1956-2006 50 Jahre. Brunau-Stiftung



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Transkript:

1956-2006 50 Jahre Brunau-Stiftung

Integration ist immer das Resultat einer Zusammenarbeit mehrerer beteiligter Personen und nie eine Einzelleistung. Daniel Frick, ehemaliger Lernender der Brunau-Stiftung

Inhalt Zum Geleit: Stiftungsratspräsident Dr. Dieter Sigrist 2 Fotos Schneeligut 3 Berufliche Integration im Wandel der Zeit,Vorwort von Bruno Frei 4/5 50 Jahre Brunau-Stiftung auf einen Blick 6/7 Die Gründungsgeschichte der Brunau-Stiftung 8 Die Lochkartenstation Brunau 9 Fotos Lochkartenstation 10/11 Entwicklung zum Kaufmännischen Lehrbetrieb 12 Franz Imhof und das Bürozentrum Wiedikon 13 Fotos 1965-1975 14/15 Die Begriffe Behinderung und Berufliche Integration 16/17 Fotos Kinderlähmung 18/19 Vom Ausbildungszentrum zum Kaufmännischen Dienstleistungsbetrieb 20 42 Jahre Tätigkeit in der Brunau - Interview mit Marianne Federer 21 Fotos 1975-1995 22/23 Der Weg ins Erwerbsleben - Interview mit Daniel Frick 24 Leben mit einer Hörbehinderung - Interview mit Dalia Casucci 25 Fotos 1995-2004 26/27 Brunau heute und morgen 28 Behinderungsarten 29 Fotos Brunau-Stiftung 2005 30/31 Leitbild 32/33 Der Fussball-Club der Brunau-Stiftung 35 Fotos FC Brunau 34 Anhang: Brunau-Stiftung in Kürze 36 Anhang: Eckdaten 37 Gründerportrait Dr.Walther Stampfli 38 Versuch mit geschützten Arbeitsplätzen für Sehbehinderte 39 Danksagung 40 50 Jahre Brunau-Stiftung

2 Zum Geleit Es begann im Jahre 1956. Engagierte Persönlichkeiten ohne Behinderung setzten sich in einer besonderen Art für jene mit Behinderung ein: Sie gründeten mit ein wenig Material - einigen Einrichtungen der Lochkartenstation der Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft zur Eingliederung Behinderter in die Volkswirtschaft und praktisch ohne Geld die Brunau-Stiftung. Deshalb lautet der Titel dieses kleinen Werkes «50 Jahre Brunau- Stiftung». Wenn eine Institution 50 Jahre alt wird, sie in dieser Zeit in stetiger Entwicklung zu einem wichtigen Glied in der Ausbildungslandschaft geworden ist und ihren Platz in der Wirtschafts- und Ausbildungswelt gesucht und gefunden hat, so darf das Anlass für einen Rückblick auf die Geschichte und für einen Ausblick auf Aspekte der Ausbildung von Menschen mit einer Beeinträchtigung sein. In diesen 50 Jahren haben sich die Umweltbedingungen für Behinderte gewandelt und mit ihnen die Stellung der Brunau-Stiftung. Unverändert aber gehört es zu ihren Aufgaben, jenen eine Ausbildung zu verschaffen, mit denen es das Schicksal nicht so gut meinte. Darauf kann auch in Zeiten finanzieller Engpässe des Staates nicht verzichtet werden. So verkörpern die Brunau-Stiftung und die Menschen, die sie beleben, in schöner Weise das Engagement für die Gemeinschaft. Die Brunau-Stiftung leistet einen Beitrag zur Überwindung der ungleichen Verteilung der Schwierigkeiten im Leben. Darum wünsche ich ihr, dass sie sich weiter im Dienste der Behinderten entwikkeln kann und entbiete ihr zum Jubiläum meine Glückwünsche. Den Lesern wünsche ich einen wohl gelungenen Einblick in einen nicht selbstverständlichen Teil der jüngeren Geschichte Zürichs. Dr. Dieter Sigrist Präsident des Stiftungsrates Dr. Dieter Sigrist ist seit 1990 Mitglied des Stiftungsrats und seit 1994 dessen Präsident. Er ist Sekretär verschiedener Wirtschaftsverbände und befasst sich beruflich mit Fragen des Arbeitsverhältnisses und der Sozialpartnerschaft.

3 Schneeligut Das «Schneeligut» war während 41 Jahren Sitz der Brunau-Stiftung mit der Lochkartenstation und mit Wohn- und Esstrakt.

