Betreut von Prof. Boris Müller Dipl.-Des. Monika Hoinkis



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Der Messvorgang im Rahmen des Visualisierungsprozesses Bachelorarbeit Simon Wimmer Matrikelnummer 8409 Betreut von Prof. Boris Müller Dipl.-Des. Monika Hoinkis Fachhochschule Potsdam Interfacedesign Bearbeitungszeitraum 22.11.2012-21.02.2013 1

Vorwort Inhalt Daten und numerische Informationen sind allgegenwärtig und werden im Alltag immer wichtiger. Im Informationszeitalter produzieren wir Unmengen von Zahlen im realen und vor allem im virtuellen Leben. Das Gewicht ihrer Objektivität übertrifft das von subjektiven Meinungen bei weitem. Jemand, der ernst genommen werden will, stützt seine Argumente mit Zahlen, welche durch Berechnungen, Statistiken, Messungen und /oder Zählungen gewonnen wurden. Zahlen umgibt eine objektive, unangreifbare Aura. Diese Zahlengläubigkeit gibt trügerische Sicherheit, denn falsche Zahlen geben einen Sachverhalt natürlich ebenso falsch wieder wie falsche Beschreibungen durch Wörter. Eine Datenvisualisierung erbt das objektive Wesen der Zahlen, auf welchen sie basiert. Als Gestalter glaube ich an das Potential und die Leistungsfähigkeit von Datenvisualisierung im Guten und im Schlechtem und beschäftige mich intensiv mit der angemessenen Darstellung von Daten und Informationen. Jede dieser Visualisierungen ist jedoch nur so gut und richtig wie die ihr zugrundeliegenden Zahlen. Dem spannenden und sehr relevanten Verhältnis zwischen Zahlen, ihrer Erzeugung und ihrer Visualisierung möchte ich mich als Gestalter in dieser Arbeit widmen. 4 5 6 7 8 10 12 13 14 16 17 20 22 31 39 52 52 54 56 56 57 Vorwort Inhalt Hinführung zur praktischen Arbeit Zahlen & Daten Erzeugung von Zahlen Wahrheit in Zahlen Realität in Zahlen Daten Datenvisualisierungen Die praktische Arbeit Das Konzept Die Zahlen Die Kurve Der Schreiber Prozess und Umsetzung Anhang Quellen Text Quellen Abbildunge Dankeschön Eidesstattliche Erklärung Impressum Im Rahmen dieser Bachelorarbeit soll darauf eingegangen werden, ob die Inszenierung eines Messvorgangs im Rahmen einer Datenvisualisierung das Erleben dieser Visualisierung intensivieren und ihr zusätzliche Erkenntnissebenen hinzufügen kann. Der Abschnitt Hinführung zur praktischen Arbeit fasst relevante Hintergrundinformationen über Zahlen und Visualisierungen zusammen. Darauf folgt das Kapitel Die praktische Arbeit. Es erläutert die grundlegenden Gedanken hinter der Arbeit, geht auf ihre einzelnen, konzeptionellen Bestandteile ein und dokumentiert abschließend den Entstehungsprozess. 2 3

Hinführung zur praktischen Arbeit Dieser Abschnitt gibt einen Überblick über die Bedeutung, Erzeugung und Wahrnehmung von Zahlen, Daten und Visualisierungen. Er führt den Leser zur praktischen Arbeit hin. Zahlen und Daten Die Zahl ist das Wesen aller Dinge 1 Pythagoras aus Samos Ein Sachverhalt kann mit Wörtern (auf qualitative Weise) oder Zahlen (auf quantitative Weise) beschrieben werden. Qualität beschreibt die Gesamtheit der charakteristischen Eigenschaften, die Beschaffenheit einer Sache oder einer Person. 2 Quantität drückt die Menge, die Anzahl oder die Ausmaße von etwas aus. 3 Im alltäglichen Sprachgebrauch wird Quantität oft als Gegenteil von Qualität benutzt. Dies ist nicht ganz richtig, da die Beschreibung einer Sache als Zahlenwert immer auch qualitativ ist. Die Zahlenangabe schildert die quantitative Beschaffenheit der Sache. 4 Am Beispiel eines Apfels lässt sich dies folgendermaßen ausdrücken: Eine Qualität des Apfels ist es, dass er sich mit der quantitativen Angabe, zum Beispiel einem Preis von zwei Euro, beschreiben lässt. Für diese Arbeit ist relevant, dass Zahlenangaben die Eigenschaften einer Sache oder einer Person sehr konkret beschreiben. Dies soll kurz anhand des Apfel-Beispiels verdeutlicht werden. Der Preis des Apfels lässt sich wie folgt ausdrücken: qualitative Beschreibung: quantitative Beschreibung: Der Apfel ist teuer der Apfel kostet zwei Euro Während das qualitative Urteil über den Preis des Apfels immer die persönliche Meinung desjenigen widerspiegelt, der die Aussage trifft, ist das quantitative Urteil frei von Subjektivität. Jeder, der den Preis kennt, kann selbst beurteilen, ob er den Apfel teuer findet oder nicht. Diese Prägnanz, die Genauigkeit der Beschreibung, zeichnet Zahlen aus und unterscheidet sie wesentlich von Wörtern. Naturwissenschaften und Mathematik werden als harte Wissenschaften beziehungsweise exakte Wissenschaften bezeichnet weil sie ihre Aussagen ausschließlich in Zahlenform treffen. Zahlen als mathematische Objekte dürfen nicht mit Ziffern verwechselt werden, denn diese werden für die schriftliche Darstellung der Zahl benutzt. Eine bedeutende Eigenschaft von Zahlen ist, dass mit ihnen mathematische Operationen durchgeführt werden können. Aus anfangs bekannten quantitativen Eigenschaften einer Sache können noch nicht bekannte Eigenschaften berechnet werden. Am Beispiel des Apfels stellt sich dies folgendermaßen dar (es werden zwei weitere, quantitative Eigenschaften hinzugefügt Umfang und Gewicht). Aus dem Umfang des Apfels lassen sich Durchmesser, Radius, Volumen und Oberfläche des Apfels berechnen (der Einfachheit halber wird davon ausgegangen, dass der Apfel eine perfekte Kugel ist). In Kombination mit dem Gewicht lässt sich die Dichte des Apfels berechnen. Mit der Gewichtsangabe und dem Preis des Apfels kann der Preis für 100 g Apfel berechnet werden. 1 Haustein, Heinz-Dieter: Quellen der Messkunst: Zu Maß und Zahl, Geld und Gewicht, 2004, S. 31 2 Vgl. Qualität laut Duden, http://www.duden.de/rechtschreibung/qualitaet, Stand: 7. 12. 2013 3 Vgl. Quantitaet laut Duden, http://www.duden.de/rechtschreibung/quantitaet, Stand: 7. 12. 2013 4 Vgl. Quantitaet laut Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/ Quantität, Stand: 7. 12. 2013 4 5

bekannte zahlen Preis des Apfels Umfang des Apfels Gewicht des Apfels berechenbare zahlen Durchmesser des Apfel Radius des Apfels Oberfläche des Apfels Volumen des Apfels Dichte des Apfels Preis pro 100 g Apfel 2,0 23,0 cm 20,0 g 7,3 cm 3,7 cm 168,4 cm² 205,7 cm³ 0,6 gr /cm³ 1,7 / 100 g Es lässt sich Zusammenfassen, dass sich Gegebenheiten durch Zahlen präzise und objektiv beschreiben lassen. Mit ihrer Hilfe lässt sich aus wenigen bekannten Eigenschaften einer Sache auf viele unbekannte Eigenschaften schließen. Verschieden Zustände einer Gegebenheit werden im Rahmen der Quantifizierung in Zahlen konvertiert. Dieser Vorgang muss durch allgemeingültige Zuordnungsvorschriften geregelt werden, so dass erzeugte Zahlen relativ zueinander sind und vergleichbar bleiben. Diese Vorschriften werden als Skala bezeichnet, wobei als Grundlage für die Skala eine definierte Einheit dient. 9 Die Skala als Werkzeug der Objektivierung ist nicht mit der Anzeigevorrichtung Skale zu verwechseln. Man kann sagen, dass eine Skale die physische Manifestation einer Skala ist. Liest man ein Flüssigkeitsthermometer ab, so erzeugt man eine Zahl, welche die Temperatur ausdrückt, indem man die Höhe des Flüssigkeitsstandes im Glasröhrchen mit der am Thermometer angebrachten Skale abgleicht. Dabei ist die Anzeige eines Wertes in dieser Form bedeutend schneller fassbar als die ausschließliche Angabe in Ziffernform. Zum Ablesen des Flüssigkeitsthermometers genügt ein flüchtiger Blick. Die numerische Angabe der gleichen Temperatur in Form von Ziffern ist im Vergleich schwerer zu fassen und zu interpretieren. Ein wesentlicher Vorteil der numerischen Angabe ist dagegen, dass die Ablesegenauigkeit sehr groß ist. Blickt der Leser einer Skale nicht absolut senkrecht auf diese, so unterschiedet sich der abgelesene vom tatsächlichen Wert (Parallaxenfehler). Dies passiert beim Lesen des Wertes in Ziffernform nicht. Erzeugung von Zahlen Die Quantifizierung in ihrer sinnvollen und sinnleeren Form ist ein Grundzug des modernen Lebens, sie begleitet uns überall. [ ] Eine Ursache für das Faszinosum und den Mißbrauch der Quantität ist die Tatsache, daß die Gesellschaft immer komplexer, qualitativ vielfältiger wird und der zahlenmäßige Ausdruck als ein Rettungsanker für ihre Durchschaubarkeit erscheint. 5 Das Erzeugen von Zahlen wird Quantifizierung genannt. Im Rahmen dieses Vorgangs werden Eigenschaften eines Gegenstandes oder die Beschaffenheit eines Sachverhalts in messbare Größen und Zahlenwerte umformuliert. 6 Dies gibt uns auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene Sicherheit, hilft uns Entscheidungen zu treffen, die Vergangenheit zu begreifen und die Zukunft vorherzusagen. Wir quantifizieren auf unterschiedliche Art und Weise zu verschiedensten Anlässen. Im Folgenden werden zwei Methoden, Zahlen zu erzeugen, kurz vorgestellt. Die erste Methode ist das Messen. Durch den Vergleich einer Messgröße mit einer definierten Einheit lässt sich eine Zahl durch Messung erzeugen. 7 Diese Definition gilt vor allem für den technischen Bereich und die exakten Wissenschaften. Eine etwas allgemeinere Definition ist, dass eine Messung eine Zuordnung von Zahlen zu Objekten ist, sofern diese Zuordnung eine strukturerhaltende Abbildung einer Menge von Elementen und ihrer Relationen untereinander in ein numerisches Relativ ist. 8 Diese Definition des Messens schließt zum Beispiel auch die Erzeugung von Zahlen durch Umfragen ein. 5 Haustein, Heinz-Dieter: Weltchronik des Messens: Universalgeschichte von Maß und Zahl, Geld und Gewicht, 2001, S. 6 6 Vgl. Quantifizierung laut Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/ Quantifizierung, Stand: 7. 12. 2013 7 Vgl. Quantität laut Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/ Quantität, Stand: 7. 12. 2013 8 Vgl. Bortz, Jürgen; Döring, Nicola: Forschungsmethoden und Evaluation für Human- und Sozialwissenschaftler, 2006, S. 65 Erwähnenswert im Zusammenhang mit Skalen ist beziehungsweise war die außerordentliche Vielfalt derselben bis ins späte 19 Jahrhundert. Bis zum Eintritt der Meterkonvention am 20.05.1875 gab es große regionale Unterschiede zwischen den Einheiten und den auf ihnen basierenden Skalen. 10 In den beitretenden Ländern ersetzte das sogenannte S I-Einheitensystem (Système International d Unités) die verwirrende Vielfalt an Einheiten. Vorstellungen von Längen-, Masse-, und Krafteinheiten (zum Beispiel Meter, Kilogramm und Newton) wurden regional und international vereinheitlich. Dies erleichterte und förderte wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Austausch. Das S I ist ein metrisches System und bis auf wenige Ausnahmen global anerkannt und gültig. Eine andere Weise, Zahlen zu erzeugen, ist die Anwendung von statistischen Methoden. In der Statistik werden Zahlen erzeugt, indem man systematisch Verbindungen zwischen Erfahrungen beziehungsweise Messwerten und der Theorie herstellt. 11 Die Grundlage für die Erzeugung von Zahlen mit statistischen Methoden sind also durch Messungen gewonnene Zahlen. Aus diesen können mit Hilfe von Wissen über den quantifizierten Sachverhalt neue Zahlen generiert werden. Eine monatliche Rechnung auf Basis von gesammelten Kassenbons sagt beispielsweise aus, wie viel pro Monat für Lebensmittel ausgegeben wird. 9 Skale laut Wikipedia, Vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/ Skala_%28Bewertung%29, Stand: 7. 12. 2013 10 Vertrag vom 20. Mai 1875 betreffend die Errichtung eines internationalen Mass- und Gewichtsbüros,Vgl. http://www.admin.ch/ch/d/sr/c0_941_291.html, Stand: 7. 12. 2013 11 Vgl. Rinne, Horst: Taschenbuch der Statistik, 1997, S. 1 6 7

Mit dem Wissen, dass ein Jahr aus zwölf Monaten besteht, können die anfallenden Kosten für Lebensmittel über das ganze Jahr hinweg berechnet werden. Dies birgt Möglichkeiten und Risiken, was im folgenden Abschnitt erläutert wird. In der folgenden Tabelle 13 finden sich drei verschiedene Verfahren, das durchschnittliche Monatseinkommen einer Arbeitskraft der Firma zu berechnen. Verfahren Beschreibung Herleitung Ø Gehalt Wahrheit in Zahlen There are three kinds of lies: lies, damned lies, and statistics. 12 Benjamin Disraeli Zahlen umgibt eine technische, unangreifbare Aura. Sie wirken objektiv, selbst wenn sie es nicht sind. Dieses vermeintlich objektive Wesen der Zahl färbt auf die Aussage ab, welche durch die Zahl getroffen wird. Eine Tatsache lässt sich mit entsprechender Sachkenntnis durch Manipulation der Zahlen, welche diese abbilden, nahezu beliebig verändern. Die entstandenen Zahlen wirken objektiv und stichhaltig. Zahlen, die durch statistische Methoden erzeugt werden, lassen sich aufgrund ihrer komplexen, undurchsichtigen Herleitung besonders gut manipulieren. Ein sehr einfaches Beispiel hierfür ist die Verwendung von verschiedenen Durchschnittswerten für den gleichen Datensatz. Für welchen Wert sich ein Statistiker entscheidet, hängt stark von der Aussage ab, die er mit dem Wert treffen will. Es wird eine hypothetische Firma betrachtet, welche das monatliche Durchschnittseinkommen der Belegschaft veröffentlichen möchte. Das Personal der Firma setzt sich wie folgt zusammen: Arithmetisches Mittel Median Modus Die Summe aller Werte wird durch die Anzahl der Werte geteilt Die Zahl, welche die kleiner Hälfte von der größeren Hälfte des Datensatzes trennt Die Zahl, welche am meisten im Datensatz auftaucht 2 000 3 000 3 000 4 000 5 000 8 000 + 10 000 35 000 / 7 = 5 000 2 000 3 000 3 000 4 000 5 000 8 000 10 000 = 4 000 2 000 3 000 3 000 4 000 5 000 8 000 10 000 = 3 000 Tätigkeit Putzkraft einfache Arbeitskraft #1 einfache Arbeitskraft #2 Mechaniker Programmierer Projektmananger Geschäftsleitung monatlicher Verdienst 2 000 3 000 3 000 4 000 5 000 8 000 10 000 Will man einen möglichst hohen Betrag erzeugen, beispielsweise wenn die Firma ein Stellenangebot in einer Zeitung unter Angabe des durchschnittlichen, monatlichen Verdienstes aufgibt, so würde man sich für das Arithmetische Mittel als Durchschnittswert entscheiden. In diesem Fall wären dies 5 000. Wird für einen anderen Zweck ein möglichst niedriger Wert benötigt, so bietet sich der Modus an. Mit diesem lässt sich ein durchschnittliches Monatseinkommen mit 3 000 angeben. Anhand dieses Beispiels lässt sich erkennen, dass Durchschnittswerte fragwürdig sind, solange ihre Herleitung nicht offenliegt. 14 12 Huff, Darrell: How to lie with statistics, 1993, Das Zität wurde lange Zeit Benjamin Disraeli zugeschrieben, der eigentlicher Verfasser ist jedoch unbekannt. Die Realität lässt sich auch ohne Vorsatz mit der Berechnung von Durchschnittswerten verzerren, was durch ein etwas komplexeres Beispiel verdeutlicht wird. 15 Im Vereinigten Königreich wird die durchschnittliche Dauer einer Schwangerschaft mit 280 Tagen angegeben. Entbindungstermine werden Aufgrund dieser Dauer festgelegt. In diesem Zusammenhang sind zwei Tatsachen relevant: Nummer eins ist, dass manche Frauen früher als der Durchschnitt entbinden. Nummer zwei, dass spätestens 14 Tage, nachdem der veranschlagte Termin überschritten wurde, eine Entbindung erzwungen wird. 13 Vgl.»Comparison of mean, median and mode«laut Wikipedia, http:// en.wikipedia.org/wiki/mode_%2 8statistics%29#Comparison_of_ mean.2c_median_and_mode, Stand: 7. 2. 2013, Die Zahlenwerte wurden im Sinne der Arbeit angepasst. 14 Vgl. Huff, Darrell: How to lie with statistics, 1993, S. 35 15 Vgl. Blastland, Michael; Dilnot, Andrew: The Tiger That Isn t: Seeing Through a World of Numbers, 2008, S. 75 8 9

Die Krux ist Folgende: Die durchschnittliche Dauer einer Schwangerschaft basiert auf Zahlen aus der medizinischen Praxis und die gleiche Praxis erzwingt eine Entbindung spätestens 14 Tage nach Überschreiten der durchschnittlichen Schwangerschaftsdauer. Die durchschnittliche Dauer selbst ist Teil der Berechnung der durchschnittlichen Dauer. Frühgeburten vermindern die durchschnittliche Schwangerschaftsdauer, Spätgeburten würde sie erhöhen, fließen aber nicht mit ein, weil eine Entbindung erzwungen wird. Der berechnete Wert von 280 Tagen ist also niedriger als der Tatsächliche. Laut einer aktuellen Studie aus Schweden liegt die mittlere Dauer einer Schwangerschaft bei 281 Tagen. Der Apfel kostet 2,0 1,7 / 100 g Der Apfel ist Der Apfel hat einen Umfang von einen Durchmesser einen Radius von ein Volumen von eine Oberfläche von eine Dichte von 120,0 g schwer 23,7 cm 7,3 cm 3,7 cm 205,7 cm³ 168,4 cm² 0,6 g /cm³ Die vorsätzliche Veränderung der Wahrheit, beziehungsweise der Realität, durch die Veränderung der Zahlen, die sie repräsentieren, ist ein mächtiges Werkzeug bei der Durchsetzung von Interessen oder der Verschleierung von Unregelmäßigkeiten. Aber auch ohne Vorsatz und statistische Methoden wird die Realität durch ihre Formulierung in Zahlen verzerrt. Realität in Zahlen Ein Gegenstand erscheint uns nicht gleich groß, wenn wir ihn in der Nähe und wenn wir ihn in der Ferne sehen. Und er erscheint uns gerade, wenn wir ihn außerhalb des Wassers, und gekrümmt, wenn wir ihn im Wasser sehen. Wir sind vielen solcher Sinnestäuschungen ausgesetzt. Das beste Mittel dagegen ist das Messen, Zählen und Wägen. Dadurch wird die Herrschaft der Sinne über uns beseitigt. Wir richten uns nicht mehr nach dem sinnlichen Eindruck der Größe, der Zahl, des Gewichts und er Gegenstände, sondern berechnen, messen und wägen sie. Daher ist der Teil, der sich auf das Messen und Berechnen verlässt, die edelste Kraft unserer Seele. 16 Sokrates nach Platon Die Abbildung der Realität in Zahlen hat viele Stärken, eine ist die bereits erwähnte Vergleichbarkeit. Um diese zu erhalten, vereinfacht man Gegenstände beziehungsweise Sachverhalte auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner. Diese absolute Vergleichbarkeit induziert aber auch eine große Schwäche. Der Vorgang der Verallgemeinerung zwingt die Realität in eine Form, die ihr nicht entspricht. Diese Form, auch Einheit genannt, kann nur einen winzigen Bruchteil der realen Gestalt des Gegenstands beziehungsweise des Sachverhaltes erfassen. 17 Diese Liste beschreibt einen Apfel äußerst dürftig. Selbst die Summe aller bekannten, quantifizierbaren Eigenschaften eines Apfels würde keinen Apfel ergeben. Dies scheint in der Natur der Repräsentation von Realität durch Zahlen zu liegen. Wie zuvor beschrieben, neigen wir Menschen zu einer Art Zahlengläubigkeit. Die Beschreibung einer Sache mit Hilfe von Zahlen gibt diese in unseren Augen weitaus zuverlässiger wieder, als die Beschreibung mit Worten. Sinnliche Qualitäten werden als Behinderung, als Verschleierung des rationalen, klaren Blickes auf die Sache verstanden. Wir vergessen dabei, dass wir nicht alle Eigenschaften einer Sache quantifizieren können, da uns nicht alle Eigenschaften dieser Sache bekannt sind, oder aber ein Merkmal ein zu großes Spektrum an Zuständen aufweist. Wie würde man zum Beispiel den Geschmack des Apfels quantitativ erfassen? Ein Ansatz wäre, dass man mit Angabe des Säuregehaltes und des Zuckergehaltes in Zahlen ausdrücken könnte, ob der Apfel tendenziell eher süß oder sauer ist. Ob der Geschmack aber dann tatsächlich der Zahlenangabe entsprechen wird, ist fraglich, da der Geschmack des Apfels von den Vorlieben oder besser gesagt vom Geschmack desjenigen beurteilt wird, der den Apfel isst. Die Vielfalt und Komplexität der sinnlichen Wahrnehmung übertrifft die Ausdrucksmöglichkeiten von Zahlen bei weitem. Zur Erklärung wird noch einmal auf das Apfel-Beispiel zurückgegriffen. Der Apfel soll einer hypothetischen Person, die nicht weiß, was ein Apfel ist, beschrieben werden. Dabei darf nur auf die quantifizierbaren Merkmale des Apfels zurückgegriffen werden. Wie sähe also dieser Apfel aus (wir benutzen die berechneten Zahlen aus der Einleitung zum Kapitel Zahlen & Daten)? 16 Haustein, Heinz-Dieter: Quellen der Messkunst. Zu Maß und Zahl, Geld und Gewicht, 2004, S. 38 17 Vgl. Blastland, Michael; Dilnot, Andrew: The Tiger That Isn t: Seeing Through a World of Numbers, 2008, S. 15 10 11

Daten Our ability to generate and acquire data has by far outpaced our ability to make sense of that data. 18 Daten sind Werte, die im Rahmen von Messungen, statistischen Methoden oder ähnlichen Verfahren erhoben werden. In der elektronischen Datenverarbeitung werden Daten als elektronisch gespeicherte Zeichen, Angaben und Informationen verstanden. 19 Wir erzeugen Daten bei der Arbeit am Rechner. Sie können alphanumerisch (Buchstaben, Ziffern, Sonderzeichen, ) und numerisch (Zahlen) vorliegen, wobei Erstere im wesentlichen qualitative Merkmale einer Sache wiedergeben, im Falle des Apfels wäre dies zum Beispiel die Apfelsorte wie Boskop oder Granny Smith. Numerische Daten beschreiben quantitative Eigenschaften. Am Beispiel des Apfels wären das sein Preis oder sein Gewicht. Die Zusammenfassung von Daten, die sich aufeinander beziehen, wird Datensatz genannt. Laut einer Studie aus dem Jahr 2011 verdoppelt sich die Menge an weltweit erzeugten, digitalen Daten alle zwei Jahre. 2011 wurden 1,8 Zettabytes an Daten erstellt und kopiert. Das bedeutet, dass jeder einzelne Einwohner der Vereinigten Staaten 26 976 Jahre lang drei Tweets in der Minute absetzen müsste, um eine äquivalente Datenmenge zu erzeugen. 20 Diese immer größer werdenden Datenmengen werden als Big Data bezeichnet. Ein Datenstrom aus Informationen von und über Smartphones, Kameras, Rechner, automatisierten Logistik- und Überwachungssystemen, industriellen Anlagen und tausenden weiteren Quellen fließt mit Informationen, die wir bewusst selbst über uns erzeugen und online stellen wie zum Beispiel Tweets, Likes, Posts, Anzeigen, Jogging-Laufzeiten, Suchanfragen oder Partnerinseraten zusammen. 21 In dieser unüberschaubaren Menge an Daten liegt für verschiedenste Zwecke relevantes Wissen verborgen. Mit modernen, statistischen Auswertungen, auch Data-Mining genannt, versucht man, dieses Wissen zu extrahieren. Angewandte Mathematik, also der Umgang mit Zahlen, ist der einzige Weg, um mit Informationen in der Größenordnung von Big Data umgehen zu können. Herkömmliche Theorien und Modelle über menschliches Verhalten, Linguistik, Soziologie und Psychologie haben keine Gültigkeit mehr. So hat Google den Markt für nutzerspezifische Werbung mit angewandter Mathematik, und nicht mit Wissen über Werbung, erobert. 22 Eine Flut von Daten beschreibt unsere Welt gleichzeitig auch als unüberschaubare Masse von Zahlen. Um dieser Masse Wissen und Erkenntnisse zu entlocken sind wir auf Hilfsmittel wie Datenvisualisierungen angewiesen. 18 Schardt, Johannes: Data flow 2 : visualizing information in graphic design, 2010, S. 29, Zitat stammt von Manuel Lima (visualcomplexity.com). Es ist einem Interview entnommen, welches von Johannes Schardt geführt wurde. 19 Vgl. Daten laut Duden, http://www. duden.de/rechtschreibung/daten, Stand: 7. 2. 2013 20 Vgl. McGaughey, Katryn: Datenwachstum verdoppelt sich alle zwei Jahre, http://germany.emc.com/about/news/ press/2011/20110628-01.htm, Stand: 7. 2. 2013 21 Vgl. Fischermann, Thomas; Hamann, Götz: Big Data: Wer hebt das Datengold?, Stand: 7. 2. 2013 22 Vgl. Anderson, Chris: The End of Theory: The Data Deluge Makes the Scientific Method Obsolete, http:// www.wired.com/science/discoveries/magazine/16-07/pb_theory, Stand: 7. 2. 2013 Datenvisualisierungen Datenvisualisierungen übersetzen Zahlen in Grafiken. Als Vermittler von Informationen werden sie immer bedeutender und lassen uns die Datenflut des Informationszeitalters zumindest teilweise bewältigen. Sie bereiten Daten visuell auf und machen sie für den Einzelnen nutzbar, sei es im professionellen beziehungsweise beruflichen Kontext oder zur schlichten Unterhaltung. Komplexe Sachverhalte und Zusammenhänge lassen sich sprachlich oder logisch formuliert manchmal nur schwer verstehen, vor allem für den Laien. Die Übersetzung in ein visuelles, einfacher zu erfassendes Medium erleichtert jedoch den Zugang. Dabei werden diffuse, in Zahlen verschlüsselte Informationen klar und verständlich vor dem Betrachter ausgebreitet. Die Erscheinungsformen von Datenvisualisierung sind zahlreich. Manche funktionieren besonders gut, weil sie seit langem als grafische Repräsentationen von Zahlen in unserer Kultur verankert sind. Dazu zählen zum Beispiel Tortendiagramme, Liniendiagramme und Säulendiagramme. Andere Formen sind gewöhnungsbedürftiger, weil sie erst in jüngerer Zeit entwickelt und noch nicht im kulturellen Gedächtnis der Allgemeinheit angekommen sind (zum Beispiel Flow- und Graphendiagramme). Die Möglichkeiten der Darstellung von Daten sind theoretisch unendlich. Für welche Gestalt man sich entscheidet, ist von der Aussage der zugrundeliegenden Zahlen, von deren gestalterischer Interpretation und nicht zuletzt von den Anforderungen an die Visualisierung abhängig. All diesen verschiedenen Visualisierungsformen ist gemein, dass sie die Eigenschaften der zugrundliegenden Zahlen übernehmen. Zum Einen wird das objektive Wesen der Zahl zum objektiven Wesen der Visualisierung. Zum Anderen wird nur ein winziger Bruchteil der messbaren Realität des Sachverhaltes in der Visualisierung wiedergegeben. Visualisierungen sind immer Darstellungen von Zahlen, welche einen Umstand beschreiben, und nicht die Darstellung des Umstandes selbst. Der Betrachter blickt durch die Grafiken auf Zahlen und nicht auf den Sachverhalt, was für große Distanz zwischen ihm und der visualisierten Realität sorgt. Die Zahlen stehen wie ein Filter zwischen Gegebenheit und Visualisierung. Die sinnliche Komplexität der Realität kann nicht angemessen ausgedrückt werden. Zum Schluss ist noch hinzuzufügen, dass, wenn im Laufe der weiteren Arbeit von Visualisierungen gesprochen wird, immer Datenvisualisierungen gemeint sind. 12 13

Die praktische Arbeit In diesem Abschnitten werden die einzelnen, konzeptionellen Bestandteile meiner Arbeit genauer beschrieben und tiefer auf deren Hintergrund und Bedeutung eingegangen. Darauf folgt die Dokumentation des Entstehungsprozesses und der Stand der finalen Umsetzung zum Drucktermin. Das Konzept In der Hinführung wurden Eigenschaften von Zahlen und Visualisierungen, die für meine praktische Arbeit relevant sind, herausgestellt. Zahlen werden erzeugt, um Vergleichbarkeit und Sicherheit zu erlangen. Die Wahrheit lässt sich mit ihrer Hilfe unmerklich und schwer nachweisbar manipulieren. Sie Vereinfachen und geben nur einen Bruchteil unserer Realität wieder. In der Informationsgesellschaft speichern Zahlen in Form von Daten unfassbare Mengen an Informationen, Zusammenhängen und Wissen. Zahlen abstrahieren also unsere Welt und formen ein Abbild, dass uns paradoxerweise weitaus konkreter und verlässlicher erscheint als die Realität. Sie beseitigen die willkürliche Herrschaft der subjektiven Wahrnehmung und genießen dabei tiefstes Vertrauen. Zahlen in Form von Visualisierungen erben diese Eigenschaften. Dabei verhindert die Zahl als ausschnitthafte, objektive Abbildung der Realität den sinnlichen, subjektiven Zugang zum realen Sachverhalt. Der praktische Teil der Arbeit konfrontiert den Betrachter mit dieser Beschaffenheit von Zahlen. Dies geschieht durch einen Apparat, der Zahlen visualisiert. Dabei wird der Zuschauer aktiv in den Vorgang eingebunden er wird vom Beobachter zum Teilnehmer. Das Gerät formt ihn vom Betrachter einer Zahl zu dieser Zahl selbst, er wird vom Informierten zur Information. 14 15

Die Optionen, eine Zahl zu visualisieren, sind zahlreich. Man entscheidet sich für eine der Möglichkeiten und formuliert die Zahl in die entsprechende grafische Form um (Abb. 01). Die Arbeit betrachtet diesen Vorgang von einer anderen Seite. Zahlen, welche verschiedenste Gegebenheiten abbilden, werden durch nur eine Visualisierungsform wiedergegeben. Das verweist auf die Vereinfachung, Homogenisierung und Verfremdung von verschiedensten Sachverhalten durch deren Formulierung und Wiedergabe in Zahlenform (Abb. 02). 3.32 6,21 5,56 11 62 92 1 189 3 014 5 423 0,01 0,51 1,2 12 023 24 114 30 683 Abb. 02 Der Betrachter ist wesentlicher Teil der Arbeit. Ihm wird die Möglichkeit gegeben, vor Ort Zahlen über sich zu erzeugen. Diese Zahlen werden in Echtzeit visualisiert und stehen in enger Beziehung mit Abbildungen von Zahlen, die andere Betrachter, Personen und Sachverhalte beschreiben. Die räumliche Nähe zwischen den einheitlichen Visualisierungen soll im Betrachter das Gefühl erzeugen, mit allen visualisierten Ereignissen und Personen auf eine Art metaphysische Weise verbunden zu sein, also an ihnen teilzuhaben (Abb. 03). 0,0001 0,002 0,0023 103 212 301 411 470 862 121 345 768 12 23 55 251 541 765 1,0 2,0 5,0 7,5 9,1 9,25 Abb. 01 Abb. 03 1 2 3 16 17

Die Zahlen Zahlen sind die Grundlage jeder Datenvisualisierung und somit auch die Grundlage dieser Arbeit. Zahlen, welche Vorgänge in der Welt beschreiben und Zahlen, welche den Betrachter der Arbeit beschreiben, werden dabei in unmittelbare Beziehung gesetzt. Die Zahlen beziehungsweise die Daten, welche Vorgänge in der Welt beschreiben, werden direkt aus dem Netz gestreamt. Dabei ist größtmögliche Diversität bei der Auswahl der Quellen notwendig (Pegelstände von Gewässern, Aktienkurse, Bevölkerungsentwicklungen, ). Um diese Entscheidung näher zu erläutern, wird noch einmal auf Big Data zurückgegriffen. Die schiere Masse an Informationen ermöglicht neue Möglichkeiten der Wissensgewinnung und könnte zum Beispiel die gängige, wissenschaftliche Praxis grundlegend verändern. Modelle sind in der wissenschaftlichen Praxis von großer Bedeutung. Sie bilden unsere Welt stark vereinfacht nach einer Theorie ab und werden in Experimenten bestätigt, weiterentwickelt oder verworfen. Man versucht hypothetische, verbindende Mechanismen zwischen zwei Sachverhalten durch Versuche zu bestätigen. Daten ohne spezifischen Zweck sind in diesen Modellen nutzlos. Korrelationen wird keinerlei Bedeutung beigemessen. Die Verfügbarkeit und Auswertung von unvorstellbar großen Datenmengen stellt diese Praxis (Hypothese Modell Test) jedoch in Frage. Man kann Big Data analysieren, ohne Hypothesen darüber machen zu müssen, was sie aussagt und ohne auf Modelle angewiesen zu sein. Supercomputer und hochentwickelte, statistische Algorithmen finden Muster und mit ihnen Zusammenhänge in Bereichen, die der gegenwärtigen wissenschaftlichen Praxis nicht zugänglich sind. Kausalität wird durch Korrelation ersetzt. Langfristig könnte dies das Ende des mechanistischen Weltbildes bedeuten, in dem die Vorstellung vorherrscht, dass jede Wirkung sich auf eine ganz klare Ursache zurückführen lassen muss. 23 In Big Data liegen also theoretisch Zusammenhänge verborgen, die in manchen Fällen metaphysischen Charakter haben und sich in Form von Mustern äußern. Als Gestalter gehe ich auf die Suche nach diesen Mustern, beziehungsweise lasse den Betrachter auf die Suche gehen. Big Data stellt einen Teil der Zahlen, der andere Teil wird vom Betrachter vor Ort durch Messung seiner aktuelle Pulsfrequenz erzeugt. Beide Teile werden in dieser Arbeit zu einem Ganzen. Der Betrachter soll sich zwischen Zahlen, die ihn beschreiben, und Zahlen, welche die Welt beschreiben, wieder finden. Das Messen der Pulsfrequenz verdient besondere Aufmerksamkeit, denn im Rahmen dieser Arbeit verbindet es den Betrachter mit den Sachverhalten. Seit jeher spielt die Messung des Pulses eine zentrale Rolle in der Medizin. Viele Herz- und Kreislaufkrankheiten werden über die Analyse des Herzschlages diagnostiziert. 23 Vgl. Anderson Chris: The End of Theory: The Data Deluge Makes the Scientific Method Obsolete, http:// www.wired.com/science/discoveries/magazine/16-07/pb_theory, Stand: 7. 2. 2013 Abgesehen davon und auch gerade deswegen hat der menschliche Herzschlag große symbolische Bedeutung. Wir teilen das Herz als lebenswichtiges Kraftwerk des Körpers und dessen Herzschlag als Zeichen des Lebens mit allen höher entwickelten Lebensformen auf diesem Planeten. Unseren Herzschlag nehmen wir nach großer Aufregung oder Anstrengung aber auch in Momenten großer Ruhe und Konzentration bewusst wahr. Der Herzschlag anderer Menschen ist in Momenten größter körperlicher Nähe fühlbar. Er äußert sich am und im menschlichen Körper in vielen, zarten, kaum wahrnehmbaren Formen. Als leises Rauschen oder Pochen in den Ohren, als sprichwörtliches Klopfen in der Brust, als Heben und Senken der Haut seitlich am Hals oder der Innenseite des Handgelenkes und fühlbar als an- und abschwellender Druck beim vorsichtigen Betasten dieser Stellen. In all diesen Formen findet sich das charakteristische Muster des Herzschlages wieder. Das rhythmische Zusammenziehen und Entspannen des Herzens äußerst sich als ein Impuls, eine kurze Pause, ein weiterer Impuls und eine längere Pause. Diese Sequenz beginnt mit dem Leben eines Kindes im Mutterleib, folgt einer sich unzählige Male wiederholenden Schleife und endet mit dem Tod. Wenn man die Aktivität des menschlichen Herzens misst, so vermisst man also ein Symbol des Lebens. Man erzeugt Zahlen, die das Leben abbilden. Das symbolische Gewicht dieser Daten geht weit über die Bedeutung von Zahlen hinaus, die unser digitales Leben beschreiben (Likes, Follower, ReTweets, ). Eine Arbeit, die sich mit dem Verhältnis zwischen statistischen Zahlen und dem Betrachter als Teil dieser Zahlen auseinandersetzt, ist die Installation Pi des kanadischen Künstlers Ken Lum. Man findet sie in der Wiener Karlsplatzpassage zwischen den Treppen zur U-Bahn und dem Ausgang beim Secessionsgebäude (Abb. 04). Die Installation inszeniert die Kreiszahl Pi und statistische Daten, die 16 Sachverhalte abbilden und in Echtzeit aktualisiert werden (Rüstungsausgaben seit Jahresanfang in Euro weltweit, Tage bis zur Wiederbewohnbarkeit von Tschernobyl, Verzehrte Schnitzel seit Jahresbeginn in Wien, Landminenopfer seit Jahresanfang, Entliehene Bücher seit Jahresanfang, Verliebte in Wien im Moment, Unterernährte Kinder weltweit, ). Jeder Sachverhalt ist in Form einer statischen Beschreibung und eines dynamischen Displays, auf dem der aktuelle Zahlenwert zu sehen ist, zugänglich (Abb. 05 - nächste Seite). Dabei ist sowohl der beschreibende Text als auch das Zifferndisplay in einen Spiegel eingelassen, in dem sich der Besucher beim Betrachten der Zahlen selbst sieht (Abb. 06 - nächste Seite). Der Besucher spiegelt sich in den Zahlen wieder und nimmt sich als Teil der verschiedensten Prozesse, die sie abbilden, war. Abb. 04 - Lum, Ken: Pi (Detail), Die Kombination aus Text, dynamischem Zahlenmaterial und Spiegel wird vom Künstler als Factoid bezeichnet, 2006 18 19

Die Kurven Die Abbildung des zeitlichen Verlaufs von Werten in Linien und Kurven spielt eine zentrale Rolle in dieser Arbeit. Im Folgenden soll ein grober Überblick über die Bedeutung und interdisziplinäre Verwendung von Linien und Kurven als Visualisierungs- und Ausdrucksform gegeben werden. Abschließend wird die Rolle der Kurve in meiner Arbeit erläutert. Wassily Kandinsky behandelt das Wesen der Linie beziehungsweise der Kurve in seinem Buch Punkt und Linie zu Fläche ausführlich. Nach ihm ist die Linie ein Punkt, der durch das Einwirken von verschiedenen, von außen kommenden Kräften, zur Linie wird. Er unterscheidet die Anwendung von einer Kraft und die Anwendung von zwei Kräfte, wobei er letztere Möglichkeit wiederum in abwechselnde oder gleichzeitige Wirkung der Kräfte einteilt. Die gebogene Linie oder auch Kurve entsteht aus dem gleichzeitigen Wirken von zwei Kräften. 24 Punkt Ruhe. Linie innerlich bewegte Spannung, aus der Bewegung entstanden. Die beiden Elemente Kreuzungen, Zusammenstellungen, die eine eigene «Sprache» bilden, die durch Worte nicht erreichbar ist. Das Ausschließen der «Zutaten», die den inneren Klang dieser Sprache dämpfen und verdunkeln, verleiht dem malerischen Ausdruck die höchste Knappheit und die höchste Präzision. Und die reine Form stellt sich dem lebendigen Inhalt zur Verfügung. 25 Abb. 05 - Lum, Ken: Pi (Detail), Ein Teil der Installation Pi in der Wiener Karlsplatzpassage, 2006 Abb. 06 - Lum, Ken: Pi (Detail), Passanten spiegeln sich in den Zahlen, 2006 Neben Kandinsky haben sich auch andere Künstler ausführlich mit den Möglichkeiten von Linien und Kurven auseinandergesetzt, wenn auch auf weniger theoretische Art und Weise. Im Zusammenhang mit Visualisierung sind der Computerkunstpionier Frieder Nake zu nennen, welcher sich in seinen Arbeiten ab 1963 ausführlich mit dem Ausdruck der automatisch gezeichneten Linie beschäftigte (Abb. 07 & Abb. 08). Dazu nutzte er vor allem anfangs einen Zuse Z64 Plotter. Die Künstlerin Hanne Darboven erfasste ihr Leben, Musik und Gedichte in raumfüllenden Diagrammen, welche aus berechneten Linien, Zahlen und Worten bestehen (Abb. 09 & Abb. 10). Abb. 07 - Nake, Frieder: 13/9/65 Nr. 2 Klee, 1965 Abb. 08 - Nake, Frieder: 13/9/65 Nr. 3 Zufälliger Polygonenzug, 1965 24 Vgl. Kandinsky, Wassily: Punkt und Linie zu Fläche, 1973, S. 57 25 Ebd., S. 128 Abb. 09 - Darboven, Hanne: Wunschkonzert (Detail), 1984 Abb. 10 - Darboven, Hanne: Wunschkonzert (Detail), 1984 20 21

Das populäre Cover des Albums Unknown Pleasures der englischen Band Joy Divison wird von einem Liniendiagramm geprägt (Abb. 11 & Abb. 12). Dieses zeigt eine Visualisierung von Radioimpulsen des Pulsars CP 1919 (wird mittlerweile als PSR B1919+21 bezeichnet) 26. Nach einer Idee des Schlagzeugers der Band, Stephen Morris, entnahm es der Grafiker Peter Saville einem Exemplar der Cambridge Encyclopedia of Astronomy (Abb. 13). Dabei invertierte er lediglich die Farben. 27 Der erste Versuch, die zeitliche Entwicklung von Werten mit Hilfe von Kurven wiederzugeben, wird auf das Jahr 950 datiert. 29 Das Diagramm zeigt die Positionen der Sonne, des Mondes und anderer Planeten im Laufe des Jahres (Abb. 14). Linien & Kurven sind wichtiger Bestandteile bei der Auswertung und Kommunikation von wissenschaftlicher Arbeit. Als Erster erkannte dies der Universalgelehrte Johann Heinrich Lambert (* 26. August 1728 in Mülhausen (Elsass) / 25. September 1777 in Berlin) und kombinierte Elemente einer Tabelle sowie Punkte und Linien zum wahrscheinlich ersten Liniendiagramm (Abb. 15). Bemerkenswert ist Abbildung 16, denn obwohl es sich um eine Tabelle handelt, und die Werte numerisch eingetragen sind, lässt sich die Kurve bereits erahnen. 30 Speziell in der Klimaforschung sind Beobachtungsmethoden und ihre Veranschaulichung aufgrund der fehlenden Fassbarkeit von Wetterereignissen eng verschränkt. Der sogenannte Hockey-Stick-Graph (Abb. 17), welcher den Temperaturverlauf auf der Oberfläche der Nordhalbkugel über die letzten tausend Jahre beschreibt, wurde dabei nicht nur zur klimatologischen Forschung verwendet, sondern prägte, nach seiner Publizierung 1998, auch die Kontroverse um den Klimawandel. 31 Hierbei wird deutlich, wie sehr die Abbildung in Kurven den Zugang zu einer Diskussion vereinfacht. Abb. 11 - Die 1979 auf Factory Records erschienene LP Unknown Pleasures der Band Joy Division. Abb. 13 - Das Liniendiagramm in der Cambridge Encyclopedia of Astronomy. Die unnatürliche Regelmässigkeit der Radioimpulse (präzise alle 1,337 Sekunden) wurde Anfangs als Zeichen außerirdischen Lebens gedeutet. 28 Abb. 12 - Saville, Peter: Unknown Pleasures Cover (Detail), 1979 Abb. 14-950 Das erste, bekannte Liniendiagramm. 26 Vgl. PSR B1919+21 laut Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/psr_ B1919%2B21, Stand: 7. 2. 2013 27 Vgl. Wozencroft, Jon: Icon I: Joy Division s Unknown Pleasures, Stand 7. 2. 2013 28 Vgl. PSR B1919+21 laut Wikipedia, http://de.wikipedia.org/wiki/psr_ B1919%2B21, Stand: 7. 2. 2013 29 Vgl. Friendly, Michael Denis, Daniel J.: Milestones in the History of Thematic Cartography, Statistical Graphics, and Data Visualization, http://www.datavis.ca/milestones/, Stand: 7. 2. 2013 30 Vgl. ebd. 31 Vgl. Schneider, Dr. Birgit: Die Kurve als Evidenzerzeuger des klimatischen Wandels am Beispiel des Hockey-Stick-Graphen in: Harrasser, Karin (Hg.), Zeitschrift für Kulturwissenschaften: Sehnsucht nach Evidenz, 1/2009, S. 47 Abb. 15 - Lambert, Johann Heinrich, Die Kurven zeigen Oberflächentemperaturen in Abhängigkeit von der geografischen Breite. Abb. 16 - Lambert, Johann Heinrich Die Tabelle zeigt periodische Temperaturveränderungen im Boden. Abb. 17 - Mann, Michael E.: Hockey-Stick-Graph, 1999, Die Farbe Rot bezeichnet Temperaturdaten, die mit einem Thermometer gemessen wurden. Blau gefärbt sind Daten, die Michael E. Mann mit Hilfe von Baumringen, Korallen, Eiskernen und historischen Angaben berechnet hat. 22 23

Ein besonderer und sehr wichtiger Fall in der Technik ist die Verwendung der Linie als graphischer Zahlenausdruck. Das automatische Linienziehen (wie das auch bei meteorologischen Beobachtungen verwendet wird) ist eine präzise, graphische Darstellung der zuoder abnehmenden Kräfte. Diese Darstellung ermöglicht das Reduzieren der Zahlenverwendung auf das Minimum die Linie ersetzt teilweise die Zahl. Die entstehenden Abbildungen sind übersichtlich und auch dem Laien zugänglich. 32 In den angewandten Wissenschaften, vor allem in den Ingenieurwissenschaften, werden technische Prozesse mit Hilfe von Kurvendiagrammen überwacht und optimiert. 33 Kurven spielen auch eine zentrale Rolle bei der Sichtbarmachung von nicht wahrnehmbaren Vorgängen im menschlichen Körper und der darauf basierenden Diagnose von Krankheiten. Die EKG-Kurve ist das typische Beispiel (Abb. 18). 34 Abb. 18-12-Kanal-EKG mit unauffälligem Verlauf Abb. 19 - Guggenheim, David: An Inconvenient Truth, 2006, Al Gore am Boden Abb. 20 - Guggenheim, David: An Inconvenient Truth, 2006, Al Gore auf der Hebebühne In den Massenmedien werden Kurven und Liniendiagramme als Mittler von Zahlen, Aussagen aber auch von Emotionen immer relevanter. Gründe dafür sind das objektive Wesen von Zahlen und das große Gewicht von Argumenten, die von Zahlen gestützt werden. Al Gore inszeniert im Film An Inconvenient Truth (deutsch Eine unbequeme Wahrheit) ein nüchternes Liniendiagramm auf höchst dramatische Weise. Das Diagramm zeigt die Entwicklung von Temperatur und CO2-Konzentration in der antarktischen Luft im Laufe der letzten 650 000 Jahre und wird hinter Al Gore auf eine gigantische Leinwand projiziert. Offensichtlich geht mit einer steigenden CO2-Kurve immer auch eine steigende Temperaturkurve einher. Am rechten Ende steigen beide Kurven so stark an, dass sie den oberen Rahmen der Projektionsfläche sprengen. Gore geht das gigantische Liniendiagramm von links nach rechts ab und erhebt sich am rechten Rand mit Hilfe einer Hebebühne zum höchsten Punkt der Kurve (Abb. 19 & Abb. 20). Er inszeniert den anormalen Verlauf unglaublich plastisch. 35 Etwas plumpere Versuche, die mathematische Anmutung von Liniendiagrammen mit Emotionen zu verknüpfen, führen mitunter zu fragwürdigen Ergebnissen (Abb. 21). Im London des Jahres 1786 veröffentlicht der Schotte William Playfair (* 22. September 1759 in Dundee, Schottland / 11. Februar 1823 in London) seinen Commercial and Political Atlas. Darin finden sich 43 Balken- und Liniendiagramme, die ökonomische Daten abbilden (Abb. 22). 36 Playfair gilt als Pionier der Datenvisualisierung, in seinen Diagrammen finden sich viele wesentliche Merkmale von modernen Infografiken wieder. Abb. 21 - Das Liniendiagramm wird von Edward R. Tufte in seinem Buch Envisioning Information auf Seite 34 als Beispiel für Chartjunk genannt. 32 Kandinsky, Wassily: Punkt und Linie zu Fläche, 1973, S. 112 33 Weiter Informationen hierzu finden sich im nächsten Kapitel Der Kurvenschreiber. 34 Die Entwicklung der medizinischen Visualisierung in Form von Kurven und die Entwicklung der Geräte, welche diese Erzeugen, sind eng verschränkt. Aufgrund dessen wird auf die Rolle der Kurve in der Medizin im nächsten Abschnitt der Kurvenschreiber noch einmal näher eingegangen. 35 Vgl. Schneider, Dr. Birgit: Die Kurve als Evidenzerzeuger des klimatischen Wandels am Beispiel des Hockey-Stick-Graphen in: Harrasser, Karin (Hg.), Zeitschrift für Kulturwissenschaften: Sehnsucht nach Evidenz, 1/2009, S. 51 36 Vgl. Friendly, Michael Denis, Daniel J.: Milestones in the History of Thematic Cartography, Statistical Graphics, and Data Visualization, http://www.datavis.ca/milestones/, Stand: 7. 2. 2013 Abb. 22 - Playfair, William: Das Liniendiagramm zeigt die englische Handelsbilanz mit Dänemark/Norwegen von 1700 1780., 1786 24 25

Auch heute spielt die Darstellung von Werten als Kurven im ökonomischen Umfeld eine wichtige Rolle, zum Beispiel bei der technischen Analyse von Aktientrends. 1949 veröffentlichten die beiden amerikanischen Ökonomen Robert D. Edwards und John Magee ihr Buch Technical Analysis of Stock Trends. Darin widmen sie sich unter anderem der Beurteilung und Voraussage von Aktientrends mit Hilfe von Kurven. Edwards und Magee beschreiben typische Muster und Figuren im Kurvenverlauf mit Namen wie head and shoulders (Abb. 23), flag (Abb. 24) oder double bottom (Abb. 25). 37 Abb. 23 - head and shoulders Pattern Edward R. Tufte stellte 2006 in seinem Buch Beautiful Evidence Sparklines vor (Abb. 26). Er bezeichnet sie als Datawords datenreiche, schlicht gestaltete Grafiken in Wortgröße, die in Zusammenhang mit Wörtern und / oder Zahlen in ihrer unmittelbaren Umgebung stehen. 38 Sie funktionieren in der Größenordung von normalem Fließtext und zeichnen den zeitlichen Verlauf eines Wertes nach, wobei sie ohne Skale auskommen. 39 Vor allem in Tabellen erleichtern sie die Differenzierung und Auswertung von dichten, numerischen Informationen wie sie bei der Auflistung von Aktienkursen vorkommen. 40 Abb. 24 - flag Pattern Abb. 26 - hier geben Sparklines eine Überblick über die Entwicklung von verschiedenen, für nordamerikanische Fluglinien relevante, Kennzahlen Die Abbildung der zeitlichen Entwicklung eines Wertes ist die häufigste Form der Visualisierung. Eine Dimension bewegt sich an einer Zeitachse voran. Dies erscheint dem Betrachter natürlich und lässt ihn die Visualisierung einfach und sehr schnell interpretieren. 41 Aufgrund der leichten Zugänglichkeit, der Vielseitigkeit und seiner langen Geschichte ist das Liniendiagramm tief im kulturellen Gedächtnis der westlichen Welt verankert. Unsere Art, Kurvenverläufe zu verstehen, folgt physikalischen Gesetzen und Ereignissen. Wir nehmen sie als steigend, fallend oder gleichbleibend wahr und ordnen dieses Merkmal dem visualisierten Sachverhalt zu. Auffällige Kurvenverläufe werden als Höhenflug oder Absturz bezeichnet, die Kurvenlandschaft hat quasiphysikalische Eigenschaften. 42 Spricht man von der Darstellung von Werten in Kurven, so spricht man immer auch von der Darstellung der Normalität beziehungsweise der Abnormalität. Ohne eine Vorstellung davon zu haben, wann ein Wert tatsächlich abnormal ist, empfinden wir ihn als abnormal wenn seine Kurve ein bekanntes Muster verlässt und / oder sich stetig abwärts entwickelt. 43 In diesem Zusammenhang ist ausserdem die Darstellung der Gaußschen Normalverteilung in Kurvenform als Darstellung von Normalität erwähnenswert (Abb. 27). Die reduzierte Art der Darstellung eines zeitlichen Verlaufes als Linie beziehungsweise Kurve lenkt die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die Entwicklung des Wertes und nicht auf den Wert selbst. Die Kurve entsteht nach Kandisky aus dem gleichzeitigen Wirken von zwei Kräften und so ergibt sich auch das Liniendiagramm aus dem gleichzeitigen Wirken von zwei Kräften. 37 Vgl. Edwards, Robert D., Magee, John: Technical analysis of stock trends, 1992 38 Vgl. Tufte, Edward R.: Beautiful evidence, 2007, 47 39 Vgl. ebd., S. 48 40 Vgl. ebd., S. 50 41 Vgl. Tufte, Edward R.: The visual display of quantitative information, 1992, S. 28 42 Vgl. Link, Jürgen: Das»normalistische«Subjekt und seine Kurven: Zur symbolischen Visualisierung orientierender Daten in: Gugerli, David (Hg.), Ganz normale Bilder: historische Beiträge zur visuellen Herstellung von Selbstverständlichkeit, 2002, S. 114 43 Vgl. ebd., S. 110 Abb. 25 - double bottom Pattern Eine Kraft ist die Zeit, sie bewegt sich in ihrem Fortschreiten horizontal von links nach rechts. Die andere Kraft wirkt vertikal von oben oder unten und ergibt sich aus der Summe aller Kräfte, die an einem bestimmten Zeitpunkt auf einen Sachverhalt gewirkt haben. Der Sachverhalt verändert sich unter dem Einfluss von verschiedensten Kräften und mit ihm fällt und steigt die Kurve, die ihn abbildet. Die Kurve zeigt Werte, aber vor allem symbolisiert sie Kräfte, die auf den visualisierten Sachverhalt wirken. Die Kurve der zeitlichen Entwicklung des Aktienpreises einer Firma gibt also nicht nur historische und den aktuellen Wert der Aktie wieder sondern auch Ereignisse beziehungsweise Kräfte, welche den Wert der Aktie im Laufe der Zeit beeinflusst haben und beeinflussen. Zusammenhänge zwischen dem Wert der Aktie und auf ihn einwirkende Kräfte können eindeutig sein, wie die Veröffentlichung eines Geschäftsberichts, oder aber auch weniger klar wie zum Beispiel Mondphasen (Abb. 28). 44 Abb. 27 - Die Abbildung der Gaußschen Normalverteilung als Kurve Abb. 28 - Das Diagramm zeigt Mondphasen (blaue gepunktete Linie) sowie die durchschnittliche Anzahl gehandelter Aktien (Balken) tageweise über einen Monat hinweg. 44 Vgl. Yuan, Kathy u.a.: Are investors moonstruck? Lunar phases and stock returns, www.hti.umich. edu/b/busadwp/images/b/2/0/ b2092645.0001.001.pdf, Stand: 7. 2. 2013 26 27

Der kanadische Ökonom Gregor Smith fand 2006 eine erstaunliche Ähnlichkeit zwischen der Visualisierung von Japans Phillips Kurve (welche den Zusammenhang zwischen Preisen und Arbeitslosigkeit in einem Land beschreibt) und der geografischen Form von Japan (Abb. 29 & Abb. 30). 45 Zusammenhänge wie in den Abbildungen 29 und 30 sind nicht kausal, obwohl die Formen korrelieren, viel mehr handelt es sich dabei um eine sogenannte Scheinkorrelation. Dieses Phänomen suggeriert Zusammenhänge, wo keine sind. Grundsätzlich wird gleichzeitiges, zeitliches Auftreten von Sachverhalten gerne als Ursache und Wirkung interpretiert. Es ist festzustellen, dass dieses Phänomen gehäuft bei der Betrachtung von Kurven auftritt. Das reizarme Umfeld lenkt den Blick des Betrachters auf die Kurve selbst. Man versucht, in ihr zu lesen, sucht nach Mustern und einer Aussage. Liegt eine zweite Kurve vor, so vergleicht man beide und zieht daraus Schlüsse. Ist eine genügend große Auswahl an Kurven vorhanden und die Möglichkeit des Vergleichs der Kurven untereinander gegeben, so werden sich unendlich viele Kombinationen und sehr viele Scheinkorrelationen finden. Die Arbeit wird dieses Phänomen nutzen, um den Betrachter für die Beziehungen zwischen sich, realen Sachverhalten und Visualisierungen zu sensibilisieren. Gleichzeitiges Auftreten schließt Kausalität nicht ein, aber auch nicht aus. Abb. 29 - Smith, Gregor: Japans Philips Kurve, 2006 Der Kurvenschreiber Messschreiber (englisch Chart Recorder) werden seit langem zur Fixierung der zeitlichen Entwicklung von Messwerten benutzt. Ihre Aufgaben werden heute größtenteils von elektronischen Daten-Loggern und Computermonitoren übernommen. Der breiten Öffentlichkeit sind sie vor allem als Teil von älteren Lügendetektoren (Abb. 31) und Museen (Abb. 32) ein Begriff. James Watt (* 30. Januar 1736 in Greenock, England / 25. August 1819 in Heathfield) benutzte 1786 den sogenannten Watt Indicator zur Optimierung der Leistung seiner Dampfmaschinen (Abb. 33). Das selbstschreibende Messgerät zeichnete den aktuellen Druck und das aktuelle Volumen im Dampfzylinder der Maschine in ein Diagramm. Wenn das Gerät richtig eingesetzt wurde, konnte man von dessen Diagramm eine Reihe von potentiellen Problemen wie schlechte Ventileinstellung oder verengte Dampfröhren ablesen. Die Existenz des Watt Indicators war ein Geheimnis, das Watt wie seinen Augapfel hütete, da es ihm entscheidende Wettbewerbsvorteile sicherte. Erst 1822 drangen Informationen über das Gerät an die Öffentlichkeit. 46 Abb. 32 - Ein sogenannter Thermohygrograph, wie er in Museen und zur Wetterbeobachtung eingesetzt wird. Temperatur und Luftfeuchtigkeit werden parallel erfasst. Jeder Wert, der öfter als einmal gemessen wurde, lässt sich auf eine Zeitleiste eintragen. Alles, was vom realen Sachverhalt übrig bleibt, ist die Kurve. Kurven, welche die Entwicklung der Oberflächentemperatur der Erde beschreiben, sind rein formal nicht von Kurven zu unterscheiden, welche die Entwicklung eines Kontostandes zeigen. Sie bewegen sich lediglich in verschiedene Richtungen. Diese starke Vereinfachung und Verallgemeinerung von Sachverhalten in Form von Zahlen und Kurven findet sich in dieser Arbeit ebenso. Abb. 30 - Smith, Gregor: geografische Form Japans, 2006 Die Kombination aus der menschlichen Neigung, Muster beziehungsweise Korrelationen in verschiedenen Kurven zu finden und der starken Verallgemeinerung von Sachverhalten durch Abbildung in Kurven, vereinnahmt den Betrachter. Er findet Gemeinsamkeiten und Parallelen zwischen Kurven, die ihn selbst abbilden und Kurven, die einen Sachverhalt aus dem Weltgeschehen beschreiben. Dies verbindet ihn mit einer Gegebenheit, welche einen winzigen Ausschnitt der Welt beschreibt, kann einen didaktischen Effekt haben und führt ihm gleichzeitig die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen von Zahlen und Visualisierungen vor Augen. 45 Vgl. Smith, Gregor: Japan s Phillips Curve Looks Like Japan, qed.econ. queensu.ca/working_papers/papers/qed_wp_1083.pdfqed.econ. queensu.ca/working_papers/papers/qed_wp_1083.pdf., Stand: 7. 2. 2013 46 Vgl. Indicators, http://www.archivingindustry.com/indicator/contentback.htm, Stand: 7. 2. 2012 Abb. 31 - Ein Lügendetektor, auch Polygraph, im Einsatz bei der amerikanischen Polizei (um 1950) Abb 33. - Der Watt Indicator 28 29

Der französische Universalgelehrte Étienne-Jules Marey (* 5. März 1830 in Beaune, Côte-d Or, Frankreich / 15. Mai 1904 in Paris) (Abb. 34) war ein Pionier bei der Entwicklung von selbstschreibenden Messgeräten und Kurvenschreibern. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war er in Frankreich als Erfinder, Physiologe sowie als Foto- und Visualisierungspionier aktiv. Vor allem seine Arbeit an der von ihm geprägten Méthode Graphique ist relevant. Abb. 35 - Das Diagramm zeigt sphygmographisch gewonnene Pulsdruckkurven mit chronologischer Zuordnung der Herzaktionsphasen Während seiner Arbeit als Physiologe forschte Marey unter anderem an der, bis dahin unklaren, zeitlichen Beziehung zwischen Kontraktion und Relaxation des Herzmuskels und dem arteriellen Puls. Dazu mussten mehrere Messgeräte parallel und sehr sorgfältig beobachtet werden, was sich selbst für geschickteste Experimentatoren als unmöglich herausstellte. Mit Hilfe eines neuartigen Gerätes, eines sogenannten Polygraphen, gelang es Marey Herzaktivität und Puls parallel auf einer berußten Trommel aufzuzeichnen und den tatsächlichen zeitlichen Zusammenhang festzulegen (Abb. 35). 47 Diese Methode des (parallelen) Aufzeichnens von für das menschliche Auge nur schwer erfassbaren Vorgängen nannte er grafische Methode. Er war überzeugt davon, dass eine rein mechanische Registrierung von körperinternen, unsichtbaren Vorgängen diese unverzerrt einfängt und abbildet. 48 Die Phänomene schreiben sich sozusagen selbst ein. 49 Abb. 36 - Marey, Étienne-Jules: Sphygmograph, der arterielle Pulsdruckkurven direkt am Handgelenk schreibt, 1876 Abb. 34 - Étienne-Jules Marey um 1900 inmitten seiner Erfindungen 47 Vgl. Étienne-Jules Marey laut Wikipedia.de, http://de.wikipedia.org/ wiki/%c3%89tienne-jules_marey, Stand: 7. 2. 2013 48 Vgl. de Chadarevian, Soraya: die»methode der Kurven«in der Physiologie zwischen 1850 und 1900 in Rheinberger, Hans-Jörg u.a. (Hg.), Die Experimentalisierung des Lebens: Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950, 1993, S. 179 49 Vgl. ebd., S. 176 Abb. 37 - Marey, Étienne-Jules: einfacher Myograph, der die Zuckungen von Froschmuskeln auf eine berußte Walze schreibt, 1875 Abb. 38 - Marey, Étienne-Jules: Ein Apparat, der zur Eintragung aller geradlinigen Bewegungen dient, 1875 30 31

Außerdem wollte er die Methode zu einer universell verständlichen Sprache entwickeln, ähnlich dem musikalischen Notationssystem, was ihm jedoch nicht gelang. 50 In jedem Fall machte die grafische Methode die damalige medizinische Praxis durchsichtiger, kontrollierbarer und kommunizierbar. 51 Außerdem wurde sie, da interdisziplinär anwendbar, von anderen Wissenschaften übernommen, um Phänomene festzuhalten, die jenseits der menschlichen Wahrnehmung liegen. So wie Watt mit seinem Indicator in das Innere von Dampfmaschinen blickte, so blickte Marey mit seinen Schreibern in das Innere seiner Patienten. Es kann festgehalten werden, dass die grafische Methode verschiedene, sinnliche Qualitäten und Energieformen ineinander transformiert und übersetzt. Sie will natürliche Phänomene mechanisch exakt registrieren und versucht sowohl menschliche Intervention als auch (damalige) konventionelle Kommunikationssysteme weitestgehend auszuschalten. 52 Ihre Absichten decken sich also teilweise mit den Anforderungen an moderne Visualisierungen. Abb. 40 - Marey, Étienne-Jules: Ein Chronograph (wörtlich Zeitschreiber), der hundert Kurven pro Sekunde schreibt, 1875 Abb. 41 - Marey, Étienne-Jules: Apparat zur Bestimmung des Herzvolumens während verschiedener Herzaktionsphasen, 1875 Bemerkenswert an Marey s Schreibern ist die völlig analoge Übersetzung von nicht wahrnehmbaren körperlichen Funktionen in eine grafische Form, wobei das Wort Übersetzung hier durchaus wörtlich zu nehmen ist. Daten als Informationsträger und Grundlage für eine Visualisierung werden von sensiblen, feinmechanischen Vorrichtungen ersetzt, welche die Signalübertragung, -verstärkung und -visualisierung übernehmen. Der Schreibkopf wird nicht von einer Zahl gehoben sondern von dem zu visualisierenden Vorgang selbst. 50 Vgl. de Chadarevian, Soraya: die»methode der Kurven«in der Physiologie zwischen 1850 und 1900 in Rheinberger, Hans-Jörg u.a. (Hg.), Die Experimentalisierung des Lebens: Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950, 1993, S. 169 51 Vgl. ebd., S. 177 52 Vgl. ebd., S. 172 Abb. 39 - Marey, Étienne-Jules: Aufbau eines Experimentes zur Erfassung von Wellenbewegungen in Flüssigkeiten, 1875 Abb. 42 - Marey, Étienne-Jules: Schreibvorrichtung mit 2 Führungsschienen, welche die Reibung vermindern sollen, 1876 Abb 43 - Marey, Étienne-Jules: Experimenteller Transmissionsmyograph zur Registrierung von Froschmuskelzuckungen, 1876 Abb. 44 - Marey, Étienne-Jules: Pneumograph, der an der Brust getragen wird und zur Erfassung von Atembewegungen dient, 1876 32 33

Der britische Künstler Tim Knowles hat in den Jahren 2005 / 2006 mehrere Arbeiten unter dem Titel Tree Drawings veröffentlicht. Bis zu fünfzig Stifte werden dabei an den Ästen von Bäumen befestigt. Weht der Wind, so streifen die Stifte über eine Leinwand und halten die Bewegung der Äste fest (Abb. 45 & Abb. 46). Abb. 45 - Knowles, Tim: Tree Drawing - Hawthorn on Easel #1, Foot of Castle Crag, Borrowdale, 1876 Ein Weissdorn schreibt sich auf ein Blatt Papier ein Knowles bildet damit physikalische Effekte in der Natur ab. Das Besondere ist, wie bei Marey, das bei der Erzeugung der Visualisierung auf Zahlen verzichtet werden kann. Er benutzt keinen Sensor oder überträgt die Bewegung in Form von Zahlen zu einer Zeichenvorrichtung, sondern vermisst die Bewegung der Äste vor Ort direkt auf ein Blatt Papier. Die Realität wird auf poetische, naturnahe Weise in eine Form gezwungen. Der Baum als Linienschreiber zeichnet sich ganz im Sinne der Méthode Graphique selbst ein. Die mechanische Anmutung von Linienschreibern kontrastiert mit dem eigentlichen Akt des Schreibens, welcher ein sehr menschlicher ist. Die gefühlvolle, musische Handlung wird von einer Maschine übernommen. Dabei geht auch ein großer Teil der Subjektivität verloren, ein Linienschreiber hat keine Handschrift. Ein kleiner Teil bleibt jedoch, da man den Stift, seine Bewegungen und die Linie, welche er auf das unter ihm bewegte Papier schreibt, sehen und hören kann. Der Vorgang des Schreibens ist, im Gegensatz zum handelsüblichen Drucker, sinnlich unmittelbar zugänglich. Die statische, nicht umkehrbare Ausgabe der Werte auf das unter dem Stift wegfließende Papier versinnbildlicht den Fluss der Zeit in der realen Welt, aus welcher die visualisierten Zahlen entnommen wurden. Die Beziehung der Kurven untereinander sagt dem Betrachter, dass wir alle auf das gleiche Stück Papier geschrieben werden und in der selben Welt leben. Abb. 46 - Knowles, Tim: Tree Drawing - Hawthorn on Easel #1, Foot of Castle Crag, Borrowdale, 2005 Das vom Weissdorn beschriebene Blatt 34 35

Prozess und Umsetzung Inspiriert wurde die Arbeit vor allem Anfangs von Trommelschreibern, wie sie in Musseen und bei meteorologischen Beobachtungen verwendet werden. Das Haarhygrometer auf den Abbildungen 47 und 48 ist handlich, robust und kommt ohne elektrische und elektronische Komponenten aus. Die aktuelle Luftfeuchtigkeit wird mit Hilfe von Pferdehaaren bestimmt (daher der Name), welche sich bei Feuchtigkeit zusammenziehen und bei Trockenheit dehnen. Diese Bewegung wird analog auf einen Schreibarm übertragen, der die Länge der Haare beziehungsweise die aktuelle Luftfeuchtigkeit auf einen Papierstreifen schreibt (nächste Seite Abb. 49 und 50). Das Papier wird auf einer Trommel befestigt, welche sich, nach dem Aufziehen eines Uhrwerks, in einer Woche genau einmal um 360 dreht. Abb. 47 - Das Haarhygrometer in geschlossem Zustand. Man erkennt die Trommel mit dem aufgeklemmten Papierstreifen. Abb. 48 - Im linken Bereich findet man den analoge Luftfeuchtigkeitssensor aus Pferdehaaren. Rechts erkennt man die Trommel, auf welcher der Papierstreifen angebracht wird. Das Uhrwerk befindet sich in der Trommel. 36 37

Auf den Abbildungen 51-56 werden Kurven, die verschiedenste Sachverhalte abbilden, in enge Beziehung gesetzt. Die Experimente bestätigten die Vermutung, das bei einer genügend großen Auswahl an Datensätzen und Kurven sich immer Korrelationen finden lassen. Abb. 51 Abb. 49 - Messstreifen, auf welchem die im Laufe einer Woche gefallene Regenmenge erfasst wurde. Abb. 52 Abb. 53 Abb. 54 Abb. 55 Abb. 56 Abb. 50 - Deteil des Messstreifens 38 39