R o t e n b u r g e r H a n d b u c h z u r s e e l i s c h e n E n t w i c k l u n g v o n K i n d e r n u n d J u g e n d l i c h e n

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Transkript:

R o t e n b u r g e r H a n d b u c h z u r s e e l i s c h e n E n t w i c k l u n g v o n K i n d e r n u n d J u g e n d l i c h e n Bernhard Prankel 4. Auflage, Version 8/2008

Vorwort Im Jahre 1994 publizierten GRAWE, DONATI und BERNAUER ihr umfangreiches Forschungswerk mit dem Titel Psychotherapie im Wandel. Von der Konfession zur Profession. Ihre zwei Kernaussagen waren: (1) Psychotherapeuten halten zu sehr an allgemeinem und überkommenem Schulenwissen fest. Den Klienten nützt es eher, wenn die Therapeuten die Aufgaben und Probleme ihrer Patienten konkreter behandeln und dabei die jeweils aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnisse heranziehen. (2) Die Therapeuten sollen ihren Klienten vor allem dazu verhelfen, ihre Fähigkeiten und Möglichkeiten einerseits und ihre Aufgaben bzw. Probleme andererseits konkreter wahrzunehmen. Sodann gilt es, zwischen beiden möglichst sinnvoll und wirksam zu vermitteln. Seither hat sich viel getan: Meilensteine für die Versorgung sind das Psychotherapeutengesetz, die Integration verlässlicher Forschungsergebnisse zu Entwicklungsrisiken und zur individuellen Reifung von Ressourcen sowie flexible und störungsspezifische Behandlungsangebote. Aus dem heutigen Behandlungsalltag sind aufsuchende, Gruppen- und Videoarbeit, Elterntraining und Familienbehandlung, teil-, voll- und intervallstationäre Angebote ebenso wie gut ausgearbeitete pädagogische Gruppenkonzepte und individuelle Stufenpläne nicht mehr wegzudenken. Auch die Zusammenarbeit zwischen Schule, Jugendhilfe und Therapeuten ist klarer konturiert. Es bleibt indes viel zu tun. Die Verbesserungspotentiale im deutschen Schulsystem und in der Jugendhilfe werden breit diskutiert, aber wie sieht der psychotherapeutische bzw. psychiatrische Alltag aus? Zunächst müssen Klientenfamilien feststellen, dass sie viele Monate auf ihre Behandlung warten müssen; in dieser Zwischenzeit, davon können wir ausgehen, werden aus Problemen Krisen, aus Krisen Störungen und aus Störungen Krankheiten. Sodann treffen die Betroffenen auf sehr unterschiedliche Behandlungskonzepte. Mit dem Argument der Vielfalt ist es nicht mehr getan, wenn Therapeuten durchschnittlich sechs oder dreißig ambulante Termine benötigen, wenn Kliniken im Mittel vierzig oder einhundertsechzig Tage stationär behandeln, wenn eine Institution kaum ambulant oder gar nicht tagesklinisch behandelt, während im Nachbarkreis viele flexible Behandlungssettings vorgehalten werden. Schon vor dreizehn Jahren meinten GRAWE und Mitarbeiter, dass derartige Kontraste (weder) ethisch noch volkswirtschaftlich vertretbar erscheinen (S.1). Das Rotenburger Entwicklungshandbuch wendet sich mit der nun vierten Auflage an alle Kolleginnen und Kollegen, die sich mit psychosozialen Problemen, Störungen und Erkrankungen von Kindern, Jugendlichen und ihren Familien befassen. Es soll zu empirisch gut begründbaren Behandlungsmethoden und zu einer effizienten Arbeitsorganisation verhelfen. Standards und Systematiken sind notwendig, um an entscheidender Stelle über flexible Freiräume zu verfügen: Wo Eltern oder erziehungsberechtigte Pädagogen zusammen mit ihren Kindern, Lehrer mit ihren Schülern und Therapeuten mit ihren Klienten Fähigkeiten und Bindungen anbieten und entstehen lassen, da gilt es, in der persönlichen Begegnung Entwicklungsaufgaben, Chancen und Lösungsmöglichkeiten zu erspüren und sie den Betroffenen nahe zu bringen: Dort sind spontane Wendungen, Variantenreichtum und Vielseitigkeit nicht nur gefragt, sondern unabdingbar. Allen Kolleginnen und Kollegen der Rotenburger Klinik sei dafür gedankt, dass sie neben ihrer klinischen Arbeit Beiträge geschrieben, Konzepte ausprobiert, ständig neue Ideen eingebracht oder ihre Kollegen durch eigene Mehrarbeit dafür freigestellt haben. Dadurch konnte das Rotenburger Entwicklungshandbuch seit