4 Berufliche Integration im Wandel der Zeit Die Anfänge der Brunau waren geprägt von grossem persönlichem Engagement ihrer Initiatoren. Für die körperlich behinderten Menschen konnte die Brunau dank dem guten Beziehungsnetz ihrer Gründerväter und der Unterstützung von namhaften Grossunternehmen Ausbildungs- und Arbeitsplätze im Bürobereich schaffen. Ziel war die berufliche Integration ohne Rente. Eine staatliche Unterstützung gab es nicht. Es existierten bloss Werkstätten für Web- und Flechtarbeiten. Die Brunau gehörte daher zur ersten rein kaufmännischen Ausbildungsstätte für körperlich beeinträchtigte Menschen. Die Finanzierung erfolgte mittels grosszügiger privater Spenden sowie den Einnahmen aus Arbeitsaufträgen. Erst mit der Einführung der Invalidenversicherung 1960 änderte sich das. Die Geschichte der Brunau ist eng mit der Entwicklung des Bürozeitalters sowie der sich stark veränderten Arbeitswelt und der gesellschaftlichen Entwicklung verbunden. Während des Lochkartenzeitalters bis 1970 bot die Brunau körperlich behinderten jungen Menschen Arbeits- und Ausbildungsplätze an. Die Wirtschaft offerierte gute Aufträge für die Bearbeitung von Lochkarten und war offen, ausgebildete LochkartenstanzerInnen und Operateure der Brunau-Stiftung einzustellen. Das Verständnis für die Integration von körperbehinderten Menschen war damals gross. Sozial denkende Unternehmerpatrons boten Hand oder engagierten sich selbst für eine gute Sache. Das Zeitalter der Elektronik (Schreibmaschine, Schreibautomaten und die elektronische Datenverarbeitung) löste schliesslich die Lochkarte ab. Seitdem erledigen kaufmännische Arbeitsgruppen Kundenarbeiten im Sekretariats- und Buchhaltungsbereich. Mit dem Computerzeitalter ab Mitte der 80er Jahre bildete unsere Institution ihre Büro- und KV-Lehrlinge fortlaufend an den gängigen PC-Programmen aus. Schliesslich wurde mit der 1997 vorgenommenen Verlegung des Lehrbetriebes in die Gewerbezone die Informatik mit rund 80 Workstations komplett erneuert und vernetzt. Die Brunau-Stiftung hat in ihrer Entwicklung stets vorausgeschaut und Visionen realisiert. Daraus entstanden neue Betriebe wie die Rechenzentrum Brunau AG (heute insite AG) oder das Bürozentrum Wiedikon (heute Stiftung Espas), welche seit Jahren selbstständige Unternehmen sind.

5 Mit dem Zeitalter der Automatisierung, Computerisierung und Rationalisierung sind die Anforderungen an Arbeitnehmende laufend gestiegen. Die vermehrte Betonung von Shareholder-Value und stetiger Gewinnoptimierung sind Ausdruck einer neuen Schnelllebigkeit, die sich im laufenden Auf- und Abbau von Bürojobs äussert. Viele Arbeitnehmende mögen diesem permanenten Druck nicht standhalten. Sie resignieren, werden arbeitslos, psychisch krank und schliesslich arbeitsunfähig.andererseits haben sich Erziehung und Gesellschaftswerte verändert. Neue Familienstrukturen, Ausländerintegration sowie die beträchtlich ansteigende Zahl von psychisch beeinträchtigten Jugendlichen und Mehrfachbehinderten (physisch und psychisch) sind als weitere Herausforderungen dazugekommen. Die Einführung der Invalidenversicherung im Jahr 1960 war eine grosse Errungenschaft. Seither hat sich der Integrationsaufwand von Menschen mit Behinderungen weiter erhöht. Um die Anzahl IV-Rentner zu reduzieren, sind künftig noch grössere Anstrengungen notwendig. Die Verschuldung der IV hat sich bis Ende 2005 auf fast 7,8 Milliarden Franken erhöht. Der Spardruck auf die IV und Behinderteninstitutionen ist enorm. Die 5. IV- Revision soll mittel- und längerfristig eine Erleichterung bringen. Auch wenn wir uns manchmal noch mehr Stellen für AbsolventInnen wünschten: Die Unternehmen in der Schweiz beschäftigen ohne gesetzliche Quoten mehr Behinderte als in anderen europäischen Ländern. Neue Ideen sind gefragt. Die Mehrkosten für die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungen müssen gemeinsam von Staat und Wirtschaft getragen werden. Nur so kann das Ziel der Rentenverminderung und der besseren Eingliederung erreicht werden. Auf die vergangenen 50 Jahre darf die Brunau-Stiftung mit Stolz zurückblicken.viele Menschen konnten dank ihrem Wirken in die Wirtschaft integriert werden. Trotz dem heute schwierig gewordenen wirtschaftlichen Umfeld kann die Brunau-Stiftung zuversichtlich in die Zukunft schauen. Ihr langjähriges Know-how und ihr engagiertes Team sind wichtige Fundamente für die weitere Entwicklung. An dieser Stelle sei allen Personen gedankt, welche mit ihrem Engagement die Geschichte der Brunau-Stiftung mitgeprägt haben. Bruno Frei, Geschäftsführer

