Die Rechtsstellung des Beschuldigten im Strafprozess der Bundesrepublik Deutschland



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Transkript:

Sonderdrucke aus der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg ALBIN ESER Die Rechtsstellung des Beschuldigten im Strafprozess der Bundesrepublik Deutschland Originalbeitrag erschienen in: Albin Eser (Hrsg.): Deutsch-ungarisches Kolloquium über Strafrecht und Kriminologie : Sanktionensystem, Stellung des Beschuldigten, Strafvollzug. Baden-Baden: Nomos Verlagsges., 1990, S. [147]-167

Deutsch-ungarisches Kolloquium über Strafrecht und Kriminologie Sanktionensystem -Stellung des Beschuldigten Strafvollzug Herausgegeben von Albin Eser und Günther Kaiser Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg i. Br., 2.-6. April 1989 DIE RECHTSSTELLUNG DES BESCHULDIGTEN IM STRAFPROZESS DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND Professor Dr. Albin Eser, Freiburg i.br. Nomos Verlagsgesellschaft Baden-Baden 1990

DIE RECHTSSTELLUNG DES BESCHULDIGTEN IM STRAFPROZESS DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND' Professor Dr. Albin Eser, Freiburg i.br. I. Grundlagen und Tendenzen des geltenden Verfahrensrechts Das Strafverfahrensrecht ist bekanntlich ein besonders empfindlicher Seismograph einer jeden Staatsverfassung.' Das zeigt sich schon daran, daß sich im Strafprozeß die Beteiligten meist in besonders spannungsgeladener Weise gegenüberstehen: der Täter dem Opfer, der Staatsanwalt dem Verteidiger sowie allen gegenüber das Gericht, das mehr als noch im Zivilverfahren nicht nur streitentscheidender Schlichter ist, sondern zum wahrhaft verurteilenden Richter werden kann. Welche Rolle der Staat dabei einnimmt - ob mehr hin zur Allmacht über oder eher hin zur Humanität für das schwache Individuum -, dies läßt sich in gesteigertem Maße an der Rechtsstellung des Beschuldigten ablesen: Denn je mehr oder weniger dieser als ein mit bestimmten Rechten ausgestattetes Subjekt respektiert und nicht nur als passives Objekt des Verfahrens behandelt wird, lassen sich daraus wichtige Aufschlüsse über das dahinterstehende Staatsverständnis gewinnen. Deshalb kann es nicht verwundern, daß mit den verschiedenen politischen Änderungen, die Deutschland in den letzten 100 Jahren durchgemacht hat - angefangen vom Kaiserreich über die Weimarer Republik, durch die NS-Diktatur bis hin zur heutigen Bundesrepublik -, auch die "Reichsstrafprozeßordnung" von 1877. Bei diesem Beitrag handelt es sich um die aktualisierte und auf den Beschuldigten konzentrierte Fassung eines Vortrags über "Die Rechtsstellung des Beschuldigten und des Verletzten im Strafprozeßrecht der Bundesrepublik Deutschland", der erstmals im Sammelband "Zweites deutsch-sowjetisches Kolloquium über Strafrecht und Kriminolozie" (hrsg. von H.-H. Jescheck/G. Kaiser/A. Eser), Baden-Baden 1984, S. 197-230, veröffentlicht ist. 1 Roxin, Strafverfahrensrecht, 21. Aufl. München 1989, S. 9. Im gleichen Sinne Pusztai in diesem Band, S. 141 ff.

148 Eser mehrfache tiefgreifende Änderungen gerade auch für die Rechtsstellung des Beschuldigten erfahren hat.2 Dazu nur einige Beispiele aus der Zeit nach dem 2. Weltkrieg: Zunächst war durch das "Vereinheitlichungsgesetz" von 1950 3 im wesentlichen der Rechtszustand von vor 1933 wiederhergestellt worden. Doch wurde dabei - als Reaktion auf mißbräuchliche Verhörpraktiken in der NS-Zeit - immerhin auch schon das Verbot willensbeeinträchtigender Vernehmungsmethoden eingeführt ( 136a StPO = Strafprozeßordnung). Auch die "Kleine Strafprozeßnovelle" von 19644 brachte weitere Verbesserungen für die Rechtsstellung des Beschuldigten, und zwar insbesondere durch Einschränkungen des Haftrechts, durch Verstärkung der Rechtsstellung des Verteidigers sowie durch Ausweitung der Belehrung des Beschuldigten über seine Aussagefreiheit. Demgegenüber brachten einige Strafprozeßgesetze von 1974/1975 5 gewisse Verschlechterungen für den Beschuldigten: Nachdem in verschiedenen terroristischen Prozessen manche Angeklagte samt ihren Verteidigern ihre Rechte in exzessiver Weise gebraucht, wenn nicht sogar mißbraucht hatten, sah sich der Gesetzgeber zur Gewährleistung eines ordnungsgemäßen Verfahrens gezwungen, die gemeinschaftliche Verteidigung mehrerer Beschuldigter durch ein und denselben Verteidiger völlig abzuschaffen ( 146 StPO) sowie die Zahl der Verteidiger für einen Beschuldigten auf drei zu begrenzen ( 137 Abs. 1 S. 2 StPO). Außerdem darf seitdem die Verhandlung in Abwesenheit des Angeklagten durchgeführt werden, wenn dieser seine Verhandlungsunfähigkeit vorsätzlich herbeigeführt hat ( 231a StPO). Weitere Verschärfungen brachte das 2 Wenn hier und im folgenden vom "Beschuldigten" die Rede ist, so ist dies - soweit nicht anders angezeigt - jeweils in übergreifendem, auch den "Angeschuldigten" und den "Angeklagten" umfassenden Sinne gemeint. Während der "Angeschuldigte" (ab Erhebung der öffentlichen Klage) und der "Angeklagte" (ab Eröffnung des Hauptverfahrens)gesetzlich definiert sind ( 157 StPO), fehlt freilich gerade für den "Beschuldigten" eine gesetzliche Definition. Um nun zu verhindern, daß der Beschuldigtenstatus und die damit verbundenen (nachfolgend noch näher zu behandelnden) Rechte von den Verfolgungsorganen willkürlich hinausgezögert werden können, ist nach herrschender Meinung eine Person von dem Zeitpunkt an als "Beschuldigter" zu betrachten, zu dem sie als hinreichend tatverdächtig erscheint, um gegen sie irgendwelche Ermittlungsmaßnahmen zu ergreifen (vgl. Kleinknecht/Meyer, Strafprozeßordnung, 39. Aufl. München 1989, Einleitung Rn. 76 ff. mit weiteren Nachweisen). 3 Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 12.9.1950, BGBl. [Bundesgesetzblatt] I S. 455. 4 Gesetz zur Änderung der StPO und des GVG [Gerichtsverfassungsgesetz) (StPÄG) vom 19.12.1964, BGBl. I S. 1067. 5 Erstes Gesetz zur Reform des Strafverfahrensrechts [1. StVRG] vom 9.12.1974, BGBl. I S. 3393, sowie Gesetz zur Ergänzung des Ersten Gesetzes zur Reform des Strafverfahrensrechts vom 20.12.1974, BGBl. I S. 3686.