der letzten Auflage erheblich verbessert und erweitert werden. Spezieller Dank für die Mitarbeit an einzelnen Kapiteln gilt Thomas Maier (Schwer zu bremsen, Krisen, Substanzabusus, Münchhausen-by-proxy-Syndrom), Jochen Gehrmann/Ludwigshafen (Pharmaka, Schlafstörungen, Einnässen), Andrea Küther, Ulrike Richter (Adipositas), Mirjam Lincke und Nicola Stafe (Essstörungen), Julia Adamus und Dirk Meyer (frühe Entwicklungs- und Bindungsstörungen), Gunter Groen, Bettina Kelle (emotionale Störungen), Birger Repp (Organisationsentwicklung), Thomas Lange, Alexandra Schäfer, Bärbel Durmann und Ursula Hamann nebst Mitarbeitern (Stationsprojekte, Dokumentvorlagen) und nicht zuletzt Britta Cordes für die redaktionelle Unterstützung. Alle Nutzer dieses Handbuches sind dazu weiterhin eingeladen, ihre Anregungen, Ideen und Verbesserungsvorschläge mitzuteilen und beizutragen. Der Inhalt des Handbuches und alle zugehörigen Dateien stehen auch in der Dateiversion zur freien Verwendung, solange keine kommerziellen Belange berührt sind. Bernhard Prankel I

II

Inhaltsverzeichnis TEIL 1: ENTWICKLUNGSSTRUKTUREN 1 1.1. Risikofaktoren, Ressourcen, Reifungsdynamik 1 1.1.1. Risikofaktoren erheben 2 1.1.2. Ressourcen beobachten und einschätzen 3 1.1.3. Reifungsdynamik erschließen 10 1.1.4. Diagnosen stellen 15 1.2. Lernen: Die Methode hinter Pädagogik und Therapie 16 1.2.1. Lerntechniken 16 1.2.2. Lernen in Pädagogik und Therapie 23 1.2.3. Lernen: Der theoretische Hintergrund 24 TEIL 2: KLINISCHE SYNDROME UND IHRE BEHANDLUNG 28 2.1. Beziehungs- und Bindungsstörungen 28 2.1.1. Beziehungen unter Gleichaltrigen 28 2.1.2. Bindungsstörungen 32 2.2. Dissoziative Störungen 36 2.3. Schizophrene Psychosen 39 2.4. Lern- und Entwicklungsstörungen 42 2.4.1. Lese- und Rechtschreibschwäche 42 2.4.2. Rechenschwäche 43 2.4.3. Intellektuelle Minderbegabung 44 2.5. Tiefgreifende Entwicklungsstörungen 47 2.6. Kinder, die schwer zu bremsen sind 52 2.7. Krisen und Anpassungsstörungen 55 2.7.1. Krise und Chance: Hochhängen oder flach halten? 55 2.7.2. Reaktion auf kritische Lebensereignisse (Anpassungsstörungen) 56 2.7.3. Gespräche mit Kindern über Sterben und Tod 61 2.7.4. Mutismus 62 2.8. Suizid und Suizidversuch 64 2.8.1. Suizide 64 2.8.2. Suizidversuche 66 2.8.3. Vorbeugung 68 2.9. Sexueller Missbrauch Tätertherapie 70 2.9.1. Rechtliche Hintergründe 70 2.9.2. Symptome 71 2.9.3. Diagnostik und Behandlung 72 2.9.4. Kooperation 76 2.9.5. Prävention 76 2.10. Schädlicher Gebrauch von Drogen 77 2.11. Störungen durch den Konsum von Medien 84 2.12. Zwangs- und Ticstörungen 89 2.13. Essstörungen 92 III

2.14. Störungen auf der Elternebene 98 2.14.1. Wenn Eltern streiten und sich trennen 98 2.14.2. Psychisch kranke Eltern und ihre Kinder 103 2.14.3. Alkoholabhängigkeit bei Eltern 105 2.14.4. Das Münchhausen-by-proxy-Syndrom 108 2.14.5. Pathogene Eltern-Kind-Beziehungen 110 2.15. Kognitive und Verhaltenstherapie 111 2.15.1. Vorstellungen 111 2.15.2. Kurzschlüsse 112 2.15.3. Behandlungstechniken 114 2.16. Gruppenpsychotherapie 118 2.16.1. Die Wirksamkeit von Elterntrainingsprogrammen 118 2.16.2. Exkurs: Gruppentherapeutische Arbeit in Rotenburg 121 2.17. Psychopharmakotherapie 124 2.17.1. Arzneimittelrecht 124 2.17.2. Grundsätze für die Behandlung mit psychoaktiven Arzneimitteln 124 2.17.3. Verhaltensstörungen mit Aggressivität 125 2.17.4. Zwangs- und Ticstörungen 126 2.17.5. Psychosen 126 2.17.6. Depressive und Angststörungen 129 2.17.7. Stimulanzien 131 2.17.8. Laxanzien und Antienuretika 132 2.17.9. Psychopharmaka und Dosen 134 TEIL 3: SOZIALPÄDIATRIE 141 3.1. Schwangerschaft, Geburt und Vorsorge 141 3.1.1. Schwangerschaftsrisiken 141 3.1.2. Geburts- und Vorsorgeuntersuchungen 144 3.1.3. Impfungen 147 3.1.4. Frühförderung und Früherkennung 147 3.2. Häufige Erbkrankheiten 148 3.2.1. Turner-Syndrom 148 3.2.2. Klinefelter-Syndrom 148 3.2.3. XYY-Syndrom 149 3.2.4. Fragiles-X-Syndrom 149 3.2.5. Rett-Syndrom 150 3.2.6. Down-Syndrom 151 3.2.7. Deletion 22q11.2 151 3.2.8. Phenylketonurie 152 3.2.9. Prader-Willi-Syndrom 153 3.2.10. Williams-Beuren-Syndrom 154 3.3. Übergewicht 155 3.4. Hörstörungen 157 3.5. Kopfschmerzen 158 3.6. Schlafstörungen 161 3.7. Ausscheidungsstörungen 163 3.7.1. Verstopfung und Einkoten 163 3.7.2. Einnässen 166 3.8. Chronisch kranke Kinder 169 3.9. Anfallserkrankungen 170 IV