50 Jahre Bru 6 Einführung der AHV Gründung der Arbeitsgemeinschaft für die Eingliederung Behinderter (SAEB) Eröffnung der Lochkarten- Station im Schneeligut Gründung der Brunau-Stiftung mit Eintrag im Handelsregister Einführung der Poliomyelitits- Impfung, die zum Rückgang der Kinderlähmung führt Anerkennung der Brunau-Stiftung als offizielle Berufsbildungsanstalt Einführung der Invalidenversicherung Erster KV-Lehrling beginnt Ausbildung in der Brunau Ausbau der Brunau-Stiftung zum kaufmnännischen Lehrbetrieb Schliessung der Lochkartenstation 1948 1951 1953 1956 1957 1959 1960 1963 1968 1970 Dr. Walther Stampfli Alt-Bundesrat, Mitbegründer Brunau- Stiftung, Mitinitiator der IV Dr. Fritz Nüscheler SAEB-Sekretär und Mitbegründer Brunau-Stiftung Walter Buchmann Umwandler der Lochkartenstation zum kfm. Lehrbetrieb

nau-stiftung 7 2jährige Bürolehre wird ergänzend zur 3-jährigen KV-Lehre angeboten Einführung eines 1jährigen Vorkurses Gründung Bürozentrum Wiedikon mit geschützten Arbeitsplätzen Letzte Kinderlähmung in der Schweiz Verkauf des Anteils am Rechenzentrum Brunau AG Gründung der Stiftung ESPAS Umbau Betrieb und Wohnhaus Umzug Lehrbetrieb an die Edenstrasse Erlangen der ZEWO-Zertifizierung Einführung Neue Kaufmännische Grundausbildung (NKG) Brunau-Stiftung erhält die ISO 9001: 2000-Zertifizierung Ausbildungszentrum Brunau wird Brunau-Stiftung 1973 1975 1982 1982 1990 1994 1996 1997 1999 2003 2003 2005 Franz Imhof Begründer Bürozentrum Wiedikon Giovanni Cavenaghi Geschäftsführer, Mitbegründer Bürozentrum Wiedikon Dr. Dieter Sigrist Stiftungsrat seit 1990, ab 1994 Präsident Bruno Frei Geschäftsführer Brunau-Stiftung seit 1994

Die Gründungsgeschichte der Brunau-Stiftung Die Entstehung der Brunau-Stiftung als «Institution zur beruflichen Eingliederung Behinderter» ist eng verbunden mit der Geschichte der Invalidenversicherung, die seit ihrer Einführung 1960 das Prinzip «Eingliederung vor Rente» verfolgt und Bemühungen zur beruflichen Integration unterstützt. Dieselbe Persönlichkeit, die bei der Gründung der Invalidenversicherung eine treibende Kraft war, übernahm auch in der Entstehung der Brunau-Stiftung eine wichtige Funktion: Alt-Bundesrat Dr. Walther Stampfli. Als Vater einer Tochter mit cerebralen Lähmungen setzte er sich intensiv für die Verbesserung der Situation Behinderter ein. Noch vor der Einführung der Invalidenversicherung wurde am 23. Mai 1951 die «Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für die Eingliederung Behinderter» (SAEB) unter dem Präsidium von Dr.Walther Stampfli gegründet, ein Zusammenschluss von Organisationen, die sich mit der Beschäftigung von Behinderten befassten. In den ersten «Behinderten-Werkstätten» wurden vor allem Web- und Flechtarbeiten ausgeführt.von Ernst Egli, einem PTT-Inspektor und Ehemann einer von Poliomyelitits betroffenen Frau kam die Idee, Behinderte in den damals modernen Beruf des Lochkartenstanzens einzuführen. Der Beruf war geeignet für Behinderte, da er in sitzender Tätigkeit ausgeführt werden konnte. Im Gegensatz zu den traditionellen «Behindertenberufen» bot er ausserdem einen angemessenen, existenzsichernden Verdienst. Die Idee wurde aufgegriffen und noch unter dem Präsidium von Alt-Bundesrat Stampfli entstand innerhalb der SAEB eine Lochkartenstation. Sie wurde am 15. April 1953 an der Seestrasse 161, im so genannten «Schneeligut» eröffnet und von Albrik Lüthi, dem späteren Sektionschef für Eingliederung bei der Schweiz. Invalidenversicherung erfolgreich geführt. Sie trug die Bezeichnung «Anlehrstation, eine Ausbildungsstätte für Behinderte zum Beruf des Lochkartenstanzers». Die IBM stellte zu günstigen Bedingungen die Lochkartenmaschinen zur Verfügung und die PTT sorgte für erste Aufträge. Die Lochkartenstation im Schneeligut arbeitete sehr erfolgreich, so dass beschlossen wurde, sie aus der SAEB auszugliedern und als unabhängige Stiftung zu führen. Das war die Geburtsstunde der Brunau-Stiftung. Offiziell wurde sie am 12. Dezember 1956 gegründet und im Handelsregister eingetragen. Den Namen erhielt sie von der dem Schneeligut nächstgelegenen Tramstation: Brunau. Nach einem Übergangspräsidium durch Dr. Martin Tromp übernahm Alt-Bundesrat Stampfli, Mitinitiator der Invalidenversicherung das Präsidium der Brunau-Stiftung. Erster Geschäftsführer der Brunau-Stiftung war Dr. Fritz Schenkel, der eng mit Alt-Bundesrat Stampfli und dem damaligen SAEB-Sekretär Dr. Fritz Nüscheler zusammenarbeitete. Fritz Nüscheler spielte fortan eine wichtige Rolle in der Entwicklung der Brunau-Stiftung. Als Sekretär der SAEB und Freund von Stampfli fühlte er sich für das Wohlergehen der Brunau verantwortlich. Die ersten Jahre der Brunau-Stiftung waren schwierig und von personellen Differenzen geprägt. Erst mit Walter Buchmann, der am 1. Dezember 1962 die Geschäftsführung der Brunau- Stiftung übernahm, kehrte Ruhe in den Betrieb ein. Die Konsolidierung hatte einerseits mit der Person von Walter Buchmann zu tun, der viel Erfahrung in der beruflichen Anlehre von Behinderten mitbrachte, andererseits aber auch mit der Einführung der Invalidenversicherung 1960, welche in finanzieller Hinsicht eine starke Verbesserung mit sich brachte. 50 Jahre Brunau-Stiftung

Die Lochkartenstation Brunau 9 Hauptaufgabe der Brunau-Stiftung war schon damals die Ausbildung von körperlich behinderten Menschen und deren Eingliederung in den regulären Arbeitsmarkt. Das Lochkartenstanzen war zu jener Zeit eine sehr gefragte Tätigkeit, die auch von Behinderten gut ausgeführt werden konnte. Die Brunau-Stiftung war damals führend auf dem Gebiet des Lochkartenstanzens und zählte viele wichtige Firmen zu ihren Auftraggebern, darunter IBM, PTT, Radio und mehrere AHV-Zweigestellen. Die Auftragsauslastung war sehr gut. Für das Radio beispielsweise wurden alle Neukonzessionäre erfasst, für die PTT-Telefonnummern sowie Gebühren und für die AHV-Zweigestellen deren Mitglieder. Gut ausgebildete Stanzer und Stanzerinnen waren damals auf dem Stellenmarkt gesucht, so dass die Berufsaussichten der LehrabgängerInnen sehr gut waren. Die Brunau vermittelte in den 50er- und 60er-Jahren jährlich etwa 20-30 LehrabgängerInnen an die Wirtschaft. Durch Übernahme der Ausbildungskosten durch die IV konnte das Ausbildungsangebot um kaufmännischen Zusatzunterricht erweitert werden. Unterricht wurde erteilt in Maschinenschreiben, Stenografie, Deutsch, kaufmännisches Rechnen (Buchhaltung) und Algebra. Der Erfolg in der Ausbildung und Integration körperlich behinderter Menschen führte dazu, dass die Brunau-Stiftung 1959 die Anerkennung als offizielle Berufsbildungsanstalt durch die Volkswirtschaftsdirektion des Kantons Zürich erhielt, noch vor Einführung der Invalidenversicherung. Lochkartenstanzen Lochkarten sind Datenträger, die durch ihre einheitliche Struktur maschinell sortiert und abgelegt werden konnten, wodurch die Verwaltung der Daten erleichtert wurde. Das Lochen oder Stanzen der Karten erfolgte an einem der Schreibmaschine ähnlichen Bürogerät und konnte in sitzender Tätigkeit ausgeführt werden, was für Behinderte geeignet war. Für die Funktion der Datenträger war es wichtig, dass die Daten fehlerfrei erfasst wurden. Damit das gewährleistet war, wurde ein zusätzlicher Arbeitsgang eingeführt: das Prüfen. Beide Tätigkeiten erforderten eine hohe Konzentrationsfähigkeit. Der Lärm, den die Maschinen verursachten, war beträchtlich und entsprach etwa dem in einem Websaal der Textilindustrie, eine nicht unerhebliche Arbeitsbelastung also. Das Salär der LochkartenstanzerInnen, meist Frauen, betrug 1964 CHF 500. bis 1000. pro Monat, was einem durchschnittlichen Salär der kaufmännischen Hilfsberufe entsprach. Zum Vergleich Programmierer verdienten zur damaligen Zeit CHF 1000. bis 1500.. Neben den meist weiblichen Lochkartenstanzerinnen wurden in der Brunau auch Operateure und Programmierer ausgebildet, die ihrerseits meist männlich waren. Die Aufgabe der Operateure war es, die Daten auf verschiedene Weise weiterzuverarbeiten. Dazu standen ihnen verschiedene Maschinen zur Verfügung: eine Sortiermaschine, eine Tabelliermaschine, ein automatischer Reproduzierlocher, ein Rechenlocher und ein Beschrifter. Die Steuerung der Maschinen erfolgte über eine Schalttafel. Die Programmierer schliesslich hatten die Aufgabe, Programme für die elektronische Datenverarbeitung zu entwickeln. Durch eine enge Zusammenarbeit mit IBM war es der Brunau möglich, frühzeitig in die elektronische Datenverarbeitung einzusteigen. Daraus entwickelte sich das Brunau- Rechenzentrum, das später in ein eigenes Unternehmen, die Rechenzentrum Brunau AG umgewandelt und schliesslich verkauft wurde. Die Firma existiert heute noch unter dem Namen insite AG. Die Ausbildung zum Programmierer stellte hohe Anforderungen an die Lernenden was Intelligenz und psychische Belastbarkeit betraf und konnte nur von wenigen erfüllt werden. 50 Jahre Brunau-Stiftung