Stellung des Beschuldigten in Deutschland 149 "Anti-Terrorismusgesetz" von 1976,6 indem bei Verfahren wegen Bildung oder Unterstützung einer terroristischen Vereinigung ( 129a StGB = Strafgesetzbuch) der Schriftverkehr zwischen Verteidiger und Beschuldigtem einer richterlichen Kontrolle unterworfen werden kann (f 148, 148a StPO). Noch weitergehend kann aufgrund des "Kontaktsperregesetzes" 7 während laufender terroristischer Aktivitäten erforderlichenfalls der Kontakt zwischen einsitzenden Beschuldigten und ihren Verteidigern zeitweilig völlig unterbunden werden. Auch das Änderungsgesetz von 1978 8 hat im wesentlichen die Bekämpfung des Terrorismus zum Ziel, indem Wohnungsdurchsuchungen ( 103 StPO) sowie Personenidentifizierungen ( 111, 173b, 163c StPO) in erweitertem Maße zugelassen werden. Die vorerst letzten größeren Eingriffe in das Strafprozeßrecht erfolgten durch das "Strafverfahrensänderungsgesetz 1979":9 Es dient im wesentlichen der Verfahrensbeschleunigung, indem Einwände gegen die richterliche Zuständigkeit sowie die Geltendmachung der Befangenheit von Richtern grundsätzlich nur noch bis zum Beginn der Hauptverhandlung geltend gemacht werden können ( 6a, 16, 222a, 222b StPO). Dagegen haben Reformgesetze der Jahre 1984 bis 1987 wiederum eine Ausweitung der Ermittlungsmaßnahme gebracht, wie vor allem durch Zulassung der sogenannten Schleppnetzfahndung ( 163d).1 II. Die Doppelstellung des Beschuldigten als *Untersuchungsobjekt" und "Prozeßsubjekt" Der Beschuldigte wird naturgemäß zunächst einmal zum Objekt: Weil er tatverdächtig ist, wird er einem Ermittlungsverfahren ausgesetzt und dadurch zum Gegenstand einer Untersuchung. Dies hat häufig weitere Maßnahmen zur Folge, die der Beschuldigte duldend über sich ergehen lassen muß: wie z.b. die Durchsuchung seiner Person und/oder Wohnung, die Beschlagnahme 6 Gesetz zur Änderung des StGB, der StPO, des GVG, der Bundesrechtsanwaltsordnung und des Strafvollzugsgesetzes vom 18.8.1976, BGBl. I S. 2181. 7 Gesetz zur Änderung des Einführungsgesetzes zum Gerichtsverfassungsgesetz (EGGVG) vom 30.9.1977, BGBl. I S. 1877. 8 Gesetz zur Änderung der StPO vom 14.4.1978, BGBl. I S. 497. 9 Strafverfahrensänderunsgesetz (StVÄG) 1979 vom 5.10.1978, BGBl. 1 S. 1645. - Weitere Einzelheiten zu diesen verschiedenen Reformen, einschließlich einer kritischen Betrachtung, bei Vogel, Strafverfahrensrecht und Terrorismus - eine Bilanz, NJW (= Neue Juristische Wochenschrift) 1978, S. 1217; Müller, Neuestes und allerneuestes Strafprozeßrecht, Kritische Justiz 1978, S. 301; Riess, Das Strafverfahrensänderungsgesetz 1979, NJW 1978, S. 2265. 10 Dazu wie auch zu weiteren strafprozessualen Änderungen der letzten Jahre vgl. den Überblick bei Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 438 f., sowie zum Ganzen neuestens seinen Überblick "Über die Reform des deutschen Strafprozeßrechts", in: Töpper (Hrsg.), Wie würden Sie entscheiden?, Festschrift für G. Jauch, München 1990, S. 183-200.

150 Eser von Sachen, unter Umständen auch die Festnahme und Verbringung in Untersuchungshaft. Zudem kann er durch sein Reden und Handeln selbst zum Beweismittel werden: Was er sagt und wie er sich verhält, kann grundsätzlich wie jedes andere Beweismittel der gerichtlichen Beurteilung und Bewertung unterworfen werden 1 1 Noch offensichtlicher ist die Objekt-Stellung des Beschuldigten, wenn er beispielsweise als "Augenscheinsobjekt" im Rahmen von 81a StPO auf seinen körperlichen Zustand hin untersucht werden darf.12 Doch selbst in dieser Rolle als Untersuchungsobjekt ist der Beschuldigte heute nicht mehr ungeschützt. Nicht nur, daß Zwangseingriffe in seine Rechte durchweg an einschränkende Voraussetzungen geknüpft sind; denn abgesehen von seiner Pflicht, der ordnungsgemäßen Ladung eines Richters oder Staatsanwalts Folge zu leisten Of 133, 163a Abs. 3 StPO) sowie in der Hauptverhandlung zu erscheinen ( 230 StP0), 13 braucht er in keiner Weise aktiv an seiner Überführung mitzuwirken: Deshalb ist er insbesondere nicht zum positiven Aussagen verpflichtet (vgl. unten III). Und auch soweit es beispielsweise bei Trunkenheitsdelikten um die Feststellung seines Blutalkoholgehalts geht, muß er zwar eine Blutentnahme dulden ( 81a Abs. 1 S. 2 StPO), braucht aber nicht seinerseits aktiv in ein Alco-Röhrchen zu blasen." Spätestens unter dem Einfluß liberaler Reformen des 19. Jahrhunderts - nach Überwindung des extremen "Inquisitionsprozesses" - ist der Beschuldigte immer mehr in eine weitere Rolle hineingewachsen: Als ein mit selbständigen Rechten ausgestatteter, das Verfahren mitgestaltender Beteiligter ist er zum aktiven Prozeßsubjekt geworden. Diese Subjekt-Rolle kann ihm heute schon deshalb nicht mehr streitig gemacht werden, weil die verfassungsrechtlich gewährleistete "Menschenwürde" (Art. 1 GG = Grundgesetz) auch für den Beschuldigten unantastbar bleibt' 5 und diese Würde es verbietet, einen Menschen zum willenlosen Objekt zu degradieren. Deshalb braucht er auch seine sonstigen Grundrechte nicht völlig preiszugeben, sondern lediglich gewisse Einschränkungen - als eine Art "Sonderopfer" für die erforderliche Verbrechensaufklärung - hinzunehmen. 16 Schon um seine Grundrechte wahrnehmen 11 Müller-Dietz, Die Stellung des Beschuldigten im Strafprozeß, ZStW (= Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft) 93 (1981), S. 1177-1216. 12 Das ist vor allem für die Blutentnahme bei Alkoholverdacht bedeutsam. 13 Auch von dieser Erscheinungspflicht gibt es allerdings eine ganze Reihe von Ausnahmen: vgl. ff 231a-233 StPO. 14 BayObLG (= Bayerisches Oberstes Landesgericht) NJW 1963, S. 772; OLG (= Oberlandesgericht) Hamm MDR ( = Monatsschrift für Deutsches Recht) 1974, S. 508; OLG lt Hamm NJW 1974, S. 713. 15 BGHSt (= Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen) 5, S. 332/333 (1954). 16 Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1206.

