Von der Lobau bis Caorle



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Kurt Bauer www.kurt-bauer-geschichte.at k_bauer@aon.at Kurt Bauer 2006 In geänderter Form mit vielen Privatfotos erstmals erschienen in: Spurwechsel. Wien lernt Auto fahren. Hg. v. Technischen Museum Wien. Katalog zur Ausstellung Spurwechsel vom Oktober 2006 bis Februar 2007. Wien 2006. S. 84 89. Von der Lobau bis Caorle Wiener Fahr- und Motorisierungsgeschichte(n) 1930 1960 Am Sonntagvormittag ins Tröpferlbad in der Treustraße. Dann zum Wirten ums Eck, wo Jakob Frank sich ein Seidel Bier und dem kleinen Peter ein Himbeerkracherl gönnte. Anschließend zur Tankstelle gleich neben der Gastwirtschaft. In einer Garage daneben waren hauptsächlich Taxis abgestellt, darunter einige altehrwürdige Steyr. Dazwischen, klein und unscheinbar, aber dafür fast neu, der Fiat 500 C Topolino der Familie Frank. Wenn es nicht regnete, und das heikle Gefährt daher nicht vor vorzeitigem Rosten geschützt werden musste, ging es motorisiert nach Hause. Nach dem obligaten Schnitzel mit Reis und Kartoffelsalat folgte der Höhepunkt eines jeden gelungenen Sonntags: die Familienausfahrt, entweder über die Höhenstraße auf den Kahlenberg oder hinunter in die Lobau. Jakob Frank, Jahrgang 1913, ein lebenslanger Bewohner der Bre (Brigittenau), konnte sich als gelernter Kühlerspengler in der Zwischenkriegszeit trotz aller Knappheit so viel Geld zusammensparen, dass es für ein Fahrrad reichte. Als er 1939 eingezogen wurde, besaß er bereits ein Klein-Krad und den entsprechenden Führerschein. Kriegsheirat 1940 mit der 22-jährigen Emma. Im russischen Winter waren gute Kühlerspengler gefragt, Jakob Frank landete in einer Werkstattkompanie vermutlich seine Lebensversicherung in Stalingrad. Zudem wurde er als Kradmelder eingesetzt, als Kurier auf dem Motorrad. Nach der glücklichen Heimkehr arbeitete Jakob Frank wieder in seiner alten Firma und baute dort eine Reparaturabteilung auf. Das Know-how dafür hatte er in Russland erworben. 1946 wurde Sohn Peter geboren. Drei Jahre später, 1949, ein weiterer markanter Fortschritt: eine 750er Zündapp aus Militärbeständen mit Felber-Beiwagen, hauptsächlich für den beruflichen Einsatz im Außendienst gedacht. Aber aus dem Wehrmachtsgespann wurde auch ein Familiengespann. Im Sommer zog man nun mit Zelt, Kocher, Lebensmitteln, Kind und Kegel beladen auf die Wiesn, genauer: die Donauwiese, noch genauer: das Überschwemmungs- oder Inundationsgebiet am linken Ufer der Donau. Bei der Ostbahnbrücke kannten die Franks eine Möglichkeit, den 1

Damm zu überqueren. Dort, an einem Altarm der Donau, wurde regelmäßig das Zelt aufgeschlagen. Immer am selben Platz, immer neben denselben Nachbarn. Peter Frank erinnert sich auch an Motorradtouren ins tiefe Österreich, so zum Beispiel an einen Bauernhof am Attersee, wo sein Vater den Besitzer mit dem Rückwärtsgang der Zündapp verblüffte. 1953/54 dann der erwähnte Topolino mit Rollverdeck. Jakob Frank hatte einfach mehr Bequemlichkeit und Schutz vor Staub und Witterung gewünscht und sich das schließlich auch leisten können. Nun führten die Urlaubs- und Ausflugsfahrten zunehmend häufiger und weiter aus dem unmittelbaren Bannkreis Wiens hinaus. Unvergesslich der Katschberg im Salzburgischen mit seiner gefürchteten Steigung. Weil der Topolino mit 16 PS zu schwach war, mussten Mutter und Sohn aussteigen und die Passhöhe zu Fuß bewältigen, während der Vater und Fahrer erneut Anlauf nahm und winkend an den beiden vorbeifuhr. Bei aller Liebe: Ein richtiges Auto war das nicht. 1956 folgte dann ein Opel Caravan und die erste Auslandsreise nach Italien, mit Besuch auf dem Gut in der Po-Ebene, wo Jakob Frank während des Krieges stationiert gewesen war. 1 Karl Oppolzer, geboren 1924 in Wien, begann mit vierzehn eine Kellnerlehre in einem Wiener Nobelhotel. Das erste selbstverdiente Geld investierte er in ein Sportrad mit Dreigangschaltung, mit dem er regelmäßig den Kahlenberg über die Höhenstraße bezwang ( zumeist in den Pedalen stehend ). Dann der Reichsarbeitsdienst, schließlich die Wehrmacht. Dort meldete sich Karl Oppolzer zu den Panzern und steuerte alle nur erdenklichen Fahrzeuge mit Ketten oder Rädern durch zahllose wahnwitzige, gefährliche Situationen. Bei Kriegsende in Italien geriet er in britische Kriegsgefangenschaft und war wiederum als Fahrer tätig. Nach seiner Entlassung arbeitete er schließlich für das Rote Kreuz als Fahrer natürlich, später als Kfz-Referent. Nach seiner Heirat 1948 kaufte Karl Oppolzer den Briten eine Royal Enfield 350 ccm ab. Es folgte eine kurze Zeit abenteuerlicher Österreich-Touren mit seiner Frau Karoline auf dem Sozius. Als 1950 Tochter Renate auf die Welt kam, wurde die Maschine verkauft, der Erlös in eine Wohnung investiert. In den folgenden Jahren ging es im Urlaub wenn überhaupt mit Bahn, Bus oder Puchroller quer durch Österreich. 1956 die erste Auslandsreise: mit einem ausgeborgten DKW und dem Campingzelt auf dem Dach über die Schweiz nach Italien. In den Folgejahren häufig mit VW Käfer und Zelt zum Campen nach Caorle, Rimini, schließlich Medulin, Dubrovnik; später weitere Mittelmeerländer, mit Reisegruppen durch Skandinavien, Nordafrika, drei Monate USA auf eigene Faust. Die Lust am Wegfahren und Unterwegssein ist Karl Oppolzer nie abhanden gekommen. 1 Die für diesen Beitrag verwendeten lebensgeschichtlichen Skizzen stammen durchwegs aus den Beständen der Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen. Die meisten Texte wurden im Rahmen eines 2001/02 durchgeführten Schreibaufrufs zum Thema Faszination des Fahrens verfasst. Siehe dazu: Kurt Bauer (Hg.), Faszination des Fahrens. Unterwegs mit Fahrrad, Motorrad und Automobil, Wien, Köln, Weimar 2003 ( Damit es nicht verlorengeht, Bd. 50). Im Falle eines wissenschaftlich begründeten Interesses an den Originaltexten wenden Sie sich bitte an die Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen, Institut für Wirtschaft- und Sozialgeschichte, Universität Wien, Dr.- Karl-Lueger-Ring 1, 1010 Wien, Tel. (01) 42 77-41 306, E-Mail: doku.wirtschaftsgeschichte@univie.ac.at. Herzlichen Dank an Peter Frank, Robert Schediwy, Renate Schediwy-Oppolzer und Karl Oppolzer, die liebenswürdigerweise viele zusätzliche Informationen geliefert und Privatfotografien aus ihrem Besitz zur Verfügung gestellt haben. 2

Ein dritter Motorisierter: Schon im Frühjahr 1951 kaufte sich Johann Schediwy einen Renault 4 CV. Das fabriksneue Auto vor der Haustür muss keine sechs Jahre nach Kriegsende für ihn wohl ein deutlich sichtbares Symbol gewesen sein, dass er es aus kleinsten, ärmsten Verhältnissen kommend geschafft hatte. Die erste Ausfahrt mit Ehefrau Rozsi, dem vierjährigen Robert, Tante Milla und Onkel Ferry endete an einem der granitenen Randsteine der Wiener Höhenstraße. Trotzdem: Es war der Beginn einer wunderbaren Freundschaft. Ein tägliches Nutzfahrzeug war das Automobil für Johann Schediwy allerdings nicht. Seine Firma im siebenten Bezirk lag wenige Gehminuten von der Familienwohnung entfernt; im Alltag war das Fahrzeug daher eher ein Stehzeug. Ab 1951 fuhren die Schediwys zumeist nach Rimini, wo die Familie regelmäßig im Hotel Al Cappuccetto Rosso abstieg. 1959 war erstmals Jugoslawien angesagt; im Laufe der 1960er-Jahre erweiterte sich der Kreis der mit oder ohne eigenes Auto besuchten Länder und Kontinente langsam, aber stetig. In den privaten Erfahrungen Einzelner zum Beispiel den Erinnerungen von Angehörigen der Weltkriegsgeneration an ihre höchst persönliche Motorisierung spiegeln sich ausnahmslos kollektive, gesellschaftliche Erfahrungen. Die Geschichten von Jakob Frank, Karl Oppolzer, Johann Schediwy und ihren Fahrzeugen stehen gleichsam exemplarisch für die Entwicklung des motorisierten Individualverkehrs im 20. Jahrhundert in Österreich. Wie sah diese Entwicklung aus? Während der Ersten Republik war der Besitz eines Motorrades selten, eines Autos für die meisten nahezu undenkbar; selbst die Anschaffung eines Fahrrades war eine bedeutsame Investition. Nach dem Anschluss 1938 setzt eine kleine, auf Motorräder beschränkte Motorisierungswelle ein, die mit Kriegsausbruch sogleich abebbte. Der vom Nationalsozialismus hervorgerufene Modernisierungsschub dauerte nur kurz. Allerdings bewirkten der groß propagierte Autobahnbau, der Volkswagen und die Kraft-durch-Freude -Reisen so etwas wie eine mentale Prädisposition für die Zeit des Wirtschaftswunders. Und die ironisch-zynisch als Reisebüro bezeichnete Deutsche Wehrmacht wurde schließlich zur Fahrschule für Millionen junger Männer, die erstmals Gelegenheit bekamen, ein Kraftfahrzeug zu lenken. 2 Das Kriegsende bedeutete einen enormen Bruch in der motorisierten Mobilität, wie Lebenserinnerungen und Statistiken belegen. 1945 wurden in Wien 1800 Autos und 2900 Motorräder gezählt, ein Rückgang auf weniger als zehn Prozent des Standes von 1939. Es gab in der Stadt so gut wie keinen motorisierten Individualverkehr mehr. Selbst ein Fahrrad war ein sorgsam gehegtes, wertvolles Gut. Ende der 1940er-Jahre konnte man bereits deutlich mehr Kraftfahrzeuge auf den Straßen Wiens sehen, fast durchwegs revitalisierte Vorkriegsmodelle, die den Krieg überlebt hatten. Der Pkw- Bestand in Wien betrug 1950 rund 20.000 Stück; der Motorisierungsgrad lag bei gerade einmal 10,8 Pkws per 1000 Einwohner (zum Vergleich: 1960 waren es bereits 82 Pkws, 1970 198 Pkws und 2005 403 Pkws). 3 1949 kam das erste nach dem Krieg in Österreich 2 Über nationalsozialistische Motorisierungspolitik und den motorisierten Krieg siehe Kurt Möser, Geschichte des Autos, Frankfurt/M., New York 2002, 171 187. Über Kontinuitäten in der Automobilisierung vom Nationalsozialismus zum Wirtschaftswunder siehe Hermann Glaser, Industriekultur und Alltagsleben. Vom Biedermeier zur Postmoderne, Frankfurt/M. 1994, 233 239. 3 Quelle: Eigene Berechnungen auf Basis von Daten über Kfz-Zulassungen in Wien, die dankenswerterweise von der Magistratsabteilung 5 der Gemeinde Wien zur Verfügung gestellt wurden. 3

neu entwickelte Motorradmodell Puch 250 TF auf den Markt, das vorläufig nur auf Bezugsschein erhältlich war. Einen beträchtlichen Motorisierungsschub bewirkte der wenig später einsetzende Siegeszug des Motorrollers, der völlig neue Käuferschichten erschloss. Ab Mitte des Jahrzehnts wuchs die vom geschickten Marketing der Automobilindustrie kräftig geförderte Sehnsucht nach einem wettersicheren, staubdichten Dach über dem Kopf. Drei- und vierrädrige Kleinwagen wie der Felber Autoroller, der Heinkel Kabinenroller, das Goggomobil, der in Österreich hergestellte Puch 500 (das Pucherl ) oder eben der Fiat Topolinio beherrschten zunehmend das Straßenbild. Besserverdienende konnten sich einen Volkswagen einst von Hitler KdF-Wagen getauft und erst in den 1960er-Jahren Käfer genannt oder beispielsweise den Renault 4 CV leisten, passend zum erreichten sozialen Prestige und Wohlstand. 4 120.000 Kfz-Bestand in Wien 1925 bis 1960 100.000 80.000 Auto s 60.000 40.000 Motorräder 20.000 0 1925 1926 1927 1928 1929 1930 1931 1932 1933 1934 1935 1936 1937 1938 1939 1940 1941 1942 1943 1944 1945 1946 1947 1948 1949 1950 1951 1952 1953 1954 1955 1956 1957 1958 1959 1960 Quelle: Daten der Magistratsabteilung 5 der Gemeinde Wien über Kfz-Zulassungen. Die weibliche Motorisierung verlief unter gänzlich anderen Voraussetzungen als die männliche. So bekam Herta Rohringer als Kind weder Tretroller noch Fahrrad, denn: Erstens gab es dafür kein Geld, zweitens war ich kein Bub. Das einzige von ihr selbst 4 Allgemein über Motorisierung nach 1945 siehe Arne Andersen, Der Traum vom guten Leben. Alltagsund Konsumgeschichte vom Wirtschaftswunder bis heute, Frankfurt/M., New York 1999, 155 175. Primär technisch orientiert ist Hans Seper, Martin Pfundner, Hans Peter Lenz, Österreichische Automobilgeschichte, 2. Aufl., Klosterneuburg 1999. Zur Wiener Verkehrsentwicklung siehe Sándor Békési, Verkehr in Wien. Personenverkehr, Mobilität und städtische Umwelt 1850 bis 2000, in: Karl Brunner, Petra Schneider (Hg.), Umwelt Stadt. Geschichte des Natur- und Lebensraumes Wien, Wien, Köln, Weimar 2005, 93 103. 4

gelenkte Fahrzeug blieb der Kinderwagen. Dabei ist in vielen Kindheitserinnerungen von Frauen und Männern dieselbe nahezu magische Faszination zu spüren, wenn es um das erste Fahrrad, um die ersten selbständigen Ausfahrten in selbst gewählte Richtungen geht. Die Abwesenheit der Männer, die vom Reisebüro Wehrmacht mit dem Krad, Kübelwagen oder Panzer zur Eroberung der Welt ausgeschickt worden waren, bescherte vielen jungen Frauen berufliche Positionen, die sie sonst kaum erreicht hätten. Das trug