TEIL 4: ORGANISATIONSSTRUKTUREN 177 4.1. Organisationsentwicklung 177 4.2. Einarbeitung 180 4.3. Weiterbildung 182 4.4. Information und Dokumentation 183 4.4.1. Information organisieren 183 4.4.2. Die Behandlung dokumentieren 184 4.4.3. Nach außen kommunizieren 186 4.4.4. Öffentliche Organe und Verbände 187 4.5. Stellenbeschreibungen 188 4.6. Die Rechtsnormen 191 4.6.1. Die Patienten 191 4.6.2. Die Mitarbeiter 200 4.6.3. Das Krankenhaus 200 4.6.4. Niedergelassene Ärzte 201 4.7. Fachgutachten erstellen 202 4.7.1. Sorge- und Umgangsrecht 203 4.7.2. Verantwortlichkeit, Strafreife, Schuldfähigkeit 205 4.7.3. Glaubwürdigkeit 209 TEIL 5: ANHANG 210 5.1. Formulare und Dokumentvorlagen 210 5.2. Curricula 212 5.3. Verzeichnis der Tabellen und Abbildungen 213 5.4. ICD 10: Klassifikation psychischer Störungen 214 5.5. Literatur 215 V

Hinweise zur Handhabung Orange umrandete Absätze in blauer Schrift (Farben der Dateiversion) enthalten Merksätze und Zusammenfassungen. Die Randmarkierung von Absätzen weist auf Beispiele oder Erläuterungen hin. Hyperlinks erleichtern das Springen innerhalb der Dateiversion des Handbuches und in das Internet: Anklicken, ggf. Strg-Anklicken; Rückkehr durch Alt-Pfeillinks oder die entsprechende Taste auf der Web Leiste). Zahlreiche hilfreiche Formulare und Curricula für den therapeutisch-pädagogischen Alltag sind im Anhang aufgelistet, befinden sich als Dateien auch auf einer Begleit-CD und können z.t. auch aus der Homepage heruntergeladen werden. LITERATURANGABEN befinden sich im Haupttext, am Ende jedes Abschnitts (Zum Nachlesen) sowie ausführlich mit bibliografischen Angaben im Anhang. Haftungsausschluss: Bei Medikamenten gelten die Herstellerangaben gemäß Fachinformation. VI

Das Leitmotiv der Rotenburger Klinik für Kinderund Jugendpsychiatrie und Psychotherapie Wir arbeiten mit einem entwicklungsorientierten Menschenbild. Das Kernarbeitsfeld der Klinik ist die Entwicklung und Reifung junger Menschen. Alle Mitarbeiter nutzen in der Arbeit mit den Klienten und auch untereinander einheitliche und konkret handlungsorientierte Entwicklungsstrukturen. Wirksame pädagogische und therapeutische Interventionen befassen sich mit den Ressourcen der Klienten, ihrer Bindungsfähigkeit sowie ihrer gesellschaftlichen Verantwortlichkeit. Therapie, Erziehung und Bildung arbeiten inhaltlich mit unterschiedlichen Schwerpunkten an der Förderung der individuellen Entwicklung. Pädagogen wie Therapeuten verhelfen den Klienten und ihren Familien zum Ausbau ihrer Ressourcen; sie fördern die Fähigkeit, Beziehungen zu gestalten und Bindungen einzugehen. Erziehung, Bildung und Therapie zielen auf ein bewusstes und verantwortungsvolles Handeln. Für Patienten, für Mitarbeiter und für Kooperationspartner gelten einheitliche Entwicklungsstrukturen. Gegenüber den Patienten gelten die Orientierung an Ressourcen, die therapeutische Bindung sowie die Stärkung der Verantwortlichkeit als die Interventionsprinzipien. Auch die Mitarbeiter profitieren von diesen Entwicklungsgrundsätzen, etwa durch ein Mentorensystem für neue Kollegen, das vorliegende Handbuch mit systematischen Einarbeitungsmodulen oder die individuell geförderte Übernahme von Verantwortung. Schließlich profitieren auch die externen Kooperationspartner der Klinik vom Rotenburger Kooperationsstandard, vom Rotenburger Fortbildungscurriculum und den monatlichen Rotenburger Fallzirkeln für die Mitarbeiter der komplementären Einrichtungen. Die Klienten befinden sich im Mittelpunkt unserer Arbeit. Die Klinikarbeit konzentriert sich auf das Wohl der uns anvertrauten Patienten und ihrer Familien. Wir handeln im informierten Einverständnis der Klienten und ihrer Erziehungsverantwortlichen. Durch eine flexible Organisation erhalten und fördern wir eine weitgehende Selbstverantwortlichkeit unserer Klientenfamilien. VII