Stellung des Beschuldigten in Deutschland 151 zu können, muß der Beschuldigte die Möglichkeit erhalten, sich aktiv am Verfahren zu beteiligen; und zwar vor allem dadurch, daß er Fragen und Beweisanträge stellen kann oder auf sonstige Weise seine Verteidigung betreibt. Selbst wenn also der Beschuldigte bis zu einem gewissen Grad in notwendiger Weise auch Beweismittel bleibt, gebührt ihm doch die Stellung eines mit bestimmten Rechten ausgestatteten Prozeßsubjekts. In diesem Sinne hat der Bundesgerichtshof (BGH) schon im Jahre 1954 postuliert: "Der Beschuldigte ist Beteiligter, nicht Gegenstand des Strafverfahrens."" Um den Beschuldigten einerseits als Untersuchungsobjekt gegen übermäßige staatliche Eingriffe zu schützen und um andererseits seine Stellung als Prozeßsubjekt zu sichern, finden sich in der StPO eine Reihe von Schutz- und Beteiligungsrechten des Beschuldigten. Davon sind nachfolgend wenigstens einige der wichtigeren näher zu betrachten. III. Der Schutz vor Selbstbezichtigung: Schweigerecht des Beschuldigten als negative Aussagefreiheit I. Zur Entwicklung dieses Rechts Das aus der englischen Reformbewegung stammende "privilege against self-incrimination" ist ein Teilaspekt der dem Beschuldigten eingeräumten Aussagefreiheit. Diese hat bekanntlich zwei Seiten: negativ das Recht zu schweigen, um sich damit nicht selbst belasten zu müssen; positiv das Recht zu reden, um sich durch aktive Verteidigung vom Tatverdacht entlasten zu können. 18 Obgleich uns das Schweigerecht heute als so selbstverständlich erscheint, daß es bereits als "prozessuale Binsenwahrheit" bezeichnet werden könnte, bedurfte es doch eines langwierigen Entwicklungsprozesses, um sich als echtes "Recht" - und nicht nur als bloße faktische Möglichkeit - durchzusetzen. Denn solange es - wie etwa im mittelalterlichen Inquisitionsprozeß - um "Wahrheitsermittlung um jeden Preis" ging, war auch der Beschuldigte nicht davor gefeit, als Beweismittel gegen sich selbst benutzt und demzufolge notfalls mit Gewalt zur Aussage gezwungen zu werden. Statt dessen dem Angeklagten das Reden 17 BGHSt 5, S. 332/333 (1954). Vgl. auch Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. Heidelberg/Karlsruhe 1985, S. 82, 203; ferner Eb. Schmidt Lehrkommentar zur Strafprozeßordnung und zum Gerichtsverfassungsgesetz, Teil 1: Die rechtstheoretischen und rechtspolitischen Grundlagen des Verfahrens, 2. Aufl. Göttingen 1964, Rn. 98. 18 Vgl. zum Ganzen Eser, Der Schutz vor Selbstbezichtigung im deutschen Strafprozeßrecht, in: Deutsche Strafrechtliche Landesreferate zum IX. Internationalen Kongreß für Rechtsvergleichung, Teheran 1974, Beiheft zur ZStW 1974, S. 136 ff; ferner Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst, Berlin 1977.

152 Eser oder Schweigen freizustellen, setzte die Erkenntnis voraus, daß es auch im Strafverfahren nicht um Wahrheitsfindung um jeden Preis gehen kann, sondern lediglich um die Überführung des Täters in einer seine Personenwürde respektierenden Weise. Erste Ansätze dazu finden sich zwar bereits in der Braunschweigischen StPO von 1849, wonach der Untersuchungsrichter dem Beschuldigten beim ersten Verhör zu eröffnen habe, "daß er zu keiner Antwort oder Erklärung auf die ihm vorgelegten Fragen gehalten" sei; doch findet sich andererseits noch in der Hamburgischen StPO von 1869 die Pflicht des Angeklagten, hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes Auskunft zu erteilen. 19 Auch die Reichs-StPO von 1877 vermochte sich noch nicht eindeutig für die Aussagefreiheit des Beschuldigten zu erklären: Zwar enthalten die Motive zum Entwurf den Grundsatz, daß keiner gegen seinen Willen gezwungen werden könne, an seiner Überführung mitzuwirken.» Dies jedoch dadurch abzusichern, daß der Beschuldigte durch das Vernehmungsorgan (Polizei, Staatsanwalt oder Richter) auf seine Aussagefreiheit hinzuweisen sei, davor schreckte der Gesetzgeber von 1877 noch zurück. Einen mittelbaren Hinweis auf sein Schweigerecht konnte daher der Beschuldigte allenfalls daraus entnehmen. daß er nach 136 StPO der damaligen Fassung vom Richter zu fragen war, "ob er etwas auf die Beschuldigung erwidern wolle". Doch selbst zu dieser Frage war nur der Richter, nicht aber der Staatsanwalt oder die Polizei verpflichtet. Vielmehr waren diese beiden Organe - jedenfalls soweit dabei auf Anwendung von Zwang oder Drohung verzichtet wurde - sogar berechtigt, den Beschuldigten zum Geständnis anzuhalten,2' also ähnlich wie dies offenbar auch in Ungarn noch bis 1989 der Fall gewesen wann Ja, selbst dem Richter war damals offenbar nicht verwehrt, zumindest mit feinen Mitteln auf ein Geständnis hinzuarbeiten. Da somit Staatsanwaltschaft und Polizei in ihren Vernehmungsmethoden noch weitgehend frei waren, war der Richter unter Umständen zur Verwertung von Aussagen und Geständnissen gezwungen, die von anderen Organen im Ermittlungsverfahren erlangt worden waren, von ihm jedoch niemals in dieser Weise hätten erlangt werden dürfen. Demgegenüber hat erst der durch das "Vereinheitlichungsgesetz" von 1950 eingeführte 136a StPO Klarheit gebracht: Danach dürfen Aussagen, die durch Zwang, Drohung oder das Versprechen ungesetzlicher Vorteile erlangt 19 Einzelnachweise bei Rüping, Zur Mitwirkungspflicht des Beschuldigten und Angeklagten, JR (= Juristische Rundschau) 1974, S. 135. 20 Motive zu dem Entwurf einer Deutschen Strafprozeß-Ordnung, Berlin 1872, S. 93. 21 Vgl. Radbruch, Grenzen der Kriminalpolizei, Festschrift für Wilhelm Sauer, Berlin 1949, S. 121. 22 Vgl. Pusztai in diesem Band, S. 133 f.

Stellung des Beschuldigten in Deutschland 153 wurden, selbst dann nicht verwertet werden, wenn der Beschuldigte der Verwertung zustimmen würde.23 2. Belehrungspflicht der Verfolgungsorgane Der volle Durchbruch zu einer solchen unmißverständlichen Garantie der Aussagefreiheit wurde durch die "Kleine Strafprozeßnovelle" von 1964 erreicht: Nach dem neugefaßten 136 StPO ist der Beschuldigte bereits bei Beginn der ersten Vernehmung darauf hinzuweisen, "daß es ihm nach dem Gesetz freistehe, sich zu der Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen...". Zudem ist nunmehr klargestellt, daß zu dieser Belehrung des Beschuldigten nicht nur der Richter, sondern - wie sich aus der Verweisung des 163a StPO ergibt - auch die Staatsanwaltschaft und Polizei verpflichtet sind, und zwar vor jeder ersten Vernehmung. Das bedeutet, daß der Beschuldigte nicht nur vor der ersten Vernehmung durch irgendeines dieser Strafverfolgungsorgane zu belehren ist, sondern vor jeder ersten Vernehmung durch Polizei, Staatsanwaltschaft oder Richter, und zwar gleichgültig, ob im Hauptverfahren oder bereits im Ermittlungsverfahren. 24 Wird also der Beschuldigte - wie dies nicht selten ist - zuerst von der Polizei, dann vom Staatsanwalt und schließlich noch vom Richter vernommen, so ist er dreimal zu belehren. Ja, noch mehr: Selbst wenn der Beschuldigte von einem Verfolgungsorgan bereits belehrt war, aber von demselben Verfolgungsorgan erneut vernommen wird, so wird eine nochmalige Belehrung für erforderlich gehalten, wenn seit der ersten Vernehmung ein weiterer Verdacht hinzugekommen ist, sich also der Gegenstand der Vernehmung geändert oder erweitert hat.25 Wie ernst die deutsche StPO diese Belehrungspflicht nimmt, ist zudem auch daraus zu ersehen, daß der Beschuldigte nicht nur über sein Schweigerecht als solches zu belehren, sondern er zudem auch über die Art des gegen ihn erhobenen Vorwurfs aufzuklären ist. Denn um entscheiden zu können, welches der beiden gleichwertigen Verteidigungsmittel - nämlich schlichtes Schweigen oder aktives Einlassen - zu wählen ist, muß der Beschuldigte wissen, wogegen er sich zu verteidigen hat. Für den Staatsanwalt und Richter bedeutet dies, daß sie den Beschuldigten nicht nur - wie es nach herrschender Meinung im früheren Recht dem Richter auferlegt war - über die tatsächliche Seite der ihm vorgeworfenen Tat informieren müssen, sondern auch darüber, "welche Straf- 23 Vgl. zum Ganzen auch Eser, Aussagefreiheit und Beistand des Verteidigers im Ermittlungsverfahren, ZStW 79 (1967), S. 565 ff. 24 Vgl. Kleinknecht/Meyer, StPO, f 136 Rn. 1. 25 Eb. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO und zum GVG, Teil II, 136 Anm. I 2; Meyer, in: Löwe-Rosenberg, Die Strafprozeßordnung und das Gerichtsverfassungsgesetz, 23. Aufl. Berlin/New York 1976-1978, f 136 Rn. 12.

