BEST OF Otto Brenner Preis 2011. Kritischer Journalismus Gründliche Recherche statt bestellter Wahrheiten



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Transkript:

BEST OF Otto Brenner Preis 2011 Kritischer Journalismus Gründliche Recherche statt bestellter Wahrheiten Preisträger 2011 Begründungen der Jury Prämierte Beiträge Recherche-Stipendien Preisverleihung 2011 Ausschreibung 2012

BEST OF Otto Brenner Preis 2011 Kritischer Journalismus Gründliche Recherche statt bestellter Wahrheiten

INHALT

Vorwort 5 Jupp Legrand Eröffnung 8 Berthold Huber Festrede 16 Prof. Dr. Norbert Lammert Preisträger 2011 1. Preis 29 Volker ter Haseborg, Lars-Marten Nagel Artikelserie über den Gagfah-Skandal 2. Preis 43 Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch, Jörg Schmitt Artikelserie HSH Nordbank-Affäre 3. Preis 61 Ursel Sieber Gesunder Zweifel Otto Brenner Preis Spezial 67 Katja Thimm Vaters Zeit Newcomerpreis 97 Jonathan Stock Peters Traum Medienprojektpreis 113 Sebastian Pantel Artikelserie Jugend und Kriminalität Recherche-Stipendien I 122 Matthias Dell Tea Party Time. Die Rechtsbewegung der Bürger 124 Urs Spindler Eulex-Mission im Kosovo: Ein Rechtsstaat im rechtsfreien Raum Recherche-Stipendien II (Ergebnisse abgeschlossener Stipendien) 128 Marvin Oppong 135 Frank Brunner 140 Gordon Repinski Medienpolitische Tagung der Otto Brenner Stiftung Einführung in die Tagung 156 Jupp Legrand 20 Thesen zum deutschen Medienjournalismus 162 Hans-Jürgen Jakobs 174 Die Jury 180 Daten und Fakten zum Otto Brenner Preis 2011 181 Preisträger 2005-2010 186 Ausschreibung Otto Brenner Preis für kritischen Journalismus 2012 3

VORWORT 4

Das Internet-Portal www.journalistenpreise.de listet aktuell über 420 Preise, die allein im deutschsprachigen Raum jährlich an Journalisten vergeben werden. Unternehmen, Vereinigungen, Verbände und Lobbygruppen, aber auch Privatpersonen, Sponsoren und Stiftungen initiieren Journalistenpreise, prämieren ihre Preisträger und schaffen so Öffentlichkeit für ihr Anliegen. Viele Ausschreibungen kaschieren dabei kaum noch ihre wahren Absichten: statt Qualitätsjournalismus zu unterstützen, wird PR ausgezeichnet. Die noch kurze, aber erfolgreiche Geschichte des Otto Brenner Preises für kritischen Journalismus steht für den Anspruch, nur Beiträge zu prämieren, die in der breiten Masse durch eigenständige und intensive Recherche auffallen, durch die Themenwahl überzeugen und sich durch besondere journalistische Qualität auszeichnen. Die überwältigende Resonanz, auf die die Ausschreibungen zum Otto Brenner Preis seit Jahren stoßen, unterstreicht, dass die professionelle Arbeit der ehrenamtlich tätigen Fach-Jury hohes Ansehen genießt und der Journalistenpreis der Otto Brenner Stiftung eine breite Wertschätzung erfährt. Jeweils über 500 Be werbungen in den vergangenen Jahren sind ein Beleg für den guten Ruf, den sich der Brenner Preis inzwischen erworben hat. Dieses Vertrauen in den Brenner Preis, seine Jury und die Stiftung ist uns Verpflichtung, auch künftig investigative Recherche zu prämieren, hohes jour - nalistisches Können auszuzeichnen und zum Veröffentlichen von unbequemen Wahrheiten in der deutschen Medienlandschaft zu ermutigen. Bewerbungen für den Otto Brenner Preis für kritischen Journalismus 2012 nehmen wir vom 1. April bis zum 31. Juli an. Die Preisverleihung findet am 30. Oktober in Berlin statt. Jupp Legrand, Geschäftsführer der Otto Brenner Stiftung 5

ERÖFFNUNG

Berthold Huber Rede zur Verleihung der Otto Brenner Preise für kritischen Journalismus 2011

Sehr geehrter Herr Bundestags - präsident Prof. Dr. Lammert! Liebe Preisträgerinnen und Preisträger, liebe Gäste der Preisträger, liebe Mitglieder der Preis-Jury, meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, herzlich willkommen zur Verleihung der Otto Brenner Preise 2011 für kritischen Journalismus. 2005 sind wir mit 135 Bewerbungen gestartet, dieses Jahr waren es fast 550. Zum vierten Mal in Folge wurden mehr als 500 Be werbungen eingereicht. Dieses hohe Niveau bedeutet für mich zweierlei: Erstens: Der Brenner-Preis genießt hohe Wertschätzung und hat sich im Reigen der wichtigen Journalistenpreise etabliert. Zweitens: Der Preis hat sein eigenes Profil und ist zu einer Marke geworden. Gründliche Recherche statt bestellter Wahrheiten mit diesem Motto un terstreichen wir, dass wir kritischen Journalismus auszeichnen und keine PR-Ar beiten prämieren. Journalistische Qualität, hartnäckige Recherche, unabhängige Perspektive das sind Kriterien, nach denen die Jury jedes Jahr die Preisträger auswählt. Für unsere Jury gilt: sie hat Profil, sie bündelt Kompetenz, ihre Unabhängigkeit ist unbestritten und ihr Sachverstand führt zu überzeugenden Entscheidungen. Meine sehr geehrten Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist mir eine große Freude, die Mitglieder der Jury begrüßen zu können. Liebe Frau Mikich, herzlich willkommen und ganz herzlichen Dank für Ihre engagierte Mitarbeit in der Brenner - Jury! Frau Mikich, Frontfrau von Monitor, ist seit einigen Wochen auch Leiterin der Programmgruppe Inland des WDR-Fernsehens wie es wohl korrekt im Anstaltsdeutsch heißt. Wir wünschen Ihnen dafür viel Erfolg und freuen uns sehr, dass Sie heute Nachmittag wieder mit Elan und Eleganz durch unsere Preisverleihung führen. Herzlich willkommen, lieber Herr Schumann! Vielen Dank, dass Sie Ihr 8