TEIL 1: ENTWICKLUNGSSTRUKTUREN 1.1 RISIKOFAKTOREN, RESSOURCEN, REIFUNGSDYNAMIK Teil 1: Entwicklungsstrukturen Im Rahmen einer sorgfältigen Diagnostik werden (1) die epidemiologisch wirksamen Entwicklungsrisiken gezielt aus der Anamnese erhoben und (2) die Ressourcen systematisch beobachtet. Aus diesen Daten wird (3) eine Reifungsdynamik abgeleitet. nach den drei Entwicklungsstrukturen (Ressourcen, Bindung, Verantwortlichkeit) geordnet. Zur Förderung der Entwicklung sind die Lerntechniken als Behandlungsmittel unabdingbar. Die Analyse dieser drei grundlegenden Entwicklungsstrukturen dient der Formulierung der Behandlungsziele und -Mittel. Die Behandlungsziele sind 1.1. Risikofaktoren, Ressourcen, Reifungsdynamik Schon als Laien empfinden wir ein Kind als belastet, wenn seine Eltern arm sind oder sich getrennt haben, wenn seine Mutter verstarb oder sein Vater Straftaten beging. In der Tat vergrößern bestimmte kritische Lebensereignisse die Wahrscheinlichkeit, dass die Entwicklung der Kinder leidet (z.b. RUTTER, TAYLOR 2002). Es ist somit sinnvoll, bei Kindern, die wegen psychosozialer Probleme, Störungen oder Erkrankung vorgestellt werden, die Risikofaktoren sorgfältig zu erheben. Dabei sollte man sich darüber bewusst sein, dass Risiken weder faktische Störungen noch ursächliche Bedingungen mit der notwendigen Folge einer Störung sind. Wir erfahren daher erst, ob eine Auffälligkeit oder Störung besteht, wenn wir das Kind, sein Erleben, sein Handeln und seinen Entwicklungsraum unmittelbar beobachten und seine Ressourcen, d.h. seine aktuellen Fähigkeiten und Fertigkeiten und ggf. auch Beeinträchtigungen erheben (PAPOUŠEK 1996). Bei Daten aus einer Einzelbeobachtung ist wiederum zu beachten, dass diese nicht ohne weiteres eine eindeutige Störung nahe legt.. Beide Blickwinkel ergänzen einander. Zudem kann man versuchen, Zusammenhänge zwischen erhobenen Risiken und nachgewiesenermaßen beeinträchtigten Ressourcen zu finden. Wir könnten z.b. schlussfolgern: Die Mutter verstarb (Risiko), und dieses Trauma erklärt die auffälligen Handlungsweisen des Kindes (eingeschränkte Ressourcen). Derartige reifungsdynamische Annahmen tragen dazu bei, die allgemeine Entwicklung und Reifung des Kindes und auch die Entstehung der Störung näher zu bestimmen. Sie sind indes immer als vorläufig zu betrachten, da sowohl die vielschichtigen Bedingungen, unter denen Kinder aufwachsen, als auch die Vielzahl körperlicher, psychischer und sozialer Fertigkeiten und Fähigkeiten im klinischen Alltag kaum umfassend zu erheben sind; auch die Wechselbeziehungen unter diesen Faktoren sind bisher nur in geringem Maße erforscht (vgl. FONAGY et al. 2002, ROTH, FONAGY 2005). Unter allen Umständen muss vermieden werden, sich in übereilten Mutmaßungen, Befürchtungen oder Hoffnungen zu verlieren und diese den Klienten als Entwicklungs- oder gar Heilungsauftrag zu verschreiben. Man vermeidet dies, indem man die Risiken und den aktuellen Ressourcenstatus systematisch erhebt und die Reifungsdynamik daraus nachvollziehbar abgeleitet. Auf diese Weise klärt sich für alle Beteiligten der Blick auf die anstehenden Entwicklungsaufgaben und Behandlungsziele. Erkenntnisquellen, die dazu dienen, gemeinsam mit den Betroffenen über angemessene Behandlungsziele und -mittel zu entscheiden: Anamnestische Daten zu epidemiologisch gesicherten Einflüssen (Risikofaktoren). Individuelle Beobachtung der Fähigkeiten und Fertigkeiten der Klienten (Ressourcen). Annahmen über Zusammenhänge zwischen den erhobenen Einflussfaktoren (Reifungsdynamik). Zu diesen drei Erkenntnisquellen folgen nun klinische und Forschungsbeispiele und eine praktikable Systematik. 1