154 Eser vorschriften [für die ihm zur Last gelegte Tat] in Betracht kommen" (i 136 Abs. 1 S. 1 StPO). Allein die Polizei, von der genauere Rechtskenntnisse nicht immer erwartet werden können, darf sich darauf beschränken, dem Beschuldigten lediglich die ihm zur Last gelegten Tatsachen zu eröffnen, ohne auch noch die dafür in Betracht kommenden Strafnormen benennen zu müssen (II 163a Abs. 4 StPO). Auch diese Aufklärung des Beschuldigten über die Art des Tatvorwurfs ist ihm bereits bei seiner ersten Vernehmung zu geben. Zwar müssen dafür nicht alle bekannten Einzelheiten der Tat angegeben werden:, zumindest aber muß die Tat so deutlich gekennzeichnet sein, daß der Beschuldigte davor bewahrt wird, sich unversehens einer anderen als der an sich verfolgten Tat zu bezichtigen.26 All dies hat bereits im Ermittlungsverfahren zu geschehen. Darüber hinaus ist in der Hauptverhandlung der Angeklagte erneut darüber zu belehren, "daß es ihm freistehe, sich zu der [vom Staatsanwalt verlesenen] Anklage zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen" (i 243 Abs. 4 StPO). Durch diese nochmalige Belehrung soll der andersartigen psychologischen Situation im Rahmen einer öffentlichen Hauptverhandlung Rechnung getragen werden. Eine weitere Absicherung erfährt die Aussagefreiheit noch dadurch, daß der Beschuldigte das Recht hat, "jederzeit, auch schon vor seiner Vernehmung, einen von ihm zu wählenden Verteidiger zu befragen", und daß er auch darüber zu belehren ist ( 136 Abs. 1 S. 2 StPO). Denn wenn das englische Sprichwort "Wer sein eigener Verteidiger ist, hat einen Narren zum Klienten" richtig ist, so muß sich der Beschuldigte bereits bei Entscheidung über sein Schweigerecht eines Rechtsbeistands bedienen dürfen. Das gilt noch mehr, wenn er sich zu einer vollen oder wenigstens teilweisen Einlassung bereit erklärt; denn dann könnte sein Schutz vor Selbstinkriminierung vor allem durch unbedachte oder unklare Aussagen, wenn nicht gar durch eine völlig falsche Selbstverteidigungsstrategie gefährdet sein. Diese umfangreichen Belehrungspflichten zeigen mit unmißverständlicher Deutlichkeit, daß es dem deutschen Strafprozeßrecht um die Aussagefreiheit des Beschuldigten wirklich ernst ist und dabei Rechtsgleichheit für alle gewährleistet sein soll. Denn damit nicht nur der kaltblütige oder bereits kriminell erfahrene Rechtsbrecher seine Aussagefreiheit auszunutzen versteht, sondern sich auch der juristisch nicht vorgebildete oder aufgeregte Beschuldigte frei entscheiden kann, ist er über seine Rechte aufzuklären. Deshalb ist es sehr zu begrüßen, daß nunmehr auch im ungarischen Recht die Belehrungspflicht der Verfolgungsorgane ausdrücklich im Gesetz geregelt ist, wobei zur Verhin- 26 Vgl. Sarstedt, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 22. Aufl. 1971, f 136 Anm. 4; nicht mehr so klar Meyer, in: Löwe-Rosenberg, StPO, 23. Aufl. f 136 Rn. 20.

Stellung des Beschuldigten in Deutschland 155 derung von Mißbrauch sogar noch ein übriges getan wurde, indem die Belehrung des Beschuldigten und seine Antwort darauf gesondert zu protokollieren sind?' Angesichts dieser großen Bedeutung der Belehrung ist es um so mehr zu bedauern, daß ihre praktische Durchsetzung in der neueren deutschen Rechtsprechung nicht hinreichend abgesichert ist. Denn entgegen einer weitverbreiteten Lehre, wonach eine Aussage, die unter Verletzung der Belthrungspflicht durch die Polizei erlangt wurde, im Hauptverfahren nicht verwertbar sein soll,28 hält es der BGH neuerdings für zulässig, daß eine derart erlangte Aussage durch Vernehmung des Polizeibeamten in die Beweisaufnahme eingeführt werden kann.29 Damit aber bleibt eine Verletzung der Belehrungspflicht durch die Polizei praktisch sanktionslos. Dies soll allerdings nur für Vernehmungen des Beschuldigten durch die Polizei gelten. Sofern dagegen im Rahmen der Hauptverhandlung der Richter die nach 243 Abs. 4 StPO vorgeschriebene Belehrung unterlassen hat, darf nach Auffassung des BGH die dadurch erlangte Aussage nicht verwertet werden.» Diese unterschiedliche Handhabung von polizeilicher und richterlicher Belehrung erscheint widersprüchlich und wird zu Recht kritisiert 31 3. Umfang des Schweigerechts: Aussagen "zur Sache" Das Schweigerecht des Beschuldigten ist allerdings kein totales. Denn da es nach der Belehrungsformel des 136 Abs. 1 S. 2 StPO dem Beschuldigten lediglich freisteht, "sich zur Beschuldigung zu äußern oder nicht zur Sache auszusagen", wird daraus im Umkehrschluß gefolgert, daß auch der Beschuldigte - ebenso wie jeder andere Staatsbürger - zur Angabe seiner Personalien verpflichtet bleibe.32 Diese Auffassung wird zusätzlich noch damit abgestützt, daß nach 111 OWiG ( = Ordnungswidrigkeitengesetz) ordnungswidrig handelt (und dementsprechend mit einer Geldbuße belegt werden kann), "wer einer zuständigen Behörde [wozu auch die Strafverfolgungsorgane und Gerichte gehören] über seinen Vor-, Familien- oder Geburtsnamen, Ort oder Tag seiner Geburt, seinen Familienstand, seinen Beruf, seinen Wohnort, seine Wohnung 27 Vgl. Bärd, Nachwort in diesem Band, S. 307. 28 Vgl. Boujong, in: Karlsruher Kommentar zur StPO, 2. Aufl. München 1987, f 136 Rn. 27 mit weiteren Nachweisen. 29 BGH NJW 1983, S. 2205. 30 BGHSt 25, S. 325 (1974); 31, S. 395 (1983). 31 So namentlich bereits ablehnend K Meyer, NStZ 1983, S. 556; ferner Fezer, Strafprozeßrecht I, München 1986, Nr. 3/31-48. 32 BGHSt 21, S. 334/364 (1968); 25, S. 13/17 (1974).