Lochkartenstation Brunau

1956 bis 1968 wurden in der Brunau-Stiftung vor allem Lochkartenstanzer und Lochkartenstanzerinnen ausgebildet.

Entwicklung zum kaufmännischen Lehrbetrieb Gleichzeitig zur Entwicklung der elektronischen Datenverarbeitung wurden die kaufmännischen Ausbildungen immer wichtiger. Der erste KV-Lehrling der Brunau besuchte ab 1963 die kaufmännische Berufsschule und arbeitete im internen Sekretariat. Bevor der Besuch der kaufmännischen Berufsschule zum Standard wurde, arbeiteten die Lernenden mit Unterstützung von internen Lehrern den kaufmännischen Grundkurs der AKAD durch, den sie mit einer Prüfung abschlossen. Ab 1968 besuchten dann alle kaufmännischen Lehrlinge die reguläre Berufsschule. Zu dieser Zeit entstanden auch die ersten Sekretariatsgruppen, wie sie heute noch für die Brunau typisch sind. Die Lernenden führen in externem Auftrag und unter Leitung einer Fachperson verschiedene Sekretariats- und Buchhaltungsarbeiten aus, um möglichst praxisnahe Berufserfahrung zu sammeln. Ab 1970 bildete die Brunau jährlich 40-60 Lernende aus. Mit dem Ausbau der kaufmännischen Ausbildungen schwand die Bedeutung der Lochkartenabteilung, bis sie schliesslich ganz aufgehoben wurde. Im Bereich der kaufmännischen Ausbildungen wurden ab 1973 zusätzlich zur 3jährigen KV-Lehre die 2jährige Bürolehre und die 1-2jährige Büroanlehre nach Berufsbildungsgesetz angeboten. Während die Bürolehrlinge die kaufmännische Berufsschule besuchten, erhielten die Büroanlehrlinge internen Schulunterricht. Dieses Angebot wurde später noch durch ein 1jähriges kaufmännisches Vorbereitungsjahr erweitert und war bis zur Einführung der neuen kaufmännischen Grundausbildung massgebend. Beide Ausbildungsangebote ermöglichten auch leistungsschwächeren Lehrlingen, eine kaufmännische Ausbildung zu absolvieren. Leistungsstarke Bürolehr-AbsolventInnen hatten zudem bis 2006 die Möglichkeit, mit einer 2jährigen Zusatzlehre den KV-Abschluss zu erlangen. Damit entsprach das Ausbildungsangebot von 1975 etwa dem heutigen. Auch die Anzahl der Ausbildungsgruppen war dieselbe, nämlich sechs. Die Lernenden wechselten wie heute halbjährlich die Arbeitsgruppe. Während dieser Entwicklungen ergaben sich auch im personellen Bereich Änderungen.Walter Buchmann, der von 1962-1982 Geschäftsführer der Brunau war, übernahm die Leitung der Eingliederungsstätte Appisberg in Männedorf. Unter seiner 20jährigen Leitung entwickelte sich die Brunau von der Lochkartenstation zu einem kaufmännischen Ausbildungszentrum, das Menschen mit vielfältigen Behinderungen eine Berufsausbildung ermöglichte. Sein Nachfolger wurde Giovanni Cavenaghi, der viel Erfahrung aus der IV-Berufsberatung und ein grosses Verständnis für die Anliegen der Behinderten mitbrachte. Unter seiner Führung konnten auch Menschen mit komplexen Hirnverletzungen in der Brunau eine Umschulung absolvieren. Auch im Stiftungsrat gab es laufend Veränderungen. 1964 übernahm Dr. Hans Farner und 1975 Dr. Hans Egli das Präsidium der Brunau-Stiftung, gefolgt von Dr. Walter Nüscheler 1985, der bereits bei der Gründung der Brunau-Stiftung eine wichtige Rolle spielte. Während 24 Jahren, von 1970 bis 1994 war auch Dr. Emilie Lieberherr, Stadträtin und beliebte Sozialpolitikerin im Stiftungsrat vertreten. 50 Jahre Brunau-Stiftung

Franz Imhof und das Bürozentrum Wiedikon Eine der charismatischsten und für die Geschichte der Brunau entscheidenden Persönlichkeiten war Franz Imhof. Er trat Ende der 70er Jahre als Lehrling in die Brunau ein. Infolge einer schwer verlaufenden Poliomyelitits (Kinderlähmung) war er sehr stark behindert. Lebensbedrohlich erkrankt, überlebte er als Kind nur dank der Eisernen Lunge, einer Art Metallsarg, der die Funktionen der Lunge auf mechanische Art kompensierte. Viele mit einem ähnlichen Schicksal überlebten diese Tortur nicht. Auch Franz Imhof blieb ein Leben lang stark behindert.während er zu Beginn seiner Tätigkeit in der Brunau noch relativ mobil war, verschlechterten sich seine Lähmungserscheinungen zunehmend. Am Ende war er fast vollständig gelähmt und konnte seinen Rollstuhl mit einem Fuss nur noch wenig vor- und zurückschieben. Mit seinem starken Willen und seiner grossen Intelligenz gelang es ihm trotz seiner Behinderung, eine 3jährige kaufmännische Ausbildung zu absolvieren. Infolge seiner starken Behinderung kam es für ihn jedoch nicht in Frage, auf dem regulären Arbeitsmarkt angestellt zu werden. Der damalige Geschäftsleiter Walter Buchmann hatte viel Verständnis für Franz Imhof und schätzte seine Initiative. Er ermöglichte ihm, in der Brunau als Gruppenleiter tätig zu sein. Die Tatsache, dass nicht alle LehrabgängerInnen der Brunau in der Wirtschaft integrierbar waren, bewegte Franz Imhof, sich für geschützte Arbeitsplätze innerhalb der Brunau stark zu machen. Schliesslich entstand daraus die Idee, eine eigene kaufmännische Dauerarbeitsstätte für nicht integrierbare Behinderte zu schaffen, die 1982 an der Brinerstrasse 1 in Zürich Wiedikon realisiert wurde und den Namen Bürozentrum Wiedikon erhielt. Mit der Gründung des Bürozentrums Wiedikon als geschützte Werkstätte erhielt der Lehrbereich der Brunau-Stiftung den Namen Ausbildungszentrum Brunau. Dritter im Bunde war das Rechenzentrum Brunau, das zu dieser Zeit bereits von einer externen Firma (Benz & Benz AG) geführt wurde. Dank dem grossen Einsatz von Franz Imhof und einer guten Auftragslage konnte das Bürozentrum rasch vergrössert werden. Ein Umzug in grössere Räumlichkeiten drängte sich auf, die schliesslich in Zürich-Höngg gefunden wurden. Die Finanzierung war durch den Verkauf des Rechenzentrums Brunau an Benz & Benz gesichert. Mitten in diesen Vorbereitungen starb Franz Imhof ganz plötzlich. Das war für alle ein Schock, da er einer der wichtigsten Drahtzieher dieses Unternehmens war. Der Umzug fand trotzdem statt. Kurt Egli, der Stellvertreter von Franz Imhof, führte sein Werk fort. Das Bürozentrum wuchs weiter und wurde so gross, dass 1994 beschlossen wurde, daraus eine unabhängige Stiftung zu gründen. Sie erhielt den Namen ESPAS. Der bisherige Stiftungsrat wurde aufgesplittet. Der Stiftungsratspräsident der Brunau-Stiftung, Thomas Fehr übernahm das Präsidium der ESPAS. Sein Nachfolger in der Brunau-Stiftung wurde Dr. Dieter Sigrist. ESPAS entwickelte sich in den 11 Jahren ihres Bestehens zu einer grossen Behindertenarbeitsstätte mit bis zu 300 Mitarbeitern und Filialen in Winterthur und Richterswil. 50 Jahre Brunau-Stiftung

1965 bis 1975

Ab 1968 wurden die kaufmännischen Ausbildungen stark ausgebaut. Die Brunau-Stiftung entwickelte sich zu einem rein kaufmännischen Lehrbetrieb.

16 Der Begriff der Behinderung In der Schweiz gelten etwa 10% der Menschen als behindert. Das entspricht 700'000 Menschen mit einer körperlichen, geistigen oder psychischen Beeinträchtigung. Behinderung ist jedoch nicht gleichzusetzen mit Invalidität. In der Schweiz gehen 44% der Frauen und 61% der Männer einer Erwerbstätigkeit nach. Sucht man in der Literatur nach einer Definition des Begriffs Behinderung, stösst man auf verschiedene Möglichkeiten, von denen hier drei erwähnt seien: (1) Die erste Definition geht vom Begriff der Normalität aus. Demnach handelt es sich bei einer Behinderung um eine funktionale Einschränkung bezüglich der Normen und Anforderungen der Gesellschaft. Der Begriff der Norm jedoch ist ein relativer Begriff, der von historischen, kulturellen und gesellschaftlichen Begebenheiten abhängt und einem stetigen Wandel unterworfen ist. Er bezieht sich immer auf das Mittelmass einer gesellschaftlichen Gruppierung. Abweichungen von diesem Mittelmass werden als anormal bezeichnet. Daraus könnte abgeleitet werden, dass auch ein hochbegabter Mensch in einem gewissen Sinn behindert ist, was unsinnig ist. (2) Andere Vorstellungen gehen vom Begriff des idealen Menschen aus, der in seinen Funktionen völlig fehlerfrei ist. Es ist klar, dass kein Mensch einem solchen Ideal entspricht, sondern jede Person Defizite aufweist. Diese Betrachtungsweise hat ihre Berechtigung und findet sich oft bei Behindertenorganisation. Sie hilft aber dann nicht weiter, wenn es um Leistungen der Sozialversicherungen und Ähnliches geht. (3) Heute am besten anerkannt ist die Definition der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die auch von Versicherungsgesellschaften angewandt wird. Demnach gilt jemand als behindert, wenn folgende Kriterien erfüllt sind: - Beeinträchtigung/Schädigung (impairment) von Körperfunktionen und -strukturen - Einschränkung (disability) bei alltäglichen Verrichtungen - Behinderung/Nachteile (handicap) aus der Beeinträchtigung - Dauerhaftigkeit der Beeinträchtigung Gemäss den Zahlen der Invalidenversicherung steigt die Zahl der IV-Bezüger jährlich stark an. Das bedeutet nicht, dass heute mehr Menschen behindert oder krank sind, sondern dass mehr Menschen den Anforderungen des Erwerbslebens nicht mehr gewachsen sind. Heute gelten viele Menschen als behindert, die früher noch nicht unter diesen Begriff fielen. Es sind die gestiegenen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Ansprüche, denen sie nicht mehr genügen. 50 Jahre Brunau-Stiftung

Der Begriff der beruflichen Integration 17 Der Begriff der Integration ist mehrschichtig und umfasst die berufliche, wirtschaftliche und soziale Einbettung des Menschen in der Gesellschaft und dessen Selbstständigkeit. Er gilt für alle Menschen gleichermassen. Jede Erziehungs- und Ausbildungsarbeit dient letztlich dazu, den Menschen zu einem «gesellschaftlich angepassten» und für sich selbst sorgenden Erwachsenen zu machen. Ein Mensch ist integriert, wenn er in ein soziales und privates Netzwerk eingebunden ist und wirtschaftlich für sich selbst sorgen kann. Heute wird der Begriff vor allem auf Situationen angewendet, in denen ein Mensch in irgendeiner Weise in seiner gesellschaftlichen Integration eingeschränkt ist oder vorübergehend die Integration eingebüsst hat, beispielsweise durch Arbeitslosigkeit oder Krankheit. Fehlende Integration in beruflicher, sozialer oder privater Hinsicht ist immer belastend und verursacht Unsicherheiten. Ausserdem besteht die Gefahr, dass der Mensch vom Staat abhängig wird. Der Staat hat daher ein besonderes Interesse, die Integration seiner Bürger zu fördern. Das war nicht immer so. Bis zur Einführung der Sozialversicherungen (Invalidenversicherung, Arbeitslosenkasse, AHV) waren Menschen in sozial schwierigen Situationen auf sich selbst gestellt, von ihrer Familie oder von Almosen abhängig. Die Armutsgefährdung war ungleich viel höher. Vor der Einführung der AHV im Jahr 1948 galt das auch für betagte Menschen. Für Menschen mit Behinderungen änderte das erst mit der Einführung der Invalidenversicherung 1960. Seither besitzt jeder Mensch in der Schweiz mit einer angeborenen oder erworbenen Behinderung das Recht auf eine von der IV finanzierte und den Bedürfnissen angepasste Ausbildung bzw. Umschulung, sowie eine IV-Rente zur Sicherung der Existenz. Das Angebot an Ausbildungen, Umschulungen und Weiterbildungen für Menschen mit einer angeborenen oder erworbenen Invalidität ist in der Schweiz sehr gut. Trotzdem bestehen grosse Schwierigkeiten in der Eingliederung behinderter Menschen auf dem primären Arbeitsmarkt. Nur gerade 8% der Betriebe beschäftigen behinderte Mitarbeiter, wobei der Prozentsatz mit der Grösse der Firma und der Branche variiert. Während öffentliche Verwaltungen zu 39% mind. einen behinderten Mitarbeiter beschäftigen, beträgt der Anteil im Gastgewerbe nur gerade 5%. In Umfragen geben 31% der befragten Betriebe an, dass die Anstellung eines behinderten Mitarbeiters in ihrem Unternehmen prinzipiell möglich sei. D.h. 23% der Firmen, welche die Möglichkeiten zur Anstellung eines behinderten Mitarbeiters hätten, tun es nicht. Dieses Potential gilt es, durch geeignete Massnahmen auszuschöpfen. Durch verstärkte Information der Firmen über unterstützende Massnahmen von Seiten der IV, Nachbetreuungskonzepte und intensive Vermittlungstätigkeit sollte es möglich sein, den Anteil der Firmen, welche behinderte Mitarbeiter beschäftigen, zu erhöhen (aus der Studie des BSV «Die berufliche Integration behinderter Personen in der Schweiz» vom März 2004). 50 Jahre Brunau-Stiftung