breites Wissen einbringen und uns an Ihrer großen Erfahrung teilhaben lassen. Herr Schumann sorgt in der Jury mit dafür, dass wir unseren Blick immer wieder auch auf kritische Berichterstattungen zu Finanz- und Wirtschaftsfragen lenken. Lieber Herr Prof. Dr. Prantl! Herzlich willkommen bei der OBS und vielen Dank für Ihr Engagement. Es mag den einen oder anderen stören, mich persönlich freut es aber, dass Sie auch als Mitglied der Chefredaktion noch genügend Zeit finden für Ihre unverwechselbaren Beiträge und kritischen Kommentare auf der SZ-Meinungsseite. Lieber Herr Prof. Dr. Lilienthal! Ich heiße auch Sie herzlich willkommen. Wir sind sehr froh darüber, dass der einzige Professor in Deutschland für ich zitiere die Praxis des Qualitätsjournalismus aktiv und engagiert in der Brenner -Jury mitarbeitet. Lieber Prof. Dr. Thomas Leif! Herzlich willkommen bei der Otto Brenner Stiftung! Vielen Dank dafür, dass Sie sich von Anfang an stark für unseren Preis engagiert haben und entscheidend mit dazu beitragen, dass Newcomer unterstützt und der journalistische Nachwuchs gefördert werden. Verehrte Gäste! Höhepunkt der jährlichen Ausschreibung ist unsere Preisverleihung. Ich freue mich, dass auch wieder zahlreiche Medienvertreter von Redaktionen und Sendern gekommen sind, die heute keine Preise bekommen. Aber besonders freut es uns, dass der journalis - tische Nachwuchs den Brenner-Preis und unsere Preisverleihung zu schätzen weiß. Aus München ist die Kompaktklasse der Deutschen Journalistenschule, die Anfang des Monats ihre Ausbildung begonnen hat, angereist. Ich darf den Leiter der Deutschen Journalistenschule, Herrn Jörg Sadrozinski, und den neuen Jahrgang ganz herzlich im Namen der Stiftung und der Jury begrüßen. Herzlich willkommen! Für die Schülerinnen und Schüler der Evangelischen Journalistenschule hier in Berlin war die Anreise nicht ganz so weit. Aber ich heiße auch sie alle mit ihrem Leiter, Herrn Oscar Tiefenthal, 9

ganz herzlich bei unserer Preisver - leihung willkommen! Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist mir persönlich eine Ehre und für die Stiftung eine Freude, den heutigen Festredner begrüßen zu können. Herr Bundestagspräsident Prof. Dr. Lammert! Ganz herzlich willkommen bei der Otto Brenner Stiftung und unserer diesjährigen Preisverleihung. Erstmals haben wir einen aktiven Politiker um die Festrede gebeten. Dass der oberste Repräsentant des Deutschen Bundestages heute zu uns spricht, ist allerdings kein Zufall. Sie, Herr Lammert, haben sich in den letzten Jahren immer wieder klar und deutlich, pointiert und kritisch zu medienpolitischen Fragen geäußert. So ist zum Beispiel in der Talkshow- Studie der OBS nachzulesen, dass Sie wenig von dem Geplauder in diesen Gesprächsrunden halten. Für Sie das lassen Sie unmissverständlich die Volksvertreter wissen ist der Deutsche Bundestag der zentrale Ort für politische Auseinandersetzungen und das Parlament der öffentliche Platz für das Ringen um politische Entscheidungen nicht die vielen Plauderstunden im Fernsehen. Im Programm des heutigen Abends ist Prof. Lammert als Festredner angekündigt. Er hat uns wissen lassen, dass seine Rede wahrscheinlich nicht durchgängig festlichen Ansprüchen genügen wird. Lieber Herr Lammert, wir haben diesen Hinweis nicht als Bedrohung empfunden. Im Gegenteil: er hat unsere Neugierde auf Ihre Ausführungen nur noch zusätzlich gesteigert. Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, heute Nachmittag stand das Thema Medienkritik im Mittelpunkt unserer Arbeitstagung. Es wurde klar, wie wichtig eine funktionierende Medienkritik nicht nur für die Medien selbst ist, sondern auch für eine lebendige Zivilgesellschaft und das demokratische System insgesamt. Medienkritik ist für mich eine Seite der Medaille, wenn es um Fragen der Qualitätssicherung in unserer Mediengesellschaft geht. 10

Gesellschaftliche Kontrolle durch engagierte Gremienarbeit ist die zweite, kaum diskutierