1. DAS WICHTIGSTE AUF EINEN BLICK SCHNELLÜBERSICHT 2. SOPHOKLES: LEBEN UND WERK 11 3. TEXTANALYSE UND -INTERPRETATION 27



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1) Gott sagt: Ich will dich segnen und du sollst ein Segen sein." (1. Mose 12,2)

Transkript:

INHALT 1. DAS WICHTIGSTE AUF EINEN BLICK SCHNELLÜBERSICHT 6 2. SOPHOKLES: LEBEN UND WERK 11 2.1 Biografie 11 2.2 Zeitgeschichtlicher Hintergrund 12 Theateraufführungen im alten Griechenland 13 Sophokles Einfluss als Dramatiker 16 Sophokles als Staatsmann 17 Die attische Demokratie 17 Das Ende des Goldenen Zeitalters 20 2.3 Angaben und Erläuterungen zu wesentlichen Werken 22 3. TEXTANALYSE UND -INTERPRETATION 27 3.1 Entstehung und Quellen 27 Der Mythos und seine Bearbeitung 27 Die Entstehung des Dramas und die Zeitumstände 32 Frühere Bearbeitungen des Ödipus-Stoffs 33 3.2 Inhaltsangabe 35 Prologos 35 Parodos 36 1. Epeisodion 37 1. Stasimon 38 2. Epeisodion 38

INHALT 2. Stasimon 41 3. Epeisodion 41 3. Stasimon 43 4. Epeisodion 43 4. Stasimon 44 Exodos 44 47 3.4 Personenkonstellation und Charakteristiken 56 Ödipus 56 Iokaste 59 Kreon 60 Teiresias 61 Bote und Hirte 62 Der Chor 63 3.5 Sachliche und sprachliche Erläuterungen 64 3.6 Stil und Sprache 70 3.7 Interpretationsansätze 78 Die Rolle von Iokaste 78 Tragik, Schuld, Verbrechen 81 Die Götter und der Mensch Ödipus 85 Krankheit und Reinigung 87

4. REZEPTIONSGESCHICHTE 90 5. MATERIALIEN 95 6. PRÜFUNGSAUFGABEN MIT MUSTERLÖSUNGEN 100 LITERATUR 113 STICHWORTVERZEICHNIS 116

4 REZEPTIONS- GESCHICHTE 5 MATERIALIEN 6 PRÜFUNGS- AUFGABEN Das Drama weist eine klare Gliederung auf: Eingefasst vom Prologos und Parodos, dem Einzugslied des Chores, und, am Ende, dem Exodos (inkl. Kommos), finden wir einen Aufbau in vier Hauptszenen (Epeisodion = Hauptszene) und vier Standlieder des Chores (Stasimon = Standlied). Das Stück spielt vor dem Königspalast von Theben; die Handlung entfaltet sich vom Morgen bis gegen Mittag eines Tages. Die Lösung des Rätsels (Wer tötete Laios?) geht einher mit der Aufdeckung der Identität von Ödipus und vollzieht sich in vier Schritten. ZUSAMMEN- FASSUNG Wie im Abschnitt 3.1 dieses Bandes bereits erwähnt, konnte Sophokles beim Publikum seiner Zeit den mythischen Stoff als bekannt voraussetzen. Dies ermöglicht es ihm, sich bei der Komposition seines Dramas auf einen bestimmten, für Ödipus entscheidenden Abschnitt des Geschehens zu konzentrieren, eines Abschnittes nämlich, in dem Ödipus in kürzester Zeit zum Entdecker seiner wahren Herkunft und damit seiner Verstrickung in Verbrechen wird (die Spielzeit und die im Spiel gezeigte Zeitphase sind nahezu identisch). Sophokles zeigt Ödipus zu Beginn des Dramas in der Fülle seiner Macht als König von Theben und Sucher nach Wahrheit. Diese Suche führt ihn in erschreckender Selbsterkenntnis zu sich selbst und führt gleichzeitig seinen Fall herbei. Als die Bühnenhandlung einsetzt, sind Vatermord und Inzest längst geschehen, Ödipus ist über Einsetzen der Handlung ÖDIPUS 47

1 SCHNELLÜBERSICHT 2 SOPHOKLES: LEBEN UND WERK 3 TEXTANALYSE UND -INTERPRETATION Dramentypus: analytisches Drama Kompositionsstruktur: Gliederung Jahre Regent der Stadt Theben, aus seiner Ehe mit Iokaste sind die Kinder Eteokles und Polyneikes sowie Ismene und Antigone hervorgegangen. Da die Pest die Stadt bedroht, hat Ödipus seinen Schwager Kreon zum Orakel des Gottes Apollon geschickt, um dort Rat zu holen. All diese Handlungsvoraussetzungen liegen bereits vor Beginn der Bühnenhandlung; das Drama selbst konzentriert sich auf die letzten Auswirkungen dieser Voraussetzungen und die Zuspitzung auf die Katastrophe, so dass es in reiner Form den Typus des analytischen Dramas verkörpert, das im Zuge der Handlung die Ursachen für die kommende Katastrophe enthüllt. 24 Dieser Enthüllungscharakter des Dramas, die Lösung eines Rätsels, hat in der begleitenden Literatur dazu geführt, eine Nähe der Tragödie zur Detektiv-Literatur zu konstatieren. 25 Wirft man einen Blick auf die Kompositionsstruktur des Dramas, so fällt zunächst die klare Gliederung ins Auge (siehe Übersicht 1 auf S. 52/53 dieser Erläuterung). Eingefasst vom Prologos und Parodos, dem Einzugslied des Chores, und, am Ende, dem Exodos (inkl. Kommos), finden wir einen Aufbau in vier Hauptszenen (Epeisodion = Hauptszene) und vier Standlieder des Chores (Stasimon = Standlied). Nach dem 1. Kommos (Wechselgesang), ab V. 725, also in der Mitte des Dramas, liegt ein Wendepunkt. Iokaste berichtet Ödipus vom Orakelspruch, der ihr und Laios verkündet habe, Laios werde durch die Hand seines Sohnes sterben. Ödipus erfährt durch 24 Dem analytischen Drama steht das Zieldrama gegenüber, das den eigentlichen Konflikt erst entfaltet und auf ein Ziel hin zuspitzt. Wir setzen den Begriff Handlung deshalb in Anführungszeichen, weil die eigentliche Handlung bereits geschehen ist. Schiller hat im Zusammenhang mit dem Drama von der tragischen Analysis gesprochen (vgl. Schadewaldt, Tübinger Vorlesungen, S. 268). 25 siehe etwa Claus Reinert, S. 7 45 u. Schmidhäuser (siehe auch Kapitel 5 dieser Erläuterung) 48 SOPHOKLES

4 REZEPTIONS- GESCHICHTE 5 MATERIALIEN 6 PRÜFUNGS- AUFGABEN Iokaste zudem, dass Laios und sie den ihnen geborenen Knaben mit durchstochenen Fußgelenken ausgesetzt hätten und dass Laios an der Scheide dreier Wagenwege von Räubern erschlagen worden sei. Iokaste verbindet ihre Darstellung mit dem Hinweis, dass sich das Orakel nicht erfüllt habe. Genau diese Hinweise Iokastes aber sind es, die in Ödipus eine große seelische Erschütterung hervorrufen. Ödipus erinnert sich, dass er, auf dem Wege nach Theben, an eben einem solchen Dreiweg in einen Streit geraten sei, bei dem er einen alten Mann erschlagen habe, der ihm, wie Iokaste mitzuteilen weiß, durchaus ähnlich gesehen habe. In Ödipus steigt nun die Angst auf, Teiresias könne mit seinem Vorwurf, Ödipus selbst sei der gesuchte Mörder von Laios, Recht gehabt haben: Entsetzlich mutlos bin ich, es könnt der Seher sehend sein. (V. 747) Von nun an beginnt eine doppelte Recherche. Ödipus verknüpft die Suche nach dem Mörder des Laios mit Fragen zu seiner eigenen Herkunft. Der Weg in die Katastrophe wird mit der Peripetie eingeschlagen, die mit dem Auftritt des Boten aus Korinth verknüpft ist (der Ödipus darüber aufklärt, dass er nicht der leibliche Sohn von Polybos und Merope sei). Diese Erkenntnis (der Bote macht seine Mitteilung, um Ödipus von einer Last zu befreien) ist mit dem Umschlag ins Gegenteil verbunden: Das Wissen führt ins Unglück, in die Katastrophe. Sämtliche Ausgangspositionen verkehren sich in ihr Gegenteil: Sucht Ödipus zu Beginn nach einem Mörder, muss er entdecken, dass er selbst dieser Mörder ist. Ist seine Ausgangsposition durch Höhe gekennzeichnet, die sich in der schroffen Haltung gegenüber Teiresias und Kreon offenbart, kommt es nun zu seinem Fall. Hält er sich zu Beginn für einen Wissenden und Sehenden, muss er nun erkennen, dass er die Wahrheit bisher nicht gesehen hat. Ist er zu Verkehrung der Ausgangspositionen ÖDIPUS 49

1 SCHNELLÜBERSICHT 2 SOPHOKLES: LEBEN UND WERK 3 TEXTANALYSE UND -INTERPRETATION Vier Schritte der Enträtselung 1. Schritt 2. Schritt Beginn der geliebte Führer Thebens, so ist er am Ende nur noch ein Gebrochener (V. 1347). Die Entwirrung des Rätsels (Wer ist der Mörder? Aber auch: Wer bin ich?) vollzieht sich in vier großen Schritten, in deren Zentrum immer Ödipus im Dialog mit einer anderen Figur des Dramas steht. Die unmittelbaren Handlungsvoraussetzungen, die Ausgangssituation also, wird im Prologos entfaltet. Kreon kehrt mit der Antwort des Orakels zurück (Laios Mörder ist zu suchen und zu bestrafen) und hat bereits den Seher Teiresias in den Palast gebeten. 26 Im ersten Schritt offenbart Teiresias des Rätsels Lösung. Er bezichtigt Ödipus, der Mörder seines Vaters zu sein. Und er macht bereits Andeutungen (spricht aber dabei über Ödipus wie über eine dritte Person) über die Verstrickung in den Verstoß gegen das Inzesttabu. Zu diesem Zeitpunkt müssen Ödipus die erhobenen Vorwürfe aber als Ungeheuerlichkeit erscheinen, hat er doch, in der Annahme, Polybos und Merope seien seine leiblichen Eltern, diese verlassen, um den Konsequenzen des Orakelspruchs, den er erhalten hat, zu entgehen. Die Erinnerung an die Tötung eines alten Mannes auf seiner Wanderschaft nach Theben ist Ödipus nicht mehr gegenwärtig. So sieht er Teiresias Beschuldigungen als Teil einer Intrige gegen sich, in die auch Kreon verwoben ist. Der zweite Schritt erfolgt im Gespräch mit Iokaste. Als diese vom Orakelspruch und von den Umständen berichtet, unter denen Laios zu Tode gekommen sei, ruft dies in Ödipus die Erinnerung an den Vorfall mit dem alten Mann wach, den er erschlagen hat. Der Verdacht steigt in ihm auf, er könne tatsächlich, wie es Teiresias gesagt hat, der Mörder Laios sein. Freilich kommt ihm noch nicht der Gedanke, dass er damit zugleich den eigenen Vater getötet hat. 26 vgl. auch Schmidhäuser, S. 101 105 50 SOPHOKLES

4 REZEPTIONS- GESCHICHTE 5 MATERIALIEN 6 PRÜFUNGS- AUFGABEN Um Gewissheit zu erlangen, will er den einzigen Mann, der den Kampf am Dreiweg überlebt hat, in den Palast einbestellen. Der dritte Schritt (der Dialog mit dem Boten aus Korinth) konfrontiert Ödipus mit der Erkenntnis, dass er nicht der Sohn des Polybos und der Merope ist, sondern diese ihn vielmehr von einem Hirten empfangen und ihn an Sohnes statt angenommen haben. Iokaste ahnt bereits das drohende Unheil und mahnt Ödipus, nicht weiter nachzuforschen. Dieser aber will nun das Rätsel seiner Herkunft vollends lösen, und sei es um den Preis, dass er erkennen müsse, der Sohn eines Hirten zu sein. Dies ist der letzte Rettungsanker, den Ödipus sieht. Das ganze Unheil wird im vierten Schritt offenbart, im Dialog mit dem Hirten, in dessen Hand Laios und Iokaste ihren Sohn gegeben haben und der zugleich jener Mann ist, der den Kampf am Dreiweg überlebt hat. Nur zaudernd-zögerlich und unter Drohungen von Ödipus gibt der Hirte sein Wissen preis. Und Ödipus muss erkennen: 3. Schritt 4. Schritt Es trat zutage: entstammt bin ich, von wem ich nicht gesollt, verkehr, mit wem ich nicht gesollt, und hab erschlagen, wen ich nicht gedurft. (V. 1184 f.) Auf der Suche nach dem Mörder ist Ödipus bei sich selbst angekommen und hat zugleich das Rätsel seiner Herkunft gelöst. Die vorab verkündete Strafe wendet er nun gegen sich selbst: Er, der Geblendete, lässt sich von Kreon in die Verbannung schicken (Iokastes Tod und seine Selbst-Blendung werden im Botenbericht vermittelt). Mit dieser Selbst-Verbannung schließt sich zugleich ein mehrfacher Kreislauf. Wird Ödipus, drei Tage nach seiner Geburt, von der Welt abgestoßen (indem seine Eltern ihn aussetzen), stößt nun er die Welt ab, indem er in die Verbannung geht. Spielen zu Beginn seines Schicksals die Männer aus Theben und Korinth eine Mehrfacher Kreislauf ÖDIPUS 51