den größten Einfluss, war offensichtlich ständige Praxis. Wie sollte man da eine offene Aussprache in der Führung glauben?



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Transkript:

Offenbarungen Völlig überrascht über seine Offenbarungen war ich natürlich nicht mehr, aber bin zutiefst erleichtert, dass unser Schicksal nicht mehr von solchen Politbüros und der darin herrschenden Machtkonstellationen abhängt. Die Rede ist von Jegor Ligatschows Erinnerungen, die unter dem Titel Wer verriet die Sowjetunion? im Vorjahr im Verlag Das Neue Berlin erschienen. 1984 bin ich dem Autor mal während eines Treffens von Konstantin Tschernenko mit den 1. Sekretären der Jugendverbände sozialistischer Länder persönlich begegnet. In meiner Erinnerung machte er auf mich damals den typischen Eindruck eines Parteiarbeiters, freundlich in der Körpersprache, gesprächsbereit und offen, an der Meinung anderer offensichtlich interessiert, nicht überheblich, eher bescheiden. Das fiel neben dem steifen und kranken Tschernenko besonders positiv auf. Von links nach rechts in der 1. Reihe: Jegor Ligatschow, Viktor Mischin (1. Sekretär des Komsomol), Konstantin Tschernenko (Generalsekretär der KPdSU), links hinter Ligatschow: Eberhard Aurich, 1. Sekretär des Zentralrats der FDJ Jegor Ligatschow galt und gilt im Westen als angeblich konservativster Politiker in der sowjetischen Parteiführung, als Bremser der Perestroika und Gegenspieler von Gorbatschow. Ich zweifle nicht an der persönlichen Integrität und Ehrlichkeit des Verfassers sowie an der Richtigkeit der im Buch dargestellten Fakten, aber wie immer bei solchen persönlichen Erinnerungen stehen die Ereignisse natürlich im subjektiven Blick des Schreibenden, berücksichtigen nicht die Sicht der anderen Seite, können deshalb auch partiell zu widersprüchlichen Überlegungen führen. Ligatschow konzentriert sich in seinen Darlegungen ausschließlich auf die innenpolitischen Aspekte der Perestroika in der Sowjetunion, auf die teilweise abstrusen persönlichen Auseinandersetzungen und Anschuldigungen in der politischen Führung des Landes, auf die Charakterisierung und seine Bewertung wichtiger Persönlichkeiten des inneren Führungszirkels der KPdSU. Die internationalen Aspekte dieser Umwälzung in der Sowjetunion im Hinblick auf Krieg oder Frieden, ihr Reflex und 1

Folgen in den anderen sozialistischen Ländern und besonders ihre Folgen für Deutschland spielen keine oder nur eine Rolle am Rande. Das ist schade, soll aber zunächst kein Vorwurf sein. Ligatschow ist der festen Überzeugung, dass die Perestroika notwendig war und unter Führung der KPdSU hätte erfolgreich sein können, wenn diese ihre Führungsrolle wirklich wahrgenommen hätte. Aus allen seinen Darlegungen wird deutlich, dass er auch in der politischen Auseinandersetzung mit Gorbatschow, Jakowlew und Medwedjew u.a., stets diese Position eingenommen hat und deshalb als Reform-Bremser galt. In seinen Darlegungen zeigt sich, dass Gorbatschow, den Ligatschow zunächst vorbehaltlos unterstützte, aber eben auch Ligatschow u.a. kein Gesellschaftskonzept hatten, der sozialistischen Entwicklung in der Sowjetunion eine neue die Menschen überzeugende Dynamik zu verleihen und im Wettstreit mit dem Westen zu bestehen. Das Land, eine Weltmacht mit hohem Anspruch, stand in diesen Jahren vor riesigen Problemen: Die Parität im Wettrüsten mit den USA war zwar erreicht, aber eine neue Runde des Rüstungswettlaufes stand bevor (SDI, Raketen in Europa), die wissenschaftlich-technische Revolution wurde faktisch negiert, die materiell-technische Basis der Volkswirtschaft erheblich vernachlässigt. Der Lebensstandard der Bevölkerung war selbst gegenüber anderen sozialistischen Ländern auf einem niedrigen Niveau, das Land konnte sich bei wichtigen Lebensmitteln nicht selbst ernähren, die sozialistische Demokratie war vernachlässigt, Bürokratie, Trägheit und Korruption dominierten, die Stalin sche Vergangenheit hing wie ein Klotz am Bein, darunter die Frage der Nationalitäten in der UdSSR. Ligatschow verweist zwar auf die seiner Meinung nach unterschiedliche Entwicklung in den Regionen und verteidigt dabei sein Lebenswerk in Westsibirien. Und er beschreibt die ersten Schritte, die wohl schon unter Andropow in die richtige Richtung gingen: Die riesigen Potentiale des Landes sollten für die Intensivierung der Produktion und die Verbesserung der Lebensverhältnisse der Bevölkerung genutzt werden, das Land sollte sich wieder selbst mit Lebensmitteln versorgen können, vor allem jedoch sollte ein neuer Enthusiasmus im Volk entfacht werden. Dabei hielt Ligatschow das sowjetische System des Sozialismus für grundsätzlich reformierbar und auf alle Fälle für erhaltenswert. Besonderen Wert legt er auf die Erhaltung des Machtmonopols der KPdSU. Wie das aber unter den Bedingungen einer echten Demokratisierung realisiert werden sollte, da bleibt er aber eine Antwort schuldig. Im Gegensatz zur DDR, die ja zumindest formell auf ein Mehrparteiensystem verweisen konnte, gab es in der UdSSR ein Einparteiensystem. Er hätte ja mindestens für die Zulassung neuer Parteien und Bewegungen eintreten müssen, wenn er es denn mit der Demokratisierung hätte ernst nehmen wollen. Es konnte doch niemals funktionieren, das ganze Volk diskutieren zu lassen und die Entscheidungsmacht doch bei der alten Partei und ihren Funktionären zu lassen (Sollte alles gar nur demokratisch aussehen?). Auch vermisst man bei ihm eine klare Distanz zu systembedingten Problemen der Gesellschaft. Für ihn ist es völlig normal, dass sich die KPdSU des sowjetischen Staates und ihrer Organe trotz formaler Trennung bemächtigt hatte (schon wie bei Lenin, als das ZK der KPR (B) quasi die Regierung war). Völlig zu Recht kritisiert er, dass viel geredet, wenig konkret beschlossen und gemacht und noch weniger davon kontrolliert wurde, ob die beabsichtigten Effekte auch eingetreten sind. Aber auch er wollte offensichtlich nur besonders grobe Entartungen der sowjetischen Gesellschaft unter strengster zentraler Steuerung durch das Machtzentrum beseitigen, ohne das System als Ganzes in Frage zu stellen. Ob davon mehr als nur kosmetische Korrekturen zu erwarten gewesen wären und der Sozialismus weiterentwickelt hätte werden können, bleiben offene Fragen. 2

Selbst wenn man mit dem sowjetischen Begriff der sozialökonomischen Beschleunigung in der DDR nicht glücklich war, konnten die ersten konkreten Schritte in diese Richtung doch nur auch von den Kommunisten in anderen Ländern unterstützt werden, wie auch trotz Skepsis geschehen. Ligatschow beschreibt eindrucksvoll aber den Bruch mit dieser Absicht der Perestroika: Diese Veränderungen waren mühsam und spektakuläre Erfolge blieben aus, die neue Demokratie und Glasnost sollte nun die Volksinitiative entfachen. Alle sollten mitreden, nur nach Urteil von Ligatschow die Partei nicht! Er verurteilt, dass plötzlich Betriebsleiter gewählt werden sollten und schildert plastische Beispiele für irre unfruchtbare Debatten, langes Schweigen oder kluge Reden der Führung. Er habe ständig dafür plädiert, dass die Partei weiter das Sagen haben müsse. Doch das ist halt der unlösbare Widerspruch. Demokratie und führende Rolle der Partei das passt nicht zusammen, es sei denn die Vorschläge und Ideen der Partei sind so überzeugend, dass sie allgemein akzeptiert werden können. Solche konstruktiven Ideen gab es aber nicht. Doch wie sollte das auch gehen in einer internationalen Auseinandersetzung und bei der Interessenlage der Beteiligten? Auch war wohl die KPdSU letztlich bereits im allgemeinen Ansehen, durch ihre Geschichte und ihr Personal ziemlich verbrannt. Die Argumentation Ligatschows gegen die historischen Enthüllungen ist so ausgesprochen hilflos. Wer jahrelang solche Dinge wie die Zusatzprotokolle zum Hitler-Stalin-Pakt und die schlimmsten Verbrechen Stalins (z.b. Katyn) verschweigt, muss mit der Wahrheit leben und kann dann doch nicht auf ausgewogene Beurteilung der Geschichte hoffen. Ich wundere mich nur, warum Ligatschow persönlich so lange durchgehalten hat. Da ich persönliche Eitelkeit in diesem Falle ziemlich ausschließe, kann ich es mir nur aus der Ethik eines kommunistischen Parteiarbeiters erklären, der die Interessen der Partei und die Parteidisziplin als heilig ansah. Mir fehlt aber sein wirklicher Aufstand im Politbüro, wie oft hat er er beschreibt es ja geschwiegen, wie oft hat er seiner Meinung nach den Angriff gegen ihn nicht erkannt, welche Rolle spielte auch bei ihm tatsächlich die Parteidisziplin oder doch nur der einfache Opportunismus? Es ist wohl eher ein ziemlich religiöses Verhältnis zur Partei und ihrer Führung insbesondere ihres Generalsekretärs, die in Stalinscher Tradition steht. Dabei schreibt er sogar über die feudalen Strukturen im Politbüro (selbst die Zimmer waren zwischen den unterschiedlichen Funktionen hierarchisch verteilt!) Gewundert habe ich mich, dass er über angeblich divergierende Debatten und Diskussionen im Politbüro und sogar im ZK aus jener Zeit berichtet. Das kannten wir in der SED kaum noch, zumindest blieben uns als ZK-Mitglieder oder einfache Mitglieder Partei Debatten und Diskussionen in der Führung weitgehend verborgen. Mein Einblick in den inneren Zirkel der SED ist zu gering, aber die von Ligatschow beschriebenen Kungeleien gab es meines Wissens bei uns in diesem Maße nicht (oder nicht mehr!). Nur das Misstrauen bei uns war kaum geringer war, jeder verteidigte sein Verantwortungsgebiet wie ein umzäuntes Gehege. Wehe dem, wenn ein anderer etwas von seinem Gebiet wusste, was man selbst nicht wusste. Das führte auf unserer niederen Ebene dazu, dass wir nicht mal mit Abteilungsleitern des ZK oder Ministern in der Regierung offen und ehrlich reden konnten. Denn immer bestand die Gefahr, dass dann das jeweils zuständige Politbüro-Mitglied mehr glaubte zu wissen. Allerdings das muss man zugeben war das auch ein Mechanismus gegen bestimmte Kungelei, man konnte sich auch nicht ohne weiteres der Macht des jeweils anderen bedienen, um etwas durchzusetzen. Und als Nichtmitglied des inneren Zirkels war man so auch geschützt, wenn man mal Probleme kritisch ansprechen wollte. Was Ligatschow darüber berichtet, wie sich Gebietsfürsten in der Zentrale Entscheidungen oder Hilfe einholten, das ist schon ziemlich feudal gestrickt. Im sowjetischen Politbüro jener Zeit wurde zwar keiner mehr wie bei Stalin einfach erschossen, aber das gegenseitige Niedermachen und das Buhlen beim Generalsekretär um 3

den größten Einfluss, war offensichtlich ständige Praxis. Wie sollte man da eine offene Aussprache in der Führung glauben? Aber das Niedermachen von Genossen gab es auch bei uns bis zuletzt. Die Ablösung Walter Ulbrichts ist das markanteste Beispiel aus 1971. Auch wurde einer schnell mal für krank erklärt oder einfach ohne Begründung im ZK kurzerhand abgelöst. Welche Ängste herrschten unter den Mitgliedern unserer Führung? Warum musste die Abwahl Erich Honeckers letztlich konspirativ vorbereitet werden? Trotz unterschiedlicher Meinungen traute sich niemand im Politbüro der SED, frühzeitig eine offene Aussprache zu fordern. Die Begründung der Abwahl aus gesundheitlichen Gründen war auch in diesem Fall eine Täuschung über die wahren politischen Hintergründe. Auch ich habe im Auftrag eines Politbüromitglieds auf dem ZK-Plenum im Dezember 1988 gegen Kulturminister Hoffmann das Wort ergriffen, der es gewagt hatte, über das Aufhören der Klassenauseinandersetzung in einer Schweizer Theater-Zeitschrift nur nachzudenken. Ich kannte den Text des Interviews nicht einmal. Ich habe das damals ohne großes Zögern nur getan, weil ich auf diese Weise von dem Verdacht gegen die FDJ ablenken konnte, sie sorge mit für das Grummeln im Lande, was wohl auch das Motiv des Politbüro-Mitglieds war, mich für solche Rede zu gewinnen. Und offene Aussprachen bei uns? Über den Inhalt der Politbüro-Sitzungen weiß ich zu wenig. Ich erinnere mich allerdings sehr wohl daran, dass Erich Honecker ein Interview der Jungen Welt mit Stephan Hermlin absegnete und dann im Sekretariat des ZK der FDJ vorgeworfen wurde ohne Widerspruch Honeckers (übrigens von Günter Schabowski!), mit solchen Interviews die Perestroika-Freudigkeit unter der Jugend der DDR zu stärken. Erich Honecker meinte zudem in der gleichen Sitzung, mich warnen zu müssen, ja nicht mit neuen Ideen vom Komsomolkongress wiederzukommen. Auch verstehe ich nach dem Lesen des Buches noch mehr, warum Erich Honecker gegen diese Perestroika der KPdSU war. Auch erklärt mir Ligatschow ganz gut meine persönliche Skepsis gegenüber dem, was in der SU geschah. Überrascht war ich nun aber doch, dass über den berühmten Artikel von Nina Andrejewna, der in der DDR viel Staub gegen die Parteiführung aufwirbelte, in der Führung der KPdSU zwei Tage diskutiert wurde. Davon haben wir nichts gewusst. Wenn wir den Widerstand von Teilen der sowjetischen Parteiführung gegen die entlarvenden Geschichtspublikationen gekannt hätten, hätten wir manche ad hoc-entscheidungen der DDR- Führung (sowjetische Filme, Sputnik) wohl besser verstanden, nicht unbedingt mehr gebilligt, uns aber mehr damit auseinandergesetzt. Was ich unserer Führung vorwerfe, ist nicht, dass sie diese Art der Perestroika und Glasnost ablehnte, sondern dass sie darüber nicht diskutieren ließ und ihre Ablehnung nicht begründet hat und dass sie nicht erkannte, dass auch bei uns neue Fragen herangereift waren, die einer Lösung harrten. Aber, seien wir ehrlich, was hätten wir denn an Ideen vorzubringen gehabt, wenn uns 1986 die Parteiführung aufgefordert hätte, unsere Analysen oder gar Vorschläge zur Veränderung des politischen Systems in der DDR zu unterbreiten. Da hätten wir doch leere Blätter einreichen müssen, die dann wie 1989 ganz andere beschrieben hätten. So ging es doch auch Gorbatschow und der ganzen Parteiführung: Es gab keine wirkliche Idee für die Weiterentwicklung des Sozialismus damaliger Prägung, der dem Westen hätte widerstehen können. Auch Ligatschow umgeht die Frage, warum der Sozialismus zu diesem Zeitpunkt scheitern musste, für ihn gibt es nur persönlich Verantwortliche, Verräter. Bezogen auf die Personen, hat er wohl Recht. Eigenartiger Weise ist er bei Boris Jelzin ziemlich zurückhaltend, warum auch immer. Der persönliche Verrat ist aber wohl nur die halbe Wahrheit. Ohne die Schuld von Gorbatschow, Jakowlew, Medwedjew, Schewardnadse und anderen kleinzureden, muss man erkennen, dass es doch tiefere 4

Gründe gab, die dieses Sozialismus-Modell den Menschen als nicht mehr zeitgemäß erscheinen mochte. Wir haben doch in der DDR auch nicht aus Feigheit zunächst Honecker abgelöst und dann nichts mehr unternommen, was diesen DDR-Sozialismus hätte retten können. Wir sahen darin doch letztlich keinen Wert mehr, oder falls wir ihn doch erblickten, keine Möglichkeit mehr unter den Bedingungen einer gespaltenen Nation und des verlorenen Rückhalts in der Sowjetunion, ihn zu verteidigen. Am 01.12.1989 kam ich morgens in die Volkskammertagung und wurde von einer Vorlage meiner Genossen überrascht, die führende Rolle der SED aus der DDR-Verfassung zu streichen. Ich kam von einem Besuch im Kreis Schwarzenberg, wo ich erlebt hatte, dass die Partei (vor allem ihr Apparat) schon nichts mehr zu sagen hatte. Die Autoren der Gesetzesvorlage sahen zu diesem Zeitpunkt darin aber noch die mögliche Rettung der DDR. Als einziger habe ich mich zum Unverständnis vieler im Kreise des Staatsrats sitzend gegen diese ad hoc-entscheidung der Stimme enthalten, nicht weil ich die führende Rolle der SED per se verteidigen wollte, sondern weil ich solches aktionistisches Tun für eine Verarschung des Volkes hielt und glaubte wohl auch noch wie Ligatschow daran, dass es eher um die richtige Ausübung der führenden Rolle ging. Ein Irrtum? Ja! Auch ist es doch kein historischer Zufall, dass fast gleichzeitig in allen sozialistischen Ländern mit Ausnahme von China, Vietnam und Kuba dieses Gesellschaftssystem implodierte. Das ist doch die Wahrheit, auf die Ligatschow leider nicht eingeht. Nochmals: Schade! Zumal es interessant ist, dass es diesen Parteien bislang gelungen ist, ihre führende Rolle bei der gesellschaftlichen Entwicklung zu behaupten. Ligatschows Buch beruhigt aber auch. Er beantwortet uns sehr gut die Frage, ob wir in der DDR und in der SED noch eine Chance gehabt hätten, wenn wir unsere Probleme früher erkannt und Lösungen angeboten hätten. Die historische Antwort lautet eindeutig: Nein! Stalins Sozialismus-Konstrukt und die allwissende Partei und deren Machtmonopol waren tot, wahrscheinlich für immer! Man kann nur hoffen, dass alles das, was die internationale Arbeiterbewegung seit Marx und Engels trotz allem in die Welt eben auch in der Sowjetunion und in der DDR an Ideen eingebracht hat, nicht völlig vergessen wird. Die Ideen der sozialen Gerechtigkeit, die gesellschaftliche Verwaltung von Eigentum, die Bildung für alle, die Sicherheit des Arbeitsplatzes, die Verachtung der Gewalt in internationalen Beziehungen, die Solidarität zwischen den Völkern und die Verachtung für Rassenwahn und Diskriminierung, die Gleichberechtigung der Frauen und etliches andere, das sind heute Themen der gesellschaftlichen Auseinandersetzung von Gewicht, um die keine Gesellschaft mehr herumkommt. Eberhard Aurich 18.02.2013 Jegor Ligatschow: Wer verriet die Sowjetunion, Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2012, 320 Seiten, 16,95 Euro. 5