18 Kinderlähmung

In der Anfangszeit der Brunau-Stiftung war die Kinderlähmung eine der häufigsten Behinderungsarten. Sie verschwand mit der Einführung der Poliomyelitis-Impfung. 19

Vom Ausbildungszentrum Brunau zum Kaufmännischen Dienstleistungsbetrieb Seit 1994 wird das Ausbildungszentrum Brunau von Bruno Frei geführt, der das Amt von Giovanni Cavenaghi übernahm. Während seiner bisher 12jährigen Tätigkeit erfuhr das Ausbildungszentrum Brunau nochmals einen starken Wandel.Als Betriebswirtschafter kannte Bruno Frei die Bedürfnisse und Anforderungen der Wirtschaft gut. Die zunehmend schwieriger gewordene Arbeitsplatzsituation in den 90er Jahren und die höheren Anforderungen an die Arbeitnehmer machten auch vor unseren Lehrabgängern nicht halt. Die Zeichen der Zeit wurden erkannt und so wandelte sich die Brunau-Stiftung ab 1994 sukzessive zu einer modernen sozialen Institution, in der sich betriebswirtschaftliche Grundsätze und soziales Gedankengut erfolgreich ergänzten. Mit dem Umzug vom Schneeligut ins Bürogebäude an der Edenstrasse 20 wurde dieser Wandel auch äusserlich vollzogen. 1999 erlangte die Brunau-Stiftung ausserdem die für Sozialinstitutionen wichtige ZEWO-Zertifizierung. In der Ausbildungsarbeit äusserte sich das in einer Philosophie des «Förderns und Forderns». Die Lernenden werden in ihrer Ausbildung trotz körperlichen Beeinträchtigungen nicht geschont, sondern in ihren Fähigkeiten und in ihrer Leistungsbereitschaft gefördert und gefordert. Eine Hilfe, die mehr auf die Leistungsfähigkeit als auf die Behinderung ausgerichtet ist, zahlt sich längerfristig mehr aus, so die Philosophie des Betriebes. Das Selbstbewusstsein der Lernenden wird gestärkt und die Chancen auf dem Arbeitsmarkt erhöht. Mit individuellem Stützunterricht und anderen Fördermassnahmen wird aber auch der Behinderung Rechnung getragen, wo das nötig ist. Die Neue Kaufmännische Grundausbildung (NKG), die 2003 gesamtschweizerisch eingeführt wurde, bedeutete für die Brunau-Stiftung eine weitere Herausforderung. Wesentlichste Änderung zur alten kaufmännischen Lehre ist, dass auch die Arbeit der Lernenden im Betrieb bewertet wird. Das bedeutet eine Aufwertung der Praxisausbildung und schafft ein Gleichgewicht zwischen theoretischen und praktischen Kenntnissen. Die Anforderungen an die BerufsbildnerInnen sind dadurch deutlich gestiegen, da alle Lernenden nach einem differenzierten Beurteilungsverfahren bewertet werden. Die kaufmännische Berufslehre wurde neu in drei Profile mit unterschiedlicher Ausrichtung gegliedert. Im B-Profil (Basisausbildung) liegt der Schwerpunkt vor allem auf kaufmännischen Tätigkeiten mit mehrheitlich ausführendem Charakter. Im E- Profil (Erweiterte Grundbildung) wird mehr Gewicht auf eine selbstständige Arbeitsweise gelegt. Zudem sind die Anforderungen im Bereich der Fremdsprachen höher. Das M-Profil schliesslich (Berufsmatura) unterscheidet sich vom E-Profil hauptsächlich in der höheren schulischen Ausbildung. Die Anforderungen in der Praxisausbildung sind dieselben. Alle drei Ausbildungsrichtungen dauern 3 Jahre. Es besteht auch die Möglichkeit, zwischen den Profilen zu wechseln, wenn die Anforderungen zu hoch bzw. zu tief sind (vgl. auch A-Profil auf Seite 28). 50 Jahre Brunau-Stiftung