diesem Sinne definitionsgemäß therapeutisch, denn ihre Arbeit zielt darauf ab, einen konstruktiven Einfluss auf die Klienten auszuüben. Therapeuten sind diese Personen nicht im berufsrechtlichen Sinne, aber sie sind es in ihrer jeweiligen Funktion: Sie können gezielt und therapeutisch-strategisch mit den Klienten umgehen und auf diese Weise zu konstruktiven Veränderungen bei ihnen beitragen. Allen, die therapeutisch mit Klienten umgehen, die sogenannte Persönlichkeitsstörungen aufweisen, sollte Folgendes deutlich sein: Solche Klienten sind aufgrund ihrer jeweiligen Störung in der Tat interaktionsschwierig. Diese Schwierigkeit ist Teil ihrer Störung. Diese Klienten sind durch therapeutische Strategien nur schwer zu erreichen. Daher müssen besondere Strategien sehr gezielt eingesetzt werden. Und diese Strategien müssen lange und konsequent durchgehalten werden, wenn sie erfolgreich sein sollen. Das bedeutet, dass Therapeuten davon ausgehen müssen, immer nur sehr langsam Veränderungen initiieren zu können, Schrittchen für Schrittchen, mit langen Phasen, in denen kaum Veränderung bemerkbar ist. Therapeuten brauchen also viel Geduld und eine hohe Frustrationstoleranz! Für das Team einer Station, Beratungsstelle oder Wohngruppe, in der sich persönlichkeitsgestörte Klienten aufhalten, ist wichtig, dass die verschiedenen Berufsgruppen eng kooperieren. Personen, die in der Diagnostik geschult sind, sollten ihre Informationen an andere Teammitglieder weitergeben, denn die richtige Diagnose ist für alle wichtig, um zu entscheiden, wie sie genau mit einem Klienten umgehen sollen. Personen, die viel mit dem Klienten interagieren, also viele Informationen über sein konkretes Verhalten bekommen (etwa Pflegende), sollten wiederum diese Informationen an die anderen Teammitglieder weitergeben, die den Klienten nur zeitlich eng begrenzt sehen (wie z. B. Ärzte und Psychologische Psychotherapeuten). Alle zusammen sollten Strategien zum Umgang mit dem Klienten abstimmen, sodass sich alle Beteiligten dem Klienten gegenüber konsistent verhalten und ihm keine widersprüchlichen Rückmeldungen geben. Das bedeutet, dass es im Team idealerweise einen hohen Informati-
Der Zweck des Buches 9 onsaustausch gibt, was es Klienten erschwert, Mitglieder des Teams gegeneinander auszuspielen. Will man jedoch mit derart schwierigen Klienten konstruktiv umgehen, dann benötigt man neben einem guten Informationsfluss auch eine theoretische Basis, aufgrund derer man das Verhalten der Klienten analysieren und Strategien zum Umgang mit ihnen planen kann. Dieses Buch soll eine solche Basis liefern. Es stellt ein Verständnis von Persönlichkeitsstörungen als Beziehungsstörungen dar und ermöglicht ein vertieftes Verständnis der einzelnen Störungen. Es dient dazu, auf der Basis dieses Verständnisses therapeutische Strategien zu entwickeln, die dem Klienten eine konstruktive Veränderung ermöglichen oder eine solche Veränderung zumindest vorbereiten. Die Strategien, die in diesem Buch vorgeschlagen werden, erleichtern auch den Umgang mit den Klienten, erhöhen ihre Bereitschaft zur Mitarbeit und machen sie»erreichbarer«. Sie tragen zur Reduzierung von Konflikten und zur Verbesserung der Atmosphäre bei. Bevor man diese Strategien umsetzen kann, ist es wichtig, die sogenannten Persönlichkeitsstörungen besser zu verstehen. Dazu dienen die ersten drei Kapitel: Es wird erläutert, was man unter Persönlichkeitsstörungen verstehen kann, wie diese Störungen»psychologisch funktionieren«und welche Konsequenzen sich aus diesem Verständnis ergeben. Das vierte Kapitel beschäftigt sich dann mit den therapeutischen Prinzipien, die man beim Umgang mit diesen Klienten berücksichtigen sollte. Die folgenden Kapitel behandeln die Besonderheiten der einzelnen Persönlichkeitsstörungen, wobei die acht Persönlichkeitsstörungen im engeren Sinne dargestellt werden. Dazu zähle ich nicht die in den letzten Jahren sehr»in Mode«gekommene Diagnose Borderline. Diese ist nach neuen Forschungsergebnissen keine reine Persönlichkeitsstörung, sondern zu einem großen Teil eine neuropsychologisch erklärbare Regulationsstörung, bei der Funktionsstörungen in unterschiedlichen Hirnarealen vorliegen. Sind solche Störungsaspekte vorhanden, reicht»reine«psychotherapie, wie ich sie hier beschreibe, nicht aus, sondern man benötigt spezielle Trainingsprogramme, deren Berücksichtigung den Rahmen dieses Buches gesprengt hätte. Mir kommt es darauf an, was man im persönlichen Umgang erreichen kann. Ich werde im Folgenden immer davon ausgehen, dass zwei Personen interagieren: Eine Person, die mehr oder weniger starke Ausprägungen davon aufweist, was man eine Persönlichkeitsstörung nennt. Diese werde ich»klient«nennen (da»patient«mir zu pathologisie-
10 Der Zweck des Buches rend erscheint). Und eine zweite Person, die professionell mit diesem Klienten zu tun hat, die in der Rolle eines Helfers und Förderers ist. Da diese Person, egal ob sie von ihrer Profession her primär Therapeut ist oder nicht, sich in einer therapeutischen Funktion befindet, werde ich sie»therapeut«nennen. Damit ist nicht gemeint, dass man dem Klienten gegenüber formal als Psychotherapeut auftreten muss, sondern, dass man dem Klienten gegenüber eine therapeutische, eine ihn fördernde oder unterstützende Funktion einnimmt.