TEIL 1: ENTWICKLUNGSSTRUKTUREN 1.1 RISIKOFAKTOREN, RESSOURCEN, REIFUNGSDYNAMIK 1.1.1. Risikofaktoren erheben Michael RUTTER und seine Londoner Arbeitsgruppe untersuchten Anfang der 70er Jahre alle Kinder der englischen Kanalinsel Isle of Wight auf Entwicklungsrisiken und ihre Auswirkungen. Sie fanden heraus, dass ab einer gewissen Anzahl und Schwere der Risiken die individuelle Entwicklung unweigerlich leidet. Die Ergebnisse dieser bedeutenden epidemiologischen Studie wurden später vielfach bestätigt (RUTTER 1993, MINDE 1988, WERNER 1990, DORNES 1993, POUSTKA, VAN GOOR-LAMBO 2000, DUNN 2001, BELSKY 2001, YULE 2001, ATZABA-PORIA et al. 2004). Wenn man die Risiken beim einzelnen Patienten sorgfältig erhebt (Tabelle 1 S.2), kann man die allgemeine biografische Belastung schätzen (Tabelle 2 S.2), d.h. wie wahrscheinlich eine Störung entsteht oder vorhanden ist. Auch der Behandlungsverlauf hängt von der Anzahl und Schwere der Risiken ab. Für klinische Zwecke ist es hilfreich, die als wirksam nachgewiesenen Risikofaktoren zu systematisieren (vgl. auch Kinderschutzzentrum Berlin 1996, DUNN 2001, HAHLWEG 2001). Hierzu können die grundlegenden Entwicklungsstrukturen Ressourcen, Bindung und Verantwortlichkeit dienen, die später in ihrer Bedeutung noch ausführlich erläutert werden. (Auf die Darstellung der Forschung zu Schutzfaktoren wird hier verzichtet, da es dort in der Regel um nicht vorhandene Risiken geht.) 1. Mangel an elementaren Ressourcen Materielle Not ist durch knappe Finanzen, Arbeitslosigkeit oder unzureichenden Wohnraum bedingt (z.b. KÜRNER, NAFROTH 1994, BRADLEY et al. 2001, BARENBAUM et al. 2004, TOTSIKA, SYLVA 2004). Eingeschränkter Zugang zu Information ist gegeben, wenn geringe Sprachkenntnisse, ein niedriger Bildungsstand oder soziale Isolation vorhanden sind (VERMEIREN et al. 2004, TOTSIKA, SYLVA 2004). Die körperliche und psychische Gesundheit der Familie kann durch körperliche oder psychische Erkrankungen, Fehlbildungen oder Behinderungen, Suchterkrankungen und Traumata gestört sein (z.b. HARTMANN 1999, MAIN 2002, DYKENS, HODAPP 2001, LANDOLT et al. 2003, WAILOO et al. 2003, DREWETT et al. 2004, BOLTON et al. 2004, BARKMANN et al. 2007). Tabelle 1: Entwicklung: Risikofaktoren 1. Mangel an elementaren Ressourcen: Materiell: Finanzen, Arbeit, Wohnraum, Umgebung Information und Bildung: Sprache, Schul- und Ausbildung der Eltern Gesundheit der Familie: Behinderung, Erkrankungen, Sucht, Traumata 2. Beeinträchtigte Bindungen: Reguläre Bezugswechsel hinsichtlich Wohnort, Schule, Ausbildung, Arbeit Instabile Beziehungen und Brüche: Streit und Trennung, Todesfälle 3. Hinweis auf eingeschränkte Verantwortlichkeit: Eltern bei Geburt des ersten Kindes 21 Jahre oder jünger Jugendhilfemaßnahmen bei den Eltern des betroffenen Kindes Verletzung sozialer Normen (v.a. Straffälligkeit) im näheren Umfeld Tabelle 2: Entwicklungsrisiken: Experteneinschätzung zur Schwere (nach MONOGHAN, ROBINSON, DODGE 1979; vgl. auch HARTMAN et al. 2001, WILLEMSE, VAN YPEREN, RESPENS 2003) Skala 0-100 Tod eines Elternteils >90 Trennung des Kindes von den Eltern, Scheidung der Eltern, sexueller Missbrauch Schwere Erkrankung des Kindes, Todesfall in der Familie, längere Haft eines Elternteils, Entdeckung der eigenen Adoption Beginn einer Stiefelternschaft, Erkrankung eines Elternteils, Wiederholen eines Schuljahres, sinkende Beliebtheit Todesfall in der näheren Umgebung, Einschulung, zunehmender Streit mit oder zwischen den Eltern, Schulverweis Geburt eines Geschwisters, Tod von Großeltern, kürzere Haft eines Elternteils, Schulwechsel, Auszug eines Geschwisters, Ganztagsarbeit der Mutter, Einzug eines dritten Erwachsenen, Arbeitslosigkeit eines Elternteils Erkrankung eines Geschwisters, Streit mit Geschwistern, Schwangerschaft der minderjährigen Schwester, Veränderung der Finanzlage, Umzug >80 >70 >60 >50 >40 >30 Beginn eines neuen Schuljahres >20 2

