Gerlef Gleiss, Vortrag vom 19.04.2007



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Transkript:

Gerlef Gleiss, Vortrag vom 19.04.2007 Selbstbestimmung oder Selbstüberlassung - vom Rückzug des Staates aus seiner Verantwortung. Ergänzung und Erwiderung zum Vortrag von Udo Sierck von letzter Woche. Guten Abend auch von mir. Ich hoffe, dass ich nicht zu oft in Streit mit diesem Gerät komme. Ich bin schon so als notorischer Schnellredner gefürchtet. Vor allem wenn es politisch spannend wird, geht manchmal das Temperament mit mir durch. Weil mir auch nach so vielen Jahren, und ich bin ja fast genau so lange dabei wie Udo Sierck, also seit 1980 der Spaß an der Behindertenbewegung nicht verloren gegangen ist. Ich will ergänzend zu dem was Udo letzte Woche gesagt hat, zunächst ein wenig darauf eingehen, wie die Geschichte weitergegangen ist nachdem Udo aufgehört hat - was wir erreicht haben und wo alte Probleme weiter bestehen und neue hinzugekommen sind. Autonom Leben betreibt in Hamburg seit 1988 mit bezahlten Leuten eine Beratungsstelle für behinderte Menschen. Die ersten knapp 8 Jahre haben wir ausschließlich mit behinderten Menschen gearbeitet, die eine Beschäftigung als ABM-Maßnahme bekamen. Das bedeutete eine hohe Fluktuation unter den MitarbeiterInnen und immer größere Probleme, geeignete BeraterInnen zu finden. Wir haben es dann geschafft, dass die Stadt Hamburg uns seit jetzt einigen Jahren wenigstens zwei feste Stellen finanziert, die wir auf drei Leute aufgeteilt haben. Alle Menschen in unserer Beratungsstelle, mit Ausnahme der Arbeitsassistenten, müssen behindert sein, denn das gehört zu

unserem Beratungskonzept der Betroffenen-Beratung - oder neudeutsch: Peer Counselling. Mit dieser finanziellen Absicherung zählt Autonom Leben in Deutschland zu den finanziell am besten gesicherten Selbstbestimmt Leben Zentren. Es gibt gut 20 Zentren in Deutschland, davon sind 7 oder 8 etwa so groß wie Autonom Leben, die auch mit angestellten BeraterInnen arbeiten. Die meisten Zentren müssen sich über verschiedene Geldquellen finanzieren: Projektfinanzierung, EU-Gelder o.ä. Das bedeutet, es herrscht eine große Unsicherheit bei der Arbeit dieser Zentren. Dass es diese Zentren gibt, in denen parteiische Arbeit für die behinderten Menschen geleistet wird, ist einer der ganz großen Erfolge und mit wenigen Ausnahmen ist es in diesen Zentren und den Mitgliedsorganisationen unseres Dachverbandes Interessenvertretung Selbstbestimmt Leben in Deutschland auch nach wie vor gewährleistet, dass das Sagen und Machen tatsächlich bei den behinderten Menschen verbleibt. Eins unserer Motive ganz zu Anfang der 80er Jahre, als wir mit dem Aufbau dieser Zentren begannen, war ja unsere Kritik an den bis dorthin bestehenden Behindertenverbänden. Denn alle, auch solche die es ausdrücklich in ihrer Satzung anders bestimmten, waren dadurch geprägt, dass die behinderten Menschen nur die zahlende Mitgliedschaft stellten, aber die verantwortlichen Funktionäre und Redakteure der Verbandszeitschriften alles Nichtbehinderte waren. Das wollten wir nicht zulassen. In unserer neuen Organisation haben wir uns entsprechende Statuten gegeben und Grundsatzpapiere, in denen ausdrücklich festgelegt wurde, dass die Vorstände und die hauptamtlich Beschäftigten alles behinderte Menschen sein müssen.

Beraten wird in einigen Zentren wie gesagt nach dem Prinzip des Peer Counselling. Inzwischen hat Selbstbestimmt Leben auch eine Reihe von Fortbildungen angeboten, in denen Peer CounsellorInnen ausgebildet wurden und zudem einen Berufsverband gegründet. Diese inzwischen schon über zwei Jahrzehnte andauernde Tätigkeit hat in der Gesellschaft Spuren hinterlassen. Nicht nur ganz offensichtliche, z.b. dass kaum eine öffentliche Stelle zumindest an der Verpflichtung nach Barrierefreiheit vorbeikommt und die Gesellschaft ist ja tatsächlich barrierefreier geworden; wenigstens in dem Sinne - wenn man die baulichen Barrieren betrachtet - abgeschrägte Kantsteine, zugängliche öffentliche Gebäude (Kino und Theater) und ganz erfreulich, der öffentliche Nahverkehr. Als ich mit meiner Rollstuhlfahrerkarriere vor über 30 Jahren begann, konnte ich keinen Bus und keine Straßenbahn benutzen und musste bei der Deutschen Bahn im Gepäckwagen fahren! Das ist heute ganz anders, ich kann mit dem Zug fahren, was ich auch oft mache, weil ich nicht so gerne Auto fahre und ich kann einigermaßen sicher sein, dass ich an dem Zielort auch mit den Nahverkehr weiterkomme. Spuren hat Selbstbestimmt Leben auch in der öffentlichen Sprache und in der Sprache der beruflichen BetreuerInnen der Behindertenexperten hinterlassen. Der Begriff Selbstbestimmung taucht in vielen öffentlichen Verlautbarungen auf, inzwischen auch in wichtigen einschlägigen Gesetzeswerken. Z.B. im Pflegeversicherungsgesetz (ein Gesetz, das in seiner Gesamtheit allerdings einen gewaltigen Rückschlag für die behinderten Menschen bedeutet) steht, ich glaube im 2, die Verpflichtung zur Förderung der Selbstbestimmung.

Auch in anderen großen Sozialgesetzbüchern, die danach verabschiedet worden sind, das SGB IX und XII, ist von Selbstbestimmung die Rede. Manchmal haben wir schon ironisch daran gedacht, dass wir uns diesen Begriff hätten urheberrechtlich schützen lassen müssen. Das gleiche gilt auch für den Begriff der Assistenz oder der persönlichen Assistenz. Anfangs waren es nur wir, die kleinen Gruppen der Selbstbestimmt-Leben-Bewegung, die den Begriff der Assistenz benutzten - anstelle der alten Begriffe wie Pfleger, Hilfe, Betreuung oder gar wie es bis 1996 im Sozial-Hilfegesetz hieß: Wartung. Als ob wir Autos oder Maschinen wären! Heute benutzen den Begriff Assistenz so gut wie alle Ämter, die mit Behinderten zu tun haben. Die großen Wohlfahrtsverbände mit ihren vielfältigen stationären Einrichtungen haben so gut wie alle ihre MitarbeiterInnen verpflichtet, sich AssistentInnen zu nennen. An der Beziehung zwischen den dortigen MitarbeiterInnen und den behinderten Menschen, die dort wohnen müssen, hat sich aber vermutlich nicht so viel geändert. Aber ich denke, dass sich die Sprache schon geändert hat, ist auch schon ein Erfolg. Erfolgreich waren auch Einige aus unseren Reihen. Udo hat letzte Woche auch schon darauf hingewiesen. Wobei ich persönlich diese Erfolge eher als Niederlage empfinde. Viele von denen mit denen ich 1980 gestartet bin, haben inzwischen ein Bundesverdienstkreuz oder sind stolz darauf, dass sie in vorderster Linie eine Reihe der Gesetzestexte, die mir das Leben als Berater häufig eher schwerer als leichter machen, mit formuliert haben. Das gilt vor allem für das Bundesgleichstellungsgesetz, das wir seit einigen Jahren haben und das von Horst Frehe und Andreas Jürgens, zwei rollstuhlfahrenden Juristen, maßgeblich mitgeschrieben wurde.