bedeutend zur Stärkung ihres Selbstbewusstseins bei. Und eigentümlicherweise brachte gerade der Krieg das heißt: die ersten, siegreichen Jahre vielen jungen Frauen eine kurze Phase ungewohnter mobiler Freiheit. Die 19-jährige Anna Foitl begab sich im Sommer 1941 mit zwei unwesentlich älteren Bürokolleginnen auf eine Radpartie durch die Obersteiermark und das Salzkammergut ganz ohne Aufsicht, was die Verwandtschaft stark beunruhigt zurückließ. Eine abwechslungsreiche, wilde Tour, die sich tief in die Erinnerung eingegraben hat, wie die 60 Jahre später verfasste, detailreiche Erzählung beweist. Dramatischer Höhepunkt war eine Abfahrt vom Pötschenpass nach Goisern mit Versagen des Rücktritts und schwerem, glücklich überstandenem Sturz. Später war Anna Foitl gemeinsam mit ihrem Ehemann viel per Motorrad und Auto unterwegs, ihr Leben lang aber immer nur als Mit- und Beifahrerin. Das Lenken von Kraftfahrzeugen war durch und durch Angelegenheit der aus dem Krieg heimgekehrten, von der Wehrmacht technisch geschulten Männer. Eleonore Gebauer half 1951 ihrem Verlobten und späteren Ehemann beim Lernen für die Führerscheinprüfung. Sie selbst konnte sich die Fahrschule allerdings nicht leisten. Außerdem, so schreibt sie, beschwor mich mein Mann, ja nicht Auto fahren zu lernen, da er viel zu viel Angst um mich haben würde. Nun, so habe ich es nie erlernt. Mein Mann hätte mich sowieso niemals ans Steuer gelassen. Melanie Höfers Ehemann kam erst 1950 aus der Kriegsgefangenschaft zurück. 1956 konnte sich das Paar das heiß ersehnte erste Auto leisten, einen grünen VW. Sie hätte gerne den Führerschein gemacht aber: Mein Gatte war gegen die Frau am Steuer! Er war Alleinherrscher! Die Sekretärin Erna Wollner lernte 1954 den Elektromonteur Friedl kennen. Zum ersten Rendezvous holte er sie mit einer roten 250er Jawa ab. Die beiden fanden sich, zogen zusammen, heirateten. An den Wochenenden waren ausgedehnte Motorradtouren angesagt. Eines Abends beim Schaufensterbummel durch die Wiener Innenstadt standen sie vor dem neu auf den Markt gekommenen Puch 500. Klein, aber immerhin ein Auto. Wie oft waren sie bei Ausfahrten auf der Maschin nass bis auf die Knochen geworden Damit sollte es nun vorbei sein. Mit der Gehaltsbestätigung in der Tasche pilgerten Erna und Friedl zur AVA-Bank, unterschrieben den Kreditvertrag, erhielten ein dickes Kuvert mit Erlagscheinen für die monatlichen Raten. Schließlich wurde der Puch geliefert: eisblau, frech, modern, sogleich Mucki getauft. Noch heute weiß Erna Wollner die Kennzeichennummer auswendig: W 446.291. In der lang gezogenen Gasse, in der sie lebten, waren damals, 1957, regelmäßig nur zwei weitere Autos geparkt, schwarze, altertümliche Karossen. Das Paar wurde Mitglied im Puch-500-Club und beteiligte sich eifrig an dessen Aktivitäten, die hautsächlich in gemeinsamen Ausfahrten bestanden. Dann der Schock: ein schwerer Unfall, hohe Reparaturkosten, Geldsorgen, zusätzliche Nebenjobs, so gut wie keine Freizeit mehr. Das Leben wurde eintönig, der Alltag grau, die Ehe geriet in die Krise. Nach sieben Jahren schließlich die Trennung. Obwohl Erna Wollner auch später mit großem Engagement in alle partnerschaftlichen 5

motorisierten Aktivitäten involviert war, machte sie nie den Führerschein, um selbst ein Kfz zu lenken. In diesem Kontext ist die Geschichte von Luise Hanny bemerkenswert. Sie war als 18- Jährige 1945 per Fahrrad vor der herannahenden Roten Armee aus ihrer Heimatstadt Mödritz bei Brünn geflüchtet und über Umwegen nach Niederösterreich gelangt. Nach Jahren voll Elend fand sie schließlich eine Stellung in einem Lebensmittelgeschäft in Ottakring. Auf Wunsch ihrer bereits etwas älteren Chefleute absolvierte sie 1949 als eine von zwei Frauen unter Dutzenden Männern die Fahrschule Lattermann am Hernalser Gürtel. Wie vereinbart kaufte das Ehepaar nun ein Auto, einen DKW, Baujahr 1939, mit Holzkarosserie, Leinendach und Revolverschaltung, und ließ sich an den Wochenenden von Luise kreuz und quer durch Österreich chauffieren. Als autolenkende Frau erregte sie vor allem in ländlichen Gebieten gehöriges Aufsehen. Vor einem steirischen Gasthof, erinnert sie sich, liefen die Dorfbuben zusammen, zeigten auf sie und riefen: Schaut s euch das Weibsbild an! Andernorts empfahlen ihr männliche Neider, zu Hause am Herd zu bleiben, zu kochen und Strümpfe zu stopfen. Davon unbeirrt, lernte sie in diesen Jahren weite Teile Österreichs kennen. In den bescheidenen Anfangsjahren der Motorisierungs- und Reisewelle, also ab ca. 1950, dominierten hauptsächlich Inlandsdestinationen. Allgemein kann man bei der Verteilung der Urlaubsziele im zeitlichen Verlauf davon ausgehen, dass sich diese in einem konzentrischen Halbkreis sukzessive nach Süden und Westen ausbreiteten, später auch nach Südosten. Ab Mitte der 1950er-Jahre wagte sich Familie Österreicher verstärkt ins Ausland zuerst hauptsächlich nach Italien, gegen Ende des Jahrzehnts immer häufiger auch nach Jugoslawien. Bei einer Zählung der in 150 lebensgeschichtlichen Skizzen genannten Reiseziele führt Italien vor Jugoslawien und Südtirol, das wie selbstverständlich immer separat genannt wird; erst dann kommen Deutschland und die Schweiz. Im Inland liegt das Salzkammergut bei den Nennungen mit Abstand vor der Großglockner-Hochalpenstraße, Stadt und Land Salzburg und den Kärntner Seen. Die beliebten Orte und Regionen in der Nähe Wiens Lobau, Wienerwald, Hohe Wand, Semmering, Neusiedler See und Wachau galten bald nur noch als Ziele von Wochenend-Kurztrips oder als markante Durchgangsstationen auf dem Weg in den Süden oder Westen. 5 Im ersten statistisch erfassten Jahr 1969 führten beinahe zwei Drittel aller Wiener Auslandsurlaubsreisen nach Italien (34 Prozent) oder nach Jugoslawien (28 Prozent); in den Jahren davor dürfte der Prozentanteil dieser Länder noch höher gewesen sein. 2004 lag nach wie vor Italien (22 Prozent) vor den Ländern des ehemaligen Jugoslawien 5 Die Angaben in diesem Absatz beziehen sich auf eigene Auswertungen auf Basis von rund 150 lebensgeschichtlichen Skizzen, die auf den Schreibaufruf Faszination des Fahrens hin (siehe Anm. 1) eingesandt wurden. Zu österreichischen Ferienlandschaften und Ausflugsstraßen siehe u. a.: Sándor Békési, Verklärt und verachtet. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Landschaft: Der Neusiedler See, Frankfurt/M. 2006 (voraussichtlich). Fritz Keller (Hg.), Lobau die Nackerten von Wien, Wien 1985. Wolfgang Kos, Über den Semmering. Kulturgeschichte einer künstlichen Landschaft. 2. Aufl., Wien 1991. Wolfgang Kos, Imagereservoir Landschaft, in: Reinhard Sieder u. a. (Hg.), Österreich 1945 1995, 2. Aufl., Wien 1996, 599 624. Kurt Luger, Franz Rest, Mobile Privatisierung. Kultur und Tourismus in der Zweiten Republik, in: Reinhard Sieder u. a. (Hg.), Österreich 1945 1995, 2. Aufl., Wien 1996, 655 670. Georg Rigele, Die Großglockner-Hochalpenstraße. Zur Geschichte eines österreichischen Monuments, Wien 1998. 6

(15 Prozent); dahinter hatte sich das Spektrum an urlaubsbereisten Ländern allerdings gewaltig erweitert. 6 In mündlichen und schriftlichen Lebenserinnerungen, in Tagebuchaufzeichnungen und privaten Fotoalben spielen die kleinen und größeren Fluchten aus dem Alltag eine zentrale Rolle. Das motorisierte Vehikel war und ist ein Vehikel zur Erfüllung der Träume vom besseren Leben. Dadurch erhält das Auto eine enorme emotionale Aufladung jenseits jedes Kosten-Nutzen-Kalküls. Es verschafft seinen Benützerinnen und Benützern trotz aller Widrigkeiten und Einschränkungen das Gefühl von Einzigartigkeit und Allmacht. Im komplexen Modernisierungsprozess ist es vor allem die Individualisierung, weniger die Rationalisierung oder Domestizierung, 7 die das Auto zum Objekt fortwährender Begierden macht. Trotzdem dominieren in der retrospektiven Betrachtung nach jahrzehntelanger Automobilisierung Ernüchterung und Kritik. Verkehrslawine, Stau, Geisterfahrer, Unfälle, Tote, Lärm, Schmutz, Abgase, Gestank, hohe Kosten, verstopfte, zugeparkte Straßen, Parkplatznot, Zerstörung von Dorfkernen, Stadtzentren und Landschaften sind häufig genannte Punkte, warum das Autofahren 50 Jahre danach nicht mehr denselben Lustgewinn bietet wie am Beginn der Motorisierungswelle. 8 Wie ein Appell liest sich die Schlusssequenz in den Erinnerungen der 1922 in Wien geborenen Anna Foitl. Mit der Zeit war für ihren Mann und für sie als Beifahrerin der Autoverkehr zu aufreibend geworden, sodass sie ihr Auto schließlich abmeldeten und zum Fahrzeug ihrer Jugend zurückkehrten: Wir fuhren mit unseren geliebten Fahrrädern einkaufen und ein wenig spazieren. Hoch die Fahrräder! Die machen keinen Benzingestank, sind umweltfreundlich und selten todbringend. 6 Beiträge zur österreichischen Statistik, hg. v. Österreichischen Statistischen Zentralamt, 293. Heft, Wien 1972, 80 83. Statistisches Jahrbuch 2006, hg. von Statistik Austria, Wien 2006, Tabelle 28.08, 418. 7 Vgl. Hans van der Loo, Willem van Reijen, Modernisierung. Projekt und Paradox, München 1992. Nina Degele, Christian Dries, Modernisierungstheorie, München 2005. Ausführlicher zum Zusammenhang Individualisierung Motorisierung: Kurt Bauer, Fahren als Befreiung Inszenierung und Paradox, in: Kurt Bauer (Hg.), Faszination des Fahrens (wie Anm. 1), 211 219. 8 Schreibaufruf Faszination des Fahrens (siehe Anm. 1); Auflistung der wichtigsten Kritikpunkte, die in den Evaluationen am Schluss von rund 150 lebensgeschichtlichen Skizzen genannt werden. 7