156 Eser oder seine Staatsangehörigkeit eine unrichtige Angabe macht oder die Angabe verweigert". Diese Beschränkung des Schweigerechts auf Angaben zur Sache wird jedoch von einem Teil der Rechtslehre zu Recht kritisiert. Denn die Pflicht zur Angabe der Personalien erscheint jedenfalls mit dem Privileg gegen Selbstinkriminierung unvereinbar, wenn der Täter beispielsweise bereits namentlich bekannt ist und die Preisgabe seiner Personalien praktisch einem Geständnis seiner Täterschaft gleichkäme. 33 Nimmt man also das Privileg gegen Selbstinkriminierung wirklich ernst, so bleibt kein anderer Weg, als dem Beschuldigten ein unbeschränktes, also auch seine Personalien umfassendes Aussageverweigerungsrecht einzuräumen.34 Im übrigen ist diese Frage einmal mehr ein eindrucksvolles Beispiel für das Kollidieren unterschiedlicher Entwicklungslinien und Interessen: auf der einen Seite der auf das gemeinrechtliche Inquisitionsprinzip zurückgehende Grundsatz materieller Wahrheitsfindung, wodurch freilich der Beschuldigte leicht zum bloßen Verfahrensobjekt herabgewürdigt werden kann; auf der anderen Seite das moderne Prinzip der "Justizförmigkeit", wonach der Beschuldigte in Respektierung seiner Menschenwürde als Prozeßsubjekt zu sehen ist, dadurch aber die Wahrheitsfindung eingeschränkt werden kann. 35 Dieses Spannungsverhältnis zwischen Wahrheitsermittlungsmaxime und Justizförmigkeit ist auch heute noch ein kontrovers diskutiertes Thema. Das Bundesverfassungsgericht sieht in beiden Grundsätzen die zwei Seiten des Rechtsstaatsbegriffs. 36 Denn der Rechtsstaat habe sowohl die individuellen Freiheitsrechte auf der einen Seite wie auch die Aufrechterhaltung der Funktionstüchtigkeit der Rechtspflege auf der anderen Seite zu gewährleisten. Insoweit gibt es nicht nur eine "Schutzpflicht gegenüber dem Einzelnen", sondern auch eine "Schutzpflicht gegenüber der Gesamtheit aller Bürger n." Dabei hat - wie von einem Teil der Lehre zu Recht betont - auch die Allgemeinheit ein Interesse daran, daß "ein Verfahren prozeßordnungsmäßig abläuft" 38 und "niemand zu Unrecht verurteilt wird".39 33 Vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 156 f.; Wessels, Schweigen und Leugnen im Strafverfahren, JuS (= Juristische Schulung) 1966, S. 169. 34 Vgl. dazu bereits Eser, ZStW 79 (1967), S. 575; ferner Peters, Strafprozeß, S. 207. 35 Vgl. auch Riehle, Funktionstüchtige Strafrechtspflege contra strafprozessuale Garantien, Kritische Justiz 1980, S. 316 ff. 36 BVerfGE (= Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts) 33, S. 367/383 (1973); 33, S. 312/320 (1975). 37 BVerfG NJW 1977, S. 2255. 38 Seelmann, Die Ausschließung des Verteidigers, NJW 1979, S. 1128/1131. 39 Grünwald, Anm. zur BVerfG-Rechtsprechung, JZ (= Juristenzeitung) 1976, S. 767. Vgl. zum Ganzen auch Vogel, NJW 1978, S. 1217.

Stellung des Beschuldigten in Deutschland 157 W. Das Recht des Beschuldigten auf Selbst-Verteidigung: positive Aussagefreiheit Wenn vom Recht des Beschuldigten auf Verteidigung die Rede ist, so wird dabei meist an den Beistand durch einen Verteidiger gedacht (dazu unten V). Diesem Recht des Beschuldigten auf Unterstützung durch einen Dritten ist jedoch ein anderes noch vorgelagert, das uns heute zwar selbstverständlich erscheint, aber durchaus Eigenwert besitzt: das Recht des Beschuldigten, sich selbst zu verteidigen. Deshalb wird durch Art. 6 der Europäischen Menschenrechtskonvention sowohl das Recht des Beschuldigten auf Selbst-Verteidigung wie auch sein Recht auf Beistand eines Verteidigers garantiert. Beim Recht des Beschuldigten auf Selbst-Verteidigung handelt es sich um die positive Seite der Aussagefreiheit: sein Recht, reden zu dürfen. Dieses Recht läßt sich nicht nur aus dem verfassungsrechtlichen "Anspruch auf rechtliches Gehör" (Art. 103 GG)" begründen, sondern ergibt sich letztlich aus der Wahrung der Menschenwürde. Denn wenn der Beschuldigte nicht nur Verfahrensobjekt bleiben soll, sondern in seiner Subjektrolle zu respektieren ist (oben II), so kann dies wohl kaum besseren Ausdruck finden als durch sein Recht, sich aktiv und persönlich verteidigen zu dürfen. Um dieses Recht sicherzustellen, ist dem Beschuldigten im deutschen Strafprozeßrecht in vielfältiger Hinsicht das Recht eingeräumt, Erklärungen abzugeben, Fragen und Beweisanträge zu stellen sowie ein Plädoyer zu halten. Dazu nachfolgend einige Beispiele: So wird dem Beschuldigten von Gesetzes wegen in jedem Verfahrensabschnitt die Möglichkeit gegeben, sich zu dem gegen ihn erhobenen Tatverdacht zu äußern. Dies ist durch 163a Abs. 1 StPO bereits im Ermittlungsverfahren und damit schon bei der Vernehmung durch die Polizei oder Staatsanwaltschaft gewährleistet. Zwar ist nicht geregelt, zu welchem Zeitpunkt der Beschuldigte zu vernehmen ist und ob dies unter Umständen sogar mehrmals zu geschehen hat. Doch wird man eine wiederholte Vernehmung jedenfalls dann für erforderlich halten müssen, wenn nach der Vernehmung neue Vorwürfe gegen den Beschuldigten erhoben wurden oder neue erhebliche Beweismittel beigebracht sind.42 Dieses Recht, sich durch selbstentlastende Erklä- 40 Art. 6 Abs. 3 lit. c) EMRK ( = Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4.11.1950): "Jeder Angeklagte hat insbesondere die folgenden Rechte: sich selbst zu verteidigen oder den Beistand eines Verteidigers seiner Wahl zu erhalten und, falls er nicht über die Mittel zur Bezahlung eines Verteidigers verfügt, unentgeltlich den Beistand eines Pflichtverteidigers zu erhalten, wenn dies im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist." 41 Vgl. Roxin, Strafverfahrensrecht, S. 94. 42 Vgl. Peters, Strafprozeß, S. 204.