Ich persönlich halte dieses Gesetz für wenig tauglich, die Lebenssituation Behinderter zu verbessern und in vielen Punkten für schädlich. Ich will zwei Punkte dazu nennen: Der eine Punkt ist, dass dort unterschieden wird zwischen angeborener und altersbedingter Behinderung. Die Letzteren haben jetzt schon und werden auch in Zukunft weniger Rechte haben als die behinderten Menschen, die von Geburt an behindert sind. Das führt zu der Situation, dass wir Behinderte haben, die von Geburt oder im berufstätigen Alter behindert wurden und die einen Rechtsanspruch auf Eingliederungshilfe haben, alte Menschen hingegen, häufig mit den gleichen Beeinträchtigungen, haben diesen Rechtsanspruch nicht. Das Bundesgleichstellungsgesetz, an dem meine früheren Mitstreiter mitgearbeitet haben, verfestigt bedauerlicherweise diese Trennung. Die zweite große Schwäche dieses Gesetzes ist, dass es sich vor vielen Fragen gedrückt hat und die Antwort gewissermaßen privatisiert hat. In dem Gesetz stehen Regeln, dass sich die Behindertenverbände und die großen Wirtschaftsverbände gefälligst selbst einigen müssen über Barrierefreiheit und über die Gleichstellung. Wenn ich mir die kleinen Behindertenverbände, insbesondere Selbstbestimmt Leben Deutschland, anschaue, die alle mit ehrenamtlichen Mitarbeitern arbeiten und nur ganz wenig mit bezahlten Mitarbeitern und demgegenüber die großen Wirtschaftverbände mit einem ganzen Rudel von hauptamtlich beschäftigten Anwälten, können die Behinderten dabei nur die Verlierer sein, wenn sie sich mit diesen Verbänden einigen sollen. Der Staat hätte da viel mehr Initiative selbst behalten und Gesetze verabschieden müssen, die mehr Pflichten und Zwänge für die UnternehmerInnen bedeuten, wie z.b. Behinderte einzustellen. Im Jahr 2003 war das europäische Jahr der Behinderten und der Verantwortliche der Bundesregierung für die Koordination

dieses Jahres war derselbe Horst Frehe, der nicht nur an diesem Gesetz, das ich eben kritisiert habe mitgeschrieben hat, sondern der auch 1981 mit mir und vielen anderen aus Protest die Bühne besetzt hat, um gegen das damalige internationale Jahr der Behinderten zu demonstrieren. Horst Frehe ist auch der Autor des Mottos dieses europäischen Jahres, das lautet Nichts über uns ohne uns. Ich habe dieses Motto immer karikiert, denn ich finde, dass auch wenn wir dran beteiligt sind, letztlich über uns entschieden wird, so dass nicht unbedingt etwas Positives dabei rauskommen muss. Ich möchte noch mal zurückkommen zum Begriff persönliche Assistenz: ein weiterer großer Erfolg unserer Bewegung ist, dass wir auch die Pflege, die wir vielfach ja selbst benötigen, selbstbestimmter in den Griff bekommen haben. Wir hier in Hamburg von Autonom Leben und genauso unsere Schwesterorganisation in Bremen haben eigene ambulante Dienste aufgebaut und dies in die alte demokratische Form der Genossenschaft gebracht. Inzwischen gibt es auch eine Assistenzgenossenschaft in Wien. Andere Behinderte sind dazu übergegangen, ihre Pflege so zu gestalten, dass sie selbst ArbeitgeberInnen geworden sind, die sich ihre AssistentInnen selbst suchen, selbst anleiten und ordnungsgemäß sozialversichert beschäftigen. Sie haben diesen vorhin erwähnten Bundesverband Forsea gegründet. Ich lebe selbst so, bin also Arbeitgeber und lerne so als Linker zumindest ein wenig die Rolle eines Arbeitgebers zu spielen. Ich hätte also das Recht, meine MitarbeiterInnen zu entlassen, wenn sie nicht ordentlich arbeiten. Diese Form der Pflege ermöglicht ganz sicher das höchste Maß an Selbstbestimmung. Eine Folge unserer Aktivität ist auch der so genannte Paradigmenwechsel in der Behindertenhilfe, der Ende der 90er Jahre ganz massiv von den Ämtern versprochen wurde.

Es gab, glaube ich, keine SozialpolitikerInnen, die ohne diese Formulierung Paradigmenwechsel auskamen. Der Paradigmenwechsel sollte ein Wechsel vom bevormundeten behinderten Menschen als Objekt staatlicher Sozialpolitik hin zu einem aktiven, selbsthandelnden, selbstverantwortlichem Menschen sein. Eine Folge dieses Paradigmenwechsels ist unter anderem die Einführung des so genannten persönlichen Budgets. Behinderte Menschen sollen eine Geldleistung erhalten, um damit die benötigten Hilfen eigenständig einzukaufen. Obwohl die Forderung nach Geldleistung, oder genauer gesagt, die Forderung der Wahl zwischen einer Geld- und einer Sachleistung, schon eine der Forderungen war, die wir 1981 formuliert haben, bin ich doch heute sehr skeptisch und vorsichtig, was das persönliche Budget betrifft. Ich sehe eine große Gefahr, dass es vor allem dazu führt, dass sich der Staat aus seiner sozialen Verantwortung zurückzieht, den behinderten Menschen alleine lässt und sagt, hier hast du einen Geldbetrag und nun siehe zu, wie du damit zurechtkommst. Mit solch einer Privatisierung und Individualisierung werden nur die behinderten Menschen zurechtkommen, die viel Unterstützung haben und gut informiert sind. Die allermeisten Behinderten sind das nicht. Sie stehen dem Sozialhilfeträger als wichtigstem Kostenträger in der Behindertenhilfe alleine gegenüber und werden mit nicht bedarfsgerechten Hilfen abgespeist. Der vielzitierte Paradigmenwechsel dient so hauptsächlich dazu, die öffentlichen Haushalte zu sanieren und Geld zu sparen. Als letztes will ich noch mal ganz kurz ein paar grundsätzliche Bemerkungen zum Begriff Selbstbestimmung machen.

Die Behindertenbewegung (und ich nenn sie mal so, obwohl von Bewegung nicht mehr viel zu sehen ist), ist meines Wissens die einzige soziale Bewegung, die sich um den Begriff der Selbstbestimmung gefunden hat. Die Erklärung ist einfach so, weil ein großer Teil der behinderten Menschen insbesondere der Menschen, die von Geburt an behindert sind, zeitlebens fremdbestimmt wurden. Der Begriff der Selbstbestimmung war also die notwendige Gegenwehr, gegen diese Fremdbestimmung. Selbstbestimmung bedeutet aber auch eine Falle. Sie impliziert auch eine individuelle Lösung. Jeder behinderte Mensch, der für sich Selbstbestimmung durchsetzen will, führt folglich seinen eigenen Kampf und findet seine eigenen Lösungen. Aber was für den einen eine Lösung ist, muss es nicht für den anderen sein. Das Pochen auf Selbstbestimmung erschwert also den kollektiven Widerstand. Dieser ist aber notwendig, um die Lebenssituation der Behinderten insgesamt zu verbessern. Schon immer mussten wir den Begriff Selbstbestimmung häufig mühsam abgrenzen von dem Begriff der Selbstständigkeit. Selbstständigkeit ist natürlich etwas anderes, nicht immer zu erreichen und auch nicht anzustreben. Später mussten wir diesen Begriff Selbstbestimmung abgrenzen und verteidigen gegenüber dem Begriff der Selbstverwirklichung, der meistens nur eine rücksichtslose Durchsetzung der eigenen Interessen bedeutet. Seit dem versprochenen Paradigmenwechsel und dem damit einhergehenden Rückzug des Staates und der zunehmenden Privatisierung sozialer Dienstleistungen bedeutet Selbstbestimmung für viele behinderte Menschen auch Selbstüberlassung. Insbesondere gegenwärtig erleben wir das in Hamburg. Die CDU-Regierung hat mächtigen Druck auf die AnbieterInnen der Behindertenhilfe gemacht, um den Anteil der ambulanten Hilfe auszuweiten und den stationären zurückzudrängen. Das passiert unter der Flagge der Selbstbestimmung. Für viele

behinderte Menschen bedeutet es aber ein weniger an Hilfe. So schlecht und unzureichend die stationäre Versorgung war, wurde und wird sie jetzt abgelöst durch Vereinsamung und ein Weniger an Hilfe. Wir von Selbstbestimmt Leben Deutschland müssen jetzt einen Zweifrontenkrieg führen, denn wir sind ja natürlich für mehr ambulante Hilfen und einen Abbau der stationären Hilfen, aber nicht zu dem Preis, dass es uns anschließend schlechter geht. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!