VORWORT. Hegelians. Politics and Philosophy in the Hegelian School. Hrsg. von Douglas Moggach, Cambridge 2006, S. 24 49.



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Transkript:

VORWORT Hegelianismus und Saint-Simonismus dieser Titel bezeichnet ein Forschungsfeld, auf dem vorrangig die folgenden Fragenkomplexe bearbeitet werden: (1.) Welche ideengeschichtlichen Zusammenhänge bestehen zwischen der Hegelschen und der saint-simonistischen Theorie? Welche Theoriebildungen haben die Berührung und das Zusammenwirken von saint-simonistischen und Hegelschen Ideen auf den Gebieten der Religions- und Geschichtsphilosophie, vor allem aber auf dem Gebiet der Sozialphilosophie begünstigt? (2.) In welchem systematischen Verhältnis stehen die Theorien Claude Henri de Saint-Simons und seiner Schüler einerseits sowie die philosophischen Systeme Hegels und seiner Schüler andererseits? Welche grundbegrifflichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede gibt es hier? Und welches aktuelle Interesse haben diese Theorien? Sowohl in ideengeschichtlicher als auch in systematischer Hinsicht erscheint eine Untersuchung dieser Fragen vielversprechend. In ideengeschichtlicher Hinsicht ist daran zu erinnern, dass das berühmte Staatslexikon von Rotteck und Welcker, ein bedeutendes Dokument des südwestdeutschen Liberalismus, schon 1839 einen Zusammenhang von Saint-Simonismus und Hegelianismus betonte, der an der deutschen Rezeption des Saint-Simonismus abzulesen sei. 1 Die wenigen neueren Untersuchungen zur deutschen Rezeptionsgeschichte der französischen Soziallehre bestätigen diesen Befund, 2 ohne diesen Zusammenhang aufzuklären. Zwar konnte inzwischen gezeigt werden, dass die Berührung saint-simonistischer und Hegelscher Ideen nicht nur eine Inspirationsquelle für Marx war, sondern auch zu einer Reihe weniger bekannter Alternativen in der Theoriebildung geführt hat, deren Relevanz erst viel später deutlich wurde; genannt seien hier Eduard Gans proto-gewerkschaftliche Option 3 oder Lorenz von Steins pionierhafte und wirkunsgmächtige Konzeption eines sozialen Rechtsstaates. Allerdings sind die fraglichen ideengeschichtlichen Entwicklungen insgesamt nur lückenhaft erforscht; die Rolle und Bedeutung einiger in diesem Zusammenhang offenkundig wichti- 1 Staatslexikon oder Enzyklopädie der Staatswissenschaften. Hrsg. von Carl von Rotteck und Carl Welcker. Altona 1834 1848, hier Bd. VII (1839), S. 620. 2 Zum Beispiel Thomas Petermann, Der Saint-Simonismus in Deutschland. Frankfurt/Main 1983, S. 83. 3 Vgl. hierzu N. Waszek,»Eduard Gans on poverty and on the constitutional debate«, in: The New Hegelians. Politics and Philosophy in the Hegelian School. Hrsg. von Douglas Moggach, Cambridge 2006, S. 24 49.

8 Vorwort ger Figuren (wie Friedrich Wilhelm Carové und Heinrich Heine) sind weiterhin klärungsbedürftig. Ein systematisch angelegter Vergleich der saint-simonistischen Theorie mit der Hegelschen Sozialphilosophie ist bisher noch nicht unternommen worden. 4 Was eine solche Untersuchung philosophisch und sozialwissenschaftlich interessant erscheinen läßt, ist die Tatsache, dass Hegel und die Saint-Simonisten eine in vielen Punkten übereinstimmende Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen ihrer Zeit äußern, gleichwohl aber soziale Theorien entwickelt haben, die sich prima facie in wesentlichen Hinsichten voneinander unterscheiden. In der Tat sahen die Saint-Simonisten in der durch die Französische Revolution und die beginnende Industrialisierung forcierte Verrechtlichung und Ökonomisierung vieler gesellschaftlicher Bereiche eine Entwicklung, die sowohl das Wohl der einzelnen Bürger als auch den Zusammenhalt der Gesellschaft als ganzer gefährdet. Auf ähnliche Weise äußert sich Hegel, wenn er feststellt, dass die europäischen Gesellschaften des frühen 19. Jahrhunderts durch einen Verlust der»macht der Vereinigung«und durch eine zunehmende Verfestigung von»gegensätzen«geprägt seien. 5 Unbeschadet dieser zeitdiagnostischen Übereinstimmungen weisen die Hegelsche und die saint-simonistische Theorie offenkundig wesentliche Unterschiede auf. So sahen die Saint-Simonisten in ihrer Doktrin das Programm eines»nouveau régime social«, also eines erst noch zu errichtenden Gemeinwesens. 6 Demgegenüber vertrat Hegel den Standpunkt,»daß die Philosophie, weil sie das Ergründen des Vernünftigen ist, eben damit das Erfassen des Gegenwärtigen und Wirklichen, nicht das Aufstellen eines Jenseitigen ist«. 7 Diese Argumente lassen vermuten, dass Hegel und die Saint-Simonisten auf die Wahrnehmung ähnlicher intellektueller, moralischer und sozialer Probleme theoretisch verschieden reagiert haben. Eine Konfrontation dieser Theorien verspricht deshalb, informativ und aufschlussreich zu sein. Die vorliegende Aufsatzsammlung ist hervorgegangen aus einer interdisziplinären wissenschaftlichen Tagung, die vom 11. bis 13. Dezember 2002 am Deutschen Historischen Institut (DHI) in Paris stattfand. Historiker und Philosophen aus Deutschland, Frankreich und den USA konnten in diesem Rahmen intensiv und in anregender Atmosphäre die eingangs genannten Fragestellungen diskutieren. Die wissenschaftliche Planung dieser Konferenz erwuchs aus einer Zusam- 4 Vgl. hierzu nun aber: Hans-Christoph Schmidt am Busch, Religiöse Hingabe oder soziale Freiheit. Die saint-simonistische Theorie und die Hegelsche Sozialphilosophie, Hamburg: Felix Meiner (im Erscheinen). 5 Vgl. G.W.F. Hegel, Differenz des Fichte schen und Schelling schen Systems der Philosophie, in:werke, Frankfurt a.m.: Suhrkamp, 1986, Bd. 2, S. 22. 6 Vgl. Doctrine de Saint-Simon. Exposition. Première Année. 1828 1829. Seconde Édition. Paris: Bureau de l Organisateur, 1830, S. 77. 7 Vgl. G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, in:werke, Frankfurt a.m.: Suhrkamp, 1986, Bd. 7, S. 24.

Vorwort 9 menarbeit zwischen Wissenschaftlern der Universität Münster (Rüdiger Schmidt, Hans-Christoph Schmidt am Busch, Ludwig Siep und Hans-Ulrich Thamer) und der Universität Paris VIII (Norbert Waszek). Die Finanzierung der Tagung erfolgte aus Mitteln des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten Sonderforschungsbereichs»Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme«(Universität Münster) sowie der französischen Forschungseinrichtung CNRS (UMR 8547:»Pays germaniques: histoire, culture, philosophie«; Direktor: Michel Espagne). In seinem einführenden Beitrag,»Saint-Simonismus und Hegelianismus ein Forschungsfeld«hebt Norbert WASZEK zunächst hervor, dass Hegel selbst den Saint-Simonismus am Ende seines Lebens noch über seinen Schülerkreis (Carové, Gans, K.L. Michelet) wahrgenommen hat. Bei der Entdeckung des Saint-Simonismus durch Hegels Schüler lassen sich klassische Elemente des deutsch-französischen»kulturtransfers«beobachten. Dennoch dürfte es letztlich Hegel gewesen sein, der seine Schüler auf diese Entdeckung durch die Analyse der modernen Gesellschaft, die er im dritten Teil seiner Grundlinien der Philosophie des Rechts leistet, sachlich vorbereitet hat. Die Tatsache, dass seine Antworten auf die»quälende«frage,»wie der Armut abzuhelfen sei«, 8 die Vertreter seiner Schule nicht immer befriedigten, musste sie auf alternative Lösungsansätze neugierig und dafür empfänglich machen. Der Saint-Simonismus schien ihnen Antworten auf Hegelsche Fragen anzubieten; zumindest aber wurden sie durch die französische Soziallehre dazu angeregt, eigenständig neue Lösungen zu suchen. So trug die Interaktion von Saint-Simonismus und Hegelianismus zur Herausbildung innovativer sozialer Ideen und Theorien bei, wie Waszek es an Beispielen illustriert. Innerhalb des Europa-Diskurses so lautet das Ergebnis von Armin OWZARs Beitrag»Vereinigte Staaten oder Kulturen? Saint-Simons Verfassungsprojekt und der Europa-Diskurs im 19. und 20. Jahrhundert«markiert der von Saint-Simon und Augustin Thierry im Jahre 1814 veröffentlichte Entwurf De la réorganisation de la société européenne einen qualitativen Sprung. Denn hier werde erstmals über das konventionelle Anliegen hinaus, eine stabile Friedensordnung für Europa zu schaffen, eine gesamtgesellschaftliche Integration Europas unter dem Dach einer gemeinsamen Verfassung, mit einem gemeinsamen Parlament, systematisch entwickelt. Dieser Entwurf zur Neuordnung Europas hat nach Owzar bis weit ins 20. Jahrhundert hinein eine beträchtliche Wirkung entfaltet. Hans-Ulrich THAMER rekonstruiert in seinem Beitrag»Symbole, Handlungs- und Kommunikationsformen der Saint-Simonisten«den Saint-Simonismus als eine theoretische und soziale Position, in der Technokratie und Theokratie eine enge Verbindung eingehen. Diese Verbindung von rationaler Planung und emotional-spiritueller Gemeinschaftsform weist Thamer durch Analyse der von den Saint-Simonisten betriebenen Diskussionszirkel, ihrer Presse- und Publika- 8 Vgl. G.W.F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, a.a.o., 244, Zs.

10 Vorwort tionstätigkeit sowie ihrer non-verbalen Kommunikationsformen (z. B. Kleidung, Bankette) als charakteristisches Element des Saint-Simonismus nach. Michel ESPAGNE stellt die Hegelrezeption im saint-simonistischen Umfeld in den Mittelpunkt seines materialreichen Vortrags»Hegel-Rezeption in saintsimonistischen Kreisen«. Die verbreitete Vorstellung einer deutsch-französischen Arbeitsteilung (die deutsche Philosophie sei in der Theorie führend gewesen, wohingegen die Franzosen sich auf dem Gebiet der politischen Praxis den Vorrang erobert hätten) wird als korrekturbedürftiger Gemeinplatz der Ideengeschichte des 19. Jahrhunderts kritisiert. Die soziale und politische Bewegung Frankreichs hat sich nämlich keineswegs unabhängig von der deutschen Philosophiegeschichte entfaltet. Espagne belegt diese These an einigen Hauptakteuren der französischen Hegelrezeption (wie Auguste Ott und Louis Prévost), die auch zum geistesgeschichtlichen Kontext des Saint-Simonismus gehören. Ludwig SIEPs Beitrag»Religion und Politik bei Hegel und Saint-Simon«bietet einen Vergleich zwischen Hegels Religionsphilosophie einerseits und Saint-Simons Neuem Christentum und der Theologie der saint-simonistischen Schule andererseits unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Religion/Kirche und Politik/ Staat. Zumindest der reife Hegel tritt für eine rationalistische Theologie und die Trennung von Staat und Kirche ein. Dagegen vertritt Saint-Simon und seine Schule eine Gefühlsreligion mit sozialreformerischen Zielen, nämlich die ökonomische Verbesserung und moralische Vollendung des Menschen und der Gesellschaft. Diese sozialkritische Dimension der Religion geht dem späten Hegel anders als seinen Schülern gänzlich ab. In der Hegelschen Trennung von Staat und Religion sieht Siep aber die angesichts der Erfahrungen der beiden letzten Jahrhunderte vernünftigere Option. In Hans-Christoph SCHMIDT AM BUSCH s Aufsatz»Friedrich Wilhelm Carové, Eduard Gans und die Rezeption des Saint-Simonismus im Horizont der Hegelschen Sozialphilosophie«wird gezeigt, dass sowohl Carové als auch Gans, zwei Hegel nahestehende Wissenschaftler, 9 ein Interesse am Saint-Simonismus hatten. In der Tat waren sie in Deutschland unter den ersten, die sich mit der saint-simonistischen Theorie auseinandergesetzt haben. Wenngleich sie einige zeitdiagnostische Ansichten der Saint-Simonisten für berechtigt hielten, waren Carové und Gans von der saint-simonistischen Theorie als ganzer enttäuscht. Wie Schmidt am Busch zeigt, haben Carové und Gans diese Theorie einer umfassenden Kritik unterzogen, deren argumentative Ressource die Hegelsche Sozialphilosophie war. Carové und Gans kommen zu dem Ergebnis, dass die saint-simonistische Theorie in (i) organizitäts- und (ii) freiheitstheoretischer Hinsicht sowie aufgrund ihres (iii) ökonomie- und (iv) erbrechtstheoretischen Gehalts defizitär sei. 9 Zu Hegel und Gans vgl. die einschlägigen Beiträge zu dem Band: Eduard Gans (1797 1839): Politischer Professor zwischen Restauration und Vormärz. Hrsg. von Reinhard Blänkner, Gerhard Göhler und N. Waszek. Leipzig 2002.

Vorwort 11 In seinem Beitrag»Eduard Gans, Heinrich Heine und Hegels Philosophie der Geschichte«untersucht Terry PINKARD, welche Fragen und Motive für Gans und Heines Hegelrezeption leitend waren. Pinkard zeigt, dass Gans sowohl aus wissenschaftlichen als auch aus biografischen Gründen ein starkes Interesse an Hegels Geschichtsphilosophie hatte. 10 Im Rahmen seiner Interpretation von Heines Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland setzt sich Pinkard kritisch mit der (von vielen vertretenen) These auseinander, dass Heine ein Saint- Simonist gewesen sei. Pinkard zeigt demgegenüber, dass Heines Verständnis der Moderne durch Gans Interpretation von Hegels Theorie des freien Lebens geprägt worden ist. In diesem Sinne sei Heine ein Vertreter einer»gans-hegelschen«, nicht aber einer saint-simonistischen Position gewesen. Philippe REGNIER thematisiert die Rolle einer zeitgenössischen Zeitschrift, La Revue philosophique et religieuse, in dem Geflecht von Hegelschen und saintsimonistischen Ideen im damaligen Frankreich. Von besonderer Bedeutung waren die Beiträge, die Moses Hess und Karl Ludwig Michelet für diese Zeitschrift verfassten, deren Stellung im Kontext der damaligen Debatten von Régnier minutiös rekonstruiert werden. In seinem Aufsatz»Die Saint-Simonisten und die Französische Revolution: Paul Mathieu Laurent und Achille Roche«untersucht Klaus DEINET die Bedeutung der von ihm so genannten Links-Saint-Simonisten, nämlich des politischen Zweiges der Bewegung um Hippolythe Carnot, Paul Mathieu Laurent, Pierre Leroux und Achille Roche, die sich nach der Enfantin-Bazard-Spaltung von 1832 um die Zeitschrift La Revue encyclopédique gruppierten. Laurent so stellt Deinet heraus hatte sich bereits vor 1830 für eine Historisierung auch der radikalen Phase der Französischen Revolution eingesetzt, wobei er die von der Restaurationshistorie betriebene Stilisierung Robespierres zu einem überdimensionalen Bösewicht bekämpfte. Nach dem Juniaufstand von 1832 so Deinet gerieten die Links-Saint-Simonisten zunehmend ins politische Abseits. Warren BRECKMAN konzentriert sich in seinem Aufsatz auf Pierre Leroux, einem romantischen Sozialisten, der in den 1820er Jahren ein Liberaler und 1830/31 Mitglied der saint-simonistischen Bewegung war. In den 20er und 30er Jahren verfasste Leroux zahlreiche Arbeiten über das, was er den»symbolischen Stil«in der romantischen Kunst nannte. Breckman führt aus, dass Leroux die ästhetische Kategorie des Symbolischen zur Schaffung eines dritten Weges in der Politik benutzen wollte, der zwischen dem»absoluten Sozialismus«der Saint- Simonisten und dem»absoluten Individualismus«der Liberalen anzusiedeln sei. Die Verbindung von Leroux Ästhetik und Politik liegt in dem Gedanken, dass 10 Zu Heine und Gans vgl. N. Waszek,»Aufklärung, Hegelianismus und Judentum im Lichte der Freundschaft von Heine und Gans«, in: Aufklärung und Skepsis. Internationaler Heine-Kongress 1997 zum 200. Geburtstag. Hrsg. von Joseph A. Kruse, Bernd Witte und Karin Füllner. Stuttgart 1998, S. 226 241.

12 Vorwort das Symbol die sichtbare Verkörperung von etwas wesentlich Unsichtbarem und nicht Repräsentierbarem ist. Die»Lücke«zwischen der Darstellung und solchen Gegenständen wie Individuum, Gesellschaft, Humanität und Gott eröffnet einen Raum für die künstlerische und politische Kreativität. Dieses Engagement für eine Politik, die auf der Rolle des Symbolischen beruhte, kann dazu beitragen, Leroux Verteidigung von Schellings Berliner Vorlesungen des Jahres 1841/42 verständlich zu machen. Leroux Entscheidung, als Schellings Verteidiger aufzutreten, führte ihn zu einem Konflikt mit den deutschen Links-Hegelianern, die Schelling alle als ihren Erzfeind betrachteten. Die Herausgeber danken allen Personen und Einrichtungen, die zum Gelingen der Tagung»Hegelianismus und Saint-Simonismus«und zum Zustandekommen der vorliegenden Aufsatzsammlung beigetragen haben. Ihr besonderer Dank gilt Werner Paravicini, Direktor des DHI in Paris, der eine Ausrichtung der Tagung an diesem Institut ermöglichte; dem CNRS (UMR 8547:»Pays germaniques: histoire, culture, philosophie«), der diese Konferenz finanziell gefördert hat; dem Münsteraner Sonderforschungsbereich»Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme«(SFB 496), der sowohl für die Ausrichtung der Tagung als auch für die Drucklegung des Bandes Mittel bereitgestellt hat; der Forschergruppe EA 1577 der Universität Paris VIII»Les mondes allemandes: régions, histoire, cultures, sociétés«(direktor: Norbert Waszek), die einen Großteil der Druckkosten bestritten hat. Hans-Christoph Schmidt am Busch (Frankfurt am Main) Ludwig Siep (Münster) Hans-Ulrich Thamer (Münster) Norbert Waszek (Paris)