158 Eser rangen gegen den Tatverdacht wehren zu können, ist in verstärktem Maße bei Festnahme oder Untersuchungshaft des Beschuldigten abgesichert; denn in diesem Fall ist der Festgenommene spätestens am Tag nach der Festnahme dem zuständigen Richter vorzuführen und von diesem zu vernehmen (0 115, 128 StPO). Auch für das Zwischenverfahren, in dem das Gericht darüber zu entscheiden hat, ob aufgrund der Anklage der Staatsanwaltschaft das Hauptverfahren zu eröffnen ist ( 199 StPO), ist dem Beschuldigten das Recht eingeräumt, Einwendungen gegen die Eröffnung des Hauptverfahrens zu erheben (i 201 Abs. 1 StPO). Besondere Ausprägung hat der Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 GG) - und damit die Möglichkeit zur Selbstverteidigung - im Rahmen der Hauptverhandlung. Denn nach 33 StPO darf während der Hauptverhandlung keine Entscheidung ergehen, ohne daß die Beteiligten - also auch und vor allem der Angeklagte - zuvor dazu angehört worden wären. Zudem ist der Angeklagte nach jeder Vernehmung eines Zeugen, Sachverständigen oder Mitangeklagten sowie nach Verlesung von Urkunden zu fragen, ob er dazu etwas zu erklären habe ( 257 Abs. 1 StPO). Zudem hat er - und zwar selbst neben einem etwaigen Verteidiger - das Recht zu einem zusammenfassenden Plädoyer (i 258 Abs. 1 S. 3 StPO). Nicht zuletzt bleibt dem Angeklagten in jedem Falle noch das sogenannte "letzte Wort" ( 258 Abs. 2 S. 2 StPO): Und zwar muß dem Angeklagten immer dann, wenn nach ihm noch ein anderer Verfahrensbeteiligter gesprochen hat - und sei es selbst sein eigener Verteidiger -, nochmals die Gelegenheit zur Äußerung gegeben werden.43 Dieses Recht, durch Fragen und Erklärungen zu seiner Verteidigung beizutragen, erfährt noch eine wesentliche Verstärkung durch sein Recht zur Stellung von Beweisanträgen; denn dadurch kann er seinerseits ihm günstig erscheinende Beweisaufnahmen initiieren. Dieses Recht steht dem Beschuldigten schon im Ermittlungsverfahren gegenüber dem Staatsanwalt ( 163a Abs. 2 StPO), im Zwischenverfahren ( 201 StPO) und vor allem in der Hauptverhandlung zu ( 219, 244-246 StPO). Vor allem aber ist dieses Recht zur Stellung von Beweisanträgen auch zeitlich jedenfalls bis zum Beginn der Urteilsverkündung unbeschränkt; das heißt, daß ein Beweisantrag nicht einfach - wie dies im Zivilprozeß möglich wäre - wegen Verspätung zurückgewiesen werden darf ( 246 StPO). Ist ein Beweisantrag ordnungsgemäß gestellt, so darf er nur unter bestimmten engen Voraussetzungen abgelehnt werden. Zudem darf der Angeklagte auch selbst Zeugen oder andere Beweismittel in die Hauptverhandlung mitbringen. Auf die Vernehmung solcher sogenannter "präsenter Beweismittel" hatte der Beschuldigte früher einen nahezu uneinge- 43 BGHSt 22, S. 278 (1969).

Stellung des Beschuldigten in Deutschland 159 schränkten Anspruch. Zwar ist seit dem Änderungsgesetz von 1979" die Möglichkeit zur Ablehnung solcher Beweismittel erweitert; doch ist eine Ablehnung immer noch nur dann möglich, wenn die Tatsache, die bewiesen werden soll, schon bewiesen ist, wenn zwischen ihr und dem Gegenstand des Verfahrens kein Zusammenhang besteht, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet ist oder wenn der Antrag nur zum Zwecke der Prozeßverschleppung gestellt ist (f 245 Abs. 2 StPO). Neben dem Recht, eigene Beweisanträge zu stellen, hat der Angeklagte zudem auch noch das Recht, Zeugen zu befragen, die von der Staatsanwaltschaft beigebracht wurden ( 240 Abs. 2 StPO). V. Das Recht auf Beistand durch einen Verteidiger 1. Zielsetzung Die vorgenannten Möglichkeiten und Rechte nutzen dem Beschuldigten freilich wenig, wenn er sie - falls er sie überhaupt kennt - nicht sachgerecht zu handhaben weiß. Und das ist leider fast der Regelfall. Denn von seltenen Ausnahmen abgesehen, wird es dem Beschuldigten meist an den erforderlichen Rechtskenntnissen wie auch an der Ausdrucksfähigkeit fehlen, um sich mit der Anschuldigung auseinanderzusetzen und seine Rechte adäquat wahrzunehmen. Auch wird er in der Vernehmungs- oder gar Festnahmesituation häufig psychisch überfordert sein. So wird er das Ergebnis von Untersuchungen nicht richtig würdigen, sachdienliche Anträge unterlassen, ja oft nicht einmal richtig entscheiden können, ob er nun schweigen oder besser aussagen soll. Zudem wird es meist nur einem juristisch geschulten Beistand möglich sein, die Justizförmigkeit des Verfahrens zu überwachen. Auch wird das Plädoyer eines Verteidigers, der in der Regel eine gewisse Distanz zu den Dingen hat, meist überzeugender wirken als das eines emotional agierenden Angeklagten. Deshalb wird er erfahrungsgemäß gut beraten sein, wenn er sich nicht auf seine eigene Verteidigungskunst verläßt, sondern sich eines Verteidigers bedient.45 Dieses Bedürfnis für die Wahrnehmung der Beschuldigtenrechte durch einen Dritten ist auch nicht etwa deshalb entbehrlich, weil ja auch Staatsanwaltschaft und Gericht von Amts wegen zu einer allseitigen, also auch den Beschuldigten entlastenden Ermittlung verpflichtet sind: so nach 160 Abs. 2 StPO die Staatsanwaltschaft, die "auch für die Entlastung dienende Umstände 44 Vgl. oben Anm. 9. 45 Vgl. Müller-Dietz, ZStW 93 (1981), S. 1235.

160 Eser zu ermitteln hat", bzw. das Gericht, das aufgrund des Sozialstaatsprinzips zur Fürsorge gegenüber dem Angeklagten verpflichtet ist." Selbst wenn man darin - wie offenbar die Kennzeichnung in Ungarn - eine "materielle Verteidigung" erblicken kann,47 macht dies den Verteidiger nicht überflüssig; denn das psychologische Rollenverständnis von Gericht und Staatsanwalt ist nun einmal ein grundsätzlich anderes als das des Verteidigers: Während der auf seine Verfolgungsaufgabe fixierte Staatsanwalt etwaige Entlastungsmomente leicht übersehen oder in ihrer Tragweite verkennen kann und während selbst der um allseitige Objektivität bemühte Richter seine Aufklärungspflicht überbewerten und dadurch den Beschuldigten unversehens in seinen Rechten beschneiden, kann, soll sich der Verteidiger zu Recht darauf konzentrieren dürfen, die Gesetzlichkeit des Verfahrens zu überwachen und den Rechten des Beschuldigten - notfalls auch einseitig - Geltung zu verschaffen. 48 Aus diesen Gründen ist dem Beschuldigten - wie bereits durch Art. 6 Abs. 3 c) Europäische Menschenrechtskonvention garantiert" - durch 137 Abs. 1 StPO das Recht eingeräumt, "sich in jeder Lage des Verfahrens des Beistands eines Verteidigers zu bedienen". 2. Freiwillige und "notwendige" Verteidigung Wie sich aus dem zuvor erwähnten 137 Abs. 1 StPO ergibt, "kann" sich der Beschuldigte eines Verteidigers bedienen, muß dies aber nicht. Das bedeutet, daß es grundsätzlich im freien Belieben des Beschuldigten steht, ob er sich mit seiner Selbstverteidigung begnügen oder nicht doch lieber einen Verteidiger beiziehen will. Freilich, um zu verhindern, daß ein offensichtlich zu seiner Verteidigung nicht befähigter Beschuldigter blindlings in sein Unglück rennt und darunter auch die Rechtsstaatlichkeit und Fairneß des Verfahrens leiden könnte, ist in bestimmten Fällen die Mitwirkung eines Verteidigers 46 Vgl. Maiwald, Zur gerichtlichen Fürsorgepflicht im Strafprozeß und ihren Grenzen, in: Festschrift für Richard Lange, Berlin/New York 1976, S. 745. 47 Vgl. Pusztai in diesem Band, S. 136. 48 Dies bedeutet freilich nicht, daß sich der Verteidiger als einseitiger Interessenvertreter des Beschuldigten verstehen dürfte; denn obwohl "Beistand des Beschuldigten", ist er doch zugleich auch "Organ der Rechtspflege", weswegen er bei seinem Entlastungsbemühen keinesfalls die Sachaufklärung unzulässigerweise - wie etwa durch bewußtes Lügen - behindern darf. Näher zu dieser - neuerdings freilich stark umstrittenen - "Doppelstellung des Verteidigers" und den sich daraus ergebenden Rechten und Pflichten vgl. Arbeitskreis Strafprozeßreform, Die Verteidigung. Gesetzentwurf mit Begründung, Heidelberg/Karlsruhe 1979; kritisch dazu Rezension von Hanack, ZStW 93 (1981), S. 559 ff. Vgl. zum Ganzen auch Roxin, %trafverfahrensrecht, S. 99 ff., sowie Welp, Die Rechtsstellung des Strafverteidigers, ZStW 90 (1978), S. 804 ff.; Holtfort (Hrsg.), Strafverteidiger als Interessenvertreter, Neuwied/Darmstadt 1979. 49 Vgl. oben zu IV Anm. 40.

Stellung des Beschuldigten in Deutschland 161 zwingend vorgeschrieben. Eine solche "notwendige Verteidigung" ist nach dem Katalog des 140 Abs. 1 StPO vor allem bei Anklage wegen eines Verbrechens (Nr. 2) sowie bei längerer Untersuchungshaft des Beschuldigten (Nr. 5) erforderlich. Doch wichtiger als dieser Verteidigungskatalog ist die Generalklausel des 140 Abs. 2 StPO: Danach hat der Vorsitzende auf Antrag oder von Amts wegen einen Verteidiger zu bestellen, "wenn wegen der Schwere der Tat oder wegen der Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage die Mitwirkung eines Verteidigers geboten erscheint oder wenn ersichtlich ist, daß sich der Beschuldigte nicht selbst verteidigen kann". Die "Schwere der Tat" ist im wesentlichen nach der Härte der zu erwartenden Strafe oder Maßregel (wie z.b. bei Entziehung der Fahrerlaubnis für einen Berufsfahrer) zu bestimmen. Besondere "Schwierigkeit der Sach- oder Rechtslage" wird vor allem bei Indizienprozessen sowie immer dann anzunehmen sein, wenn nur einem Verteidiger die Erlangung von wesentlichem Entlastungsmaterial möglich wäre. Im Falle einer solchen "notwendigen" Verteidigung muß während der gesamten Hauptverhandlung - und zwar sowohl im erstinstanzlichen Verfahren wie auch in der Berufungsinstanz - ein Verteidiger anwesend sein. Unter Umständen kann die Bestellung eines Verteidigers auch schon im Ermittlungsverfahren erfolgen: nach 141 Abs. 3 StPO auf Antrag des Staatsanwalts, wenn nach seiner Auffassung im bevorstehenden Verfahren die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig sein wird. Ob dies ausreicht, um dem Beschuldigten schon im Vorverfahren, wo ja oft schon die Weichen für das spätere Ergebnis der Hauptverhandlung gestellt werden, den notwendigen Schutz tatsächlich zu gewährleisten, wird derzeit noch diskutiert. 3. "Wahlverteidiger" und "Pflichtverteidiger" Nicht zu verwechseln mit der "notwendigen" Verteidigung ist der sogenannte Pflichtverteidiger. Während es im vorangehenden Abschnitt allein darum ging, ob der Beschuldigte einen Verteidiger haben muß ("notwendige" Verteidigung) oder ihm dies freigestellt bleibt ("freiwillige" Verteidigung), geht es bei der Alternative zwischen Wahlverteidiger und Pflichtverteidiger darum, wer den Verteidiger beruft. Dies kann nämlich nicht nur der Beschuldigte, sondern unter Umständen auch der Gerichtsvorsitzende sein. Wählt sich der Beschuldigte seinen Verteidiger selbst, so spricht man von Wahlverteidiger. Diesen kann der Beschuldigte aus dem Kreis der in der Bundesrepublik Deutschland zugelassenen Rechtsanwälte sowie der deutschen Rechtsprofessoren wählen ( 138 Abs. 1 StPO). Anders als im Zivilverfahren, wo man sich durch einen am betreffenden Gericht zugelassenen Rechtsanwalt vertreten lassen muß, kann man sich also seinen Wahlverteidiger ohne jede

162 Eser regionale Begrenzung dort suchen, wo man sich besondere Sachkunde und Durchschlagskraft erwartet. Auch in zeitlicher Hinsicht ist man bei einem Wahlverteidiger freier; denn einen solchen kann man nach 137 Abs. 1 StPO in jeder Verfahrenslage, also auch schon im Vorverfahren, beiziehen. Deshalb ist dem Wahlverteidiger schon bei staatsanwaltschaftlichen und polizeilichen Vernehmungen des Beschuldigten die Anwesenheit zu gestatten. Der wichtigste Vorteil eines Wahlverteidigers ist natürlich die optimale Gewährleistung des "Vertrauensprinzips"; denn bei einem selbstgewählten Verteidiger braucht der Beschuldigte in der Regel keine Angst zu haben, daß sich der gewählte Verteidiger anderen Personen oder Institutionen verpflichtet fühlt und daher nicht mit vollem Herzen hinter dem Beschuldigten steht. Falls er dennoch in seinem Vertrauen enttäuscht wird, kann der Beschuldigte seinem Wahlverteidiger grundsätzlich jederzeit das Mandat entziehen und einen anderen wählen. Umgekehrt kann freilich auch der Wahlverteidiger nach Abschluß der Instanz auf eine Mandatsverlängerung verzichten oder gar innerhalb eines Verfahrenszuges sein Mandat niederlegen; letzteres darf er allerdings standesrechtlich nicht zur Unzeit tun, also insbesondere nicht willkürlich kurz vor der Hauptverhandlung. Dieses Recht auf freie Wahl - einschließlich der Abwahl und Neuwahl - eines Verteidigers besteht übrigens selbst im Falle einer "notwendigen" Verteidigung; denn mit dieser ist ja lediglich die Erforderlichkeit eines Verteidigers gemeint, ohne damit dessen freie Wahl auszuschließen. Deshalb kommt es zur Bestellung eines sogenannten Pflichtverteidigers erst dann, wenn im Falle einer "notwendigen" Verteidigung (oben V.2) der Beschuldigte keinen Wahlverteidiger berufen hat und er dies offenbar auch nicht beabsichtigt: In diesem Fall hat ihm das Gericht, um eine sachgerechte Verteidigung zu gewährleisten, von Amts wegen einen Verteidiger beizuordnen ( 141 StPO). Da dies sogar gegen den erklärten Willen des Beschuldigten und/oder des als Verteidiger verpflichteten Anwalts geschehen kann, wenn andernfalls das Verfahren nicht durchführbar wäre, wird dieser Verteidiger von manchen abwertend auch als "Zwangsverteidiger" bezeichnet. Dennoch wäre es falsch zu meinen, daß ein Pflichtverteidiger notwendigerweise ein schlechterer Verteidiger sei; denn da für manchen jungen Anwalt die Beiordnung als Pflichtverteidiger eine Bewährungs- und Profilierungschance bietet, kann das Odium obrigkeitlicher Bestellung nicht selten durch verstärktes Engagement wettgemacht werden. Dennoch bleibt die Position des Beschuldigten beim Pflichtverteidiger in verschiedener Hinsicht schwächer als bei einer Wahlverteidigung: - Zunächst ist bereits personell der kreis möglicher Pflichtverteidiger beschränkt auf Rechtsanwälte (also unter Ausschluß von Rechtsprofessoren), und zudem möglichst auf solche, die im betreffenden Gerichtsbezirk zugelas-

Stellung des Beschuldigten in Deutschland 163 sen sind ( 142 Abs. 1 StPO). Wer aus diesem Kreis zu bestellen ist, entscheidet der Gerichtsvorsitzende. Zwar hat der Beschuldigte dazu ein Vorschlagsrecht, um nach Möglichkeit einen "Verteidiger seines Vertrauens" zu bestellen. Daß jedoch das Gericht diesen Vorschlag übernimmt, darauf hat weder der Beschuldigte noch etwa ein an der Pflichtverteidigung interessierter Anwalt einen Rechtsanspruch. Sofern freilich keine besonderen Gründe entgegenstehen, wird der Gerichtsvorsitzende in der Regel über den Vorschlag des Beschuldigten nicht hinweggehen dürfen.» Angesichts eines weitverbreiteten Mißtrauens gegenüber Pflichtverteidigern, das zwar häufig unbegründet, aber aus der subjektiven Sicht des Beschuldigten oft nicht unverständlich erscheint, ist die Auswahl des Pflichtverteidigers eine immer wieder heiß diskutierte Frage.51 Dies auch deshalb, weil der Einfluß des Beschuldigten auch hinsichtlich der Abberufung eines Pflichtverteidigers gleichermaßen recht gering ist; denn auch diese Entscheidung liegt grundsätzlich in der Hand des Gerichtsvorsitzenden. Daher kann der Beschuldigte gegenwärtig einen Pflichtverteidiger nur dadurch "loswerden", daß er seinerseits einen Wahlverteidiger beruft ( 143 StPO). Selbst für diesen Fall hat sich jedoch die vom BGH gebilligte Praxis herausgebildet, vor allem in Mammutprozessen dem Beschuldigten neben einem Wahlverteidiger noch einen Pflichtverteidiger zur Seite zu stellen, falls zu befürchten ist, daß der Wahlverteidiger die zur reibungslosen Durchführung des Hauptverfahrens erforderlichen Maßnahmen nicht treffen kann oder will.52 - Auch in zeitlicher Hinsicht ist bei Pflichtverteidigung der Beschuldigte weniger weitgehend abgesichert als bei einer Wahlverteidigung; denn die Beiordnung eines Pflichtverteidigers kommt nicht für jede Verfahrenslage, sondern grundsätzlich erst nach Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft in Betracht (f 141 Abs. 1 StPO). Zwar kann darüber hinaus auch schon während des Vorverfahrens ein Pflichtverteidiger bestellt werden, dies jedoch nur auf entsprechenden Antrag der Staatsanwaltschaft für den Fall, daß für das gerichtliche Verfahren dann doch die Mitwirkung eines Verteidigers notwendig sein wird. Immerhin hat aber ein Untersuchungsgefangener ab drei Monaten Haftdauer Anspruch auf Beiordnung eines Verteidigers ( 117 StPO). - Hingegen ist für die Revisionshauptverhandlung die Position des Angeklagten seit einigen Jahren verbessert worden. Denn während ihm nach früherer 50 Vgl. BVerfGE 9, S. 36 (1959). 51 Vgl. insbesondere Arbeitskreis Strafprozeßreform (Anm. 48), S. 59 ff.; ferner Peters, Strafprozeß, S. 206. 52 Vgl. dazu Römer, Pflichtverteidiger neben Wahlverteidiger, ZRP ( = Zeitschrift für Rechtspolitik) 1977, S. 92.

164 Eser Rechtsprechung nur unter den engen Voraussetzungen des 140 Abs. 2 StPO (oben V.2) ein Pflichtverteidiger beizuordnen war, wurde diese restriktive Praxis vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte als unvereinbar mit Art. 6 Abs. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention erklärt s3 Demzufolge hat nunmehr auch der sich auf freiem Fuß befindliche Angeklagte einen Anspruch auf unentgeltlichen Beistand, falls er nicht über die erforderlichen Mittel für einen Wahlverteidiger verfügt und die Beiordnung eines Verteidigers im Interesse der Rechtspflege erforderlich ist. 4. Gemeinschaftliche Verteidigung Auch dies ist in neuerer Zeit ein kontroverses Problem. Während es früher möglich war, daß derselbe Verteidiger gleichzeitig mehrere Angeklagte verteidigt hat, bzw. ein Angeklagter sich durch mehrere Verteidiger repräsentieren ließ, hat sich der Gesetzgeber in der Strafprozeßreform von 1974/75 gezwungen gesehen, die Möglichkeit gemeinschaftlicher Verteidigung drastisch einzuschränken: Dies deshalb, weil in verschiedenen Terroristen-Prozessen die Wahl einer großen Zahl von Verteidigern dazu benutzt wurde, das Verfahren aufzublähen und den Ablauf zu verschleppen; auch wurde die gleichzeitige Verteidigung mehrerer Angeklagter offenbar dazu mißbraucht, daß der Verteidiger gleichsam als konspirativer Botengänger zwischen den Angeklagten fungierte. Um solche Machenschaften auszuschalten, darf sich ein Angeklagter in keinem Falle mehr als drei Verteidiger wählen ( 137 Abs. 1 S. 2 StPO). Und noch schärfer ist das ausnahmslose Verbot der Mehrfachverteidigung: Denn nach 146 StPO ist die Verteidigung mehrerer Beschuldigter durch denselben gemeinschaftlichen Verteidiger ausnahmslos für unzulässig erklärt.54 5. Wichtige Rechte und Pflichten des Verteidigers Um einen vollen Eindruck von der Rechtsstellung des Beschuldigten zu haben, genügt natürlich nicht schon die Feststellung, daß er sich überhaupt des Beistands eines Verteidigers bedienen darf; denn dabei kommt es auch entscheidend darauf an, welche Befugnisse der Verteidiger hat, um die Rechte des Beschuldigten wirksam.wahrnehmen zu können. Dazu ist an erster Stelle das durch 148 StPO gewährleistete Recht des Beschuldigten auf schriftlichen und mündlichen Verkehr mit seinem Verteidiger 53 EuGMR (= Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte) NStZ 1983, S. 373. 54 Vgl. dazu Rebmann, Das Verbot der Mehrfachverteidigung nach f 146 StPO, NStZ 1981, S. 41.