TEIL 1: ENTWICKLUNGSSTRUKTUREN 1.1 RISIKOFAKTOREN, RESSOURCEN, REIFUNGSDYNAMIK 2. Bindungsrisiken Reguläre Bezugswechsel sind Bestandteil jeder normalen Entwicklung, z.b. die Einschulung, ein Umzug, ein sich verändernder Freundeskreis, der Auszug aus dem Elternhaus, der Beginn einer Ausbildung, der Wechsel einer Arbeitsstelle, der Eintritt in eine neue Beziehung. Gehäufte Bezugswechsel können ein Kind anstrengen und v.a. im Zusammenhang mit anderen Risiken an seine Belastungsgrenze führen (vgl. BEE 1989; vgl. auch CASSIDY, SHAVER 1999). Instabile Beziehungen und Brüche wie Streit und Trennung der Eltern, der Tod von Bindungspersonen, notgedrungene Wohnort- und Schulwechsel, eine Klassenrückstufung, die Ausgrenzung aus einem Freundeskreis, der Abbruch einer Ausbildung oder die Kündigung durch einen Arbeitgeber labilisieren die Betroffenen deutlich stärker als die erwähnten regulären Bezugswechsel. Mitunter sehr unvermittelt müssen sie sich auf eine neue Umgebung einstellen, in der Beziehungen, Aufgaben und Ressourcen neu verhandelt werden müssen. Brüchen gehen zudem meist anhaltende Spannungen voraus, welche mit der Trennung meist noch nicht enden. Dies kostet zusätzliche Energie. Nicht von ungefähr gehen drei Viertel aller Suizidversuche auf derartige Brüche zurück (z.b. SHAFFER, PIACENTINI 1994, LIER, GAMMELTOFT, KNUDSEN 1995, DUNN 2004, DUNN et al. 2004). 3. Risiken im Verantwortungsgefüge Die folgenden Bedingungen können die Betreuung eines Kindes beeinträchtigen (z.b. JUFFER, STAMS, VAN IJZENDOORN 2004, BODEN, FERGUSSON, HORWOOD 2008): Eltern, die bei Geburt ihres ersten Kindes minderjährig oder heranwachsend (bis 21 Jahre alt) waren, Eltern, die als Minderjährige selbst einmal vom Jugendamt betreut wurden, ein normenschwaches Umfeld, z.b. straffällige Eltern, Nachbarn oder Freunde. 1.1.2. Ressourcen beobachten und einschätzen Wenn Pädagogen und Therapeuten die Fähigkeiten ihrer Klienten sorgfältig erheben, dann können sie die gut entwickelten dafür nutzen, die schwächeren zu fördern (GRAWE, DONATI, BERNAUER 1994). Indes scheinen die menschlichen Ressourcen wegen ihres Umfanges und ihrer Komplexität nur schwer fassbar: Zunächst ist der biochemische Stoffwechsel zu nennen. Er vollzieht sich in Zellorganellen, Körperzellen und Organen; diese regulieren sich teils selbständig, teils sind sie in ihren Funktionen vielfältig miteinander verflochten. Ihre Aufgabe ist es, den Körperhaushalt aufrecht zu erhalten, indem sie Baustoffe, Energie und Information (Hormone, Nerven) bereitstellen. Sodann geht es um die nicht minder komplexe Handlungsregulation. Die rasche und feine Abstimmung von Sinnesorganen und Muskeln wird v.a. durch das Nervensystem gesteuert. Derart kann der Organismus als Ganzer zielgerichtet agieren, z.b. turnen, musizieren, Hausaufgaben erledigen oder handwerken (vgl. MILLER, GALANTER, PRIBRAM 1973, VOLPERT 1983). Auch die Einflussfaktoren im sozialen Gefüge in der jedes Individuum agiert, sind nicht vollständig beschreibbar. Die Mitglieder der Gemeinschaft stimmten ihren Bedarf und ihre Ressourcen ständig aufeinander ab: Ob in Familie oder Schule, in Arbeit oder Freizeit, kollektive Ziele erfordern Informationsaustausch, Verhandlungsgeschick und Verantwortlichkeit, mithin Gemeinsinn. Im klinischen Alltag kann dieses weite Ressourcenspektrum immer nur zu Teilen erfasst werden, und einige Funktionen sind auch in hohem Maße veränderlich. Überdies können wir nur bestimmte Daten hinreichend verlässlich messen (z.b. das Wachstum, die Nahrungsaufnahme, das Hörvermögen, die schulischen Leistungen), während andere, wie etwa das Erziehungsvermögen der Eltern, zwar bei Beobachtern einen Eindruck hinterlassen, über den aber, wenn es auf eine verlässliche Wahrnehmung 3

TEIL 1: ENTWICKLUNGSSTRUKTUREN 1.1 RISIKOFAKTOREN, RESSOURCEN, REIFUNGSDYNAMIK ankommt, selbst erfahrene Fachleute erst Einvernehmen erzielen müssen (z.b. in einer Helferkonferenz). Unter diesen Umständen hilft ein Katalog, die Ressourcen systematisch zu beobachten und zu bewerten (Tabelle 3 S.4). 1. Individuelle biopsychologische Ressourcen 1a. Wachstum und Gedeihen Wachstumsstörungen (Minderwuchs, Hochwuchs), die durch eine erbliche Störung bedingt sind, gehen häufig auch mit motorischen, kognitiven und psychosozialen Schwächen einher. Gedeihstörungen werden durch Infektionen, hormonelle oder Organerkrankungen, bösartige Erkrankungen, Suchterkrankungen oder die psychogenen Essstörungen verursacht. Atem- und Schlafstörungen führen mitunter zu erheblichen Leistungsbeeinträchtigungen. Eine stark vergrößerte Gaumenmandel ( Polypen, Adenoide ) ist leicht erkennbar an den drei Symptomen Mundatmung, Schnarchen und häufigen Mittelohrinfekten. Schlaf- und Sauerstoffmangel können im Extremfall zu Gewichtsverlust, Wachstumsstopp, Schlafstörungen und Leistungsschwächen führen. Suchterkrankungen können die körperliche und die psychosoziale Entwicklung beeinträchtigen. 1b. Regulation von Wahrnehmung und Handlung Die Sinneswahrnehmung (v.a. Sehen und Hören) muss beim Kind ständig überwacht und schon bei der Eingangsdiagnostik erhoben werden, ggf. einschließlich einer neurologischen Diagnostik. Ein achtjähriger Junge wurde wegen Aufmerksamkeitsschwächen vorgestellt. Es fanden sich 6 Dioptrien. er konnte an der Tafel nichts erkennen. Auch die Motorik und die kognitive Leistungsfähigkeit sollten beobachtet bzw. erhoben werden. 1c. Lernen und Freizeit Zu den Lernvoraussetzungen gehören u.a. Neugier und Motivation, Problemlösefähigkeiten, Orientierung und Wissen, besondere Fähigkeiten und Interessen sowie die Zugehörigkeit zu Vereinen oder Gruppen. Chronisch mangelnde Neugier und Motivation gehen meist auf eine ungenügende elterliche Zuwendung zurück. Akuten Motivationsmangel kennt und erlebt jeder Mensch immer wieder. Auch während eines längeren erfolgreichen Lernprozesses kann ein Kind zuweilen unmotiviert sein, z.b. während einer Konsolidierungsphase, in der scheinbar kein Fortschritt zu Tabelle 3: Entwicklung: Ressourcen 1. Individuelle biopsychologische Ressourcen a. Wachstum und Gedeihen: Wachstum, Atmung, Nahrungsaufnahme, Ausscheidung, Schlaf; Menses; aktuelle körperliche Krankheiten, Sucht, Allergien, Nahrungsunverträglichkeiten b. Regulation von Wahrnehmung und Handlung: Sinneswahrnehmung, Aufmerksamkeit und Konzentration, Grob- und Feinmotorik. c. Lernen und Freizeit: Neugier und Motivation, Problemlösen, Orientierung und Wissen, besondere Fähigkeiten und Interessen, Zugehörigkeit zu Vereinen oder Gruppen; Fernsehen, Computerspiele (Std./Tag); Umgang mit Geld d. Ausgleich von Spannungen: Regulierung von Frustration, Unsicherheit und Angst, Trauer und Schmerz, Wut und Freude; ggf. Eigen- oder Fremdgefährdung 2. Bindungsfunktionen a. Beziehungsfähigkeit des Klienten: Mimik, Gestik, Körpersprache; Sprech- und Sprachfähigkeit; Kontaktaufnahme, Einfühlungsvermögen, gegenseitige Abstimmung von Meinungen und Handlungen (Kooperation, Konfliktfähigkeit); Sexualität b. Elterliche Zuwendung: Versorgung (Ernährung, Pflege, Schutz) und Aufmerksamkeit (realistische Erwartungen, Förderung, Anerkennung, Regeln und Grenzen), Tagesstrukturen. c. Einfluss weiterer Kontaktpersonen: Verwandte, Peergroup, Lehrer, Helfer. 3. Bewusstsein und Verantwortung a. Ich bin beteiligt. Mir ist bewusst, dass ich durch meine Meinungen, Äußerungen und Handlungen das objektive Geschehen um mich herum, die Beziehungen untereinander und auch die eigene Befindlichkeit mitbestimme. b. Ich kann mich irren. Ich weiß, dass zur Entwicklung meiner Fähigkeiten auch der verlässliche Umgang mit Fehlern beiträgt. c. Es geht um ein sinnvolles Miteinander. Ich erkenne, dass ich für die Gemeinschaft, auf die ich selbst angewiesen bin, aktiv Verantwortung übernehmen muss. 4

TEIL 1: ENTWICKLUNGSSTRUKTUREN 1.1 RISIKOFAKTOREN, RESSOURCEN, REIFUNGSDYNAMIK verzeichnen ist. Auch hormonelle Störungen (z.b. Schilddrüsenhormonmangel) und Suchtverhalten beeinträchtigen den Antrieb. Neugier und Motivation: Vorschul- und Schulkinder, die viel fernsehen, bewegen sich zu wenig, ernähren sich ungesund und trainieren soziale Kompetenzen zu wenig. Medienkonsum wirkt sich auf Leistungen und Freizeitinteressen aus: Ein 14-Jähriger wurde wegen einer Schulvermeidung, Leistungsschwächen, Isolation, Traurigkeit und Suizidideen stationär behandelt. Auf die Frage, wie er denn die gewonnene Zeit nutze, berichtete er, dass er schon monatelang mehr als zwölf Stunden täglich am Computer spiele, vor allem nachts. Infolgedessen verschob sich der Tag-Nacht-Rhythmus, und Schlafmangel löste den Leistungsknick und eine Pseudodepression aus. Nach dem konsequenten Aussetzen von Fernsehen, Internet und elektronischen Spielen sowie einer ausführlichen Elternberatung normalisierte sich sein Schlaf, und er setzte seine Schullaufbahn erfolgreich fort. Die schulischen Leistungen (generelle Lern- und Leistungsfähigkeiten, Lese-Rechtschreib- oder Rechenschwächen) können anhand der Zeugnisse und Schulberichte recht verlässlich eingeschätzt werden. Im Zweifel kann auch ein Leistungstest weiterhelfen. 1d. Ausgleich von Spannungen Spannungen (Emotionen, Gefühle) wie Frustration, Unsicherheit und Angst, Trauer und Schmerz, Wut und Freude bezeichnen einen Regulationsbedarf. Babys empfinden Hunger, Müdigkeit, Schmerz und weitere körpernahe Wahrnehmungen sehr elementar, und sie drücken dies entsprechend aus. Nach einer längeren Phase verlässlicher Versorgung stellen sie sich darauf ein, können Bedürfnisse zunehmend aufschieben oder dezenter äußern. Unterversorgte Kinder hingegen müssen permanent und viel kurzfristiger den akuten Bedarf kalkulieren. Sie wirken daher kurzatmig, unruhig, in Mimik und Gesten sowie sprachlich wenig geübt und sozial unreif. Kinder und Jugendliche verstehen mit der Zeit, dass ein einzelner Spannungszustand in der Regel auf mehrere Auslöser zurück geht. Klinisch sollten zum einen Grundstimmungen und zum anderen akute Gemütsempfindungen (z.b. Wut) sowie ihr näherer Anlass beschrieben werden (z.b. KLEMENZ 2003, VELLUTINO et al. 2004). Mitunter gibt es sehr komplexe Spannungszustände, etwa eine Dissoziation oder Entweichen. Eine Vierzehnjährige kam mit einer dissoziativen Beinlähmung nach einem miterlebten Verkehrsunfall mit Tod eines Autoinsassen. Nachdem ihr die Therapeutin Sicherheit vermittelte und ausführlich ihre Zukunftswünsche zu Ausbildung, Beruf und Familie erarbeitete, konnte sie ihren Rollstuhl rasch verlassen. Entweichen steht in der Regel in Zusammenhang mit Streit oder anderen Konflikten. Es geschieht oft impulsiv, zuweilen aber auch geplant, z.b. um aus einer Institution zu den Eltern zurückzukehren. Zuweilen ist es eine schlechte Angewohnheit des Streitens, wegzulaufen und damit Missachtung zu vermitteln. Diese Kinder oder Jugendlichen müssen lernen, dass im Streit eine Auszeit sinnvoll sein kann, über die man sich aber einigen sollte. (Tiefere Deutungen würden das dysfunktionale Verhalten nur verfestigen.) 2. Bindungsfunktionen In den ersten zwei Jahrzehnten haben Menschen einen erheblichen Versorgungsbedarf. Die Eltern bzw. die primär versorgenden Bezugspersonen vermitteln darüber auch ihren Beziehungs- und Bindungsstil (BOWLBY 1973, FONAGY, STEELE, STELLE, MODEL 1991, WEINFIELD et al. 1999, BRETHERTON 2002, TARGET, SHMUELI-GOETZ, FONAGY 2002, MAIN 2002). 2a. Beziehungsfähigkeit des Kindes Ein Kind sollte über ein differenzierte Mimik, Gestik, Sprech- und Sprachfähigkeit verfügen. Ein siebenjähriges Mädchen stammte von einer arabischen Mutter und einem deutschen Vater ab, und es wuchs die ersten fünf Lebensjahre in Belgien auf. Es konnte sich in keiner der drei Sprachen auch nur annähernd differenziert ausdrücken, weil die Eltern die unterschiedlichen Sprachen selbst teilweise nur unzureichend beherrschten und das Kind willkürlich mit unterschiedlichen Idiomen ansprachen. Global lernbehindert, demonstrierte das Kind bei Anforderungen Kleinkindverhalten, und im Streit war es wenig einigungsbereit. Kinder und Jugendliche sollen altersangemessen differenziert auf Bekannte und Unbekannte zugehen, Meinungsunterschiede fair verhandeln, Rangordnungen wahrnehmen, sich in andere gut einfühlen und insgesamt kooperationsbereit sein (vgl. MAIN 2002). Schon die Kontaktaufnahme funktioniert nur, wenn die Kommunikationspartner über eine Fülle von Begrüßungsvarianten verfügen. Sie schätzen binnen Sekunden den Anlass, die zeitlichen, örtlichen und sozialen Umstände einer Begegnung ein und richten Mimik und Gestik, Stimmlage und Grußformel danach aus. Sind Kinder psychosozial beeinträchtigt (z.b. nach einer komplizierten Frühgeburt), dann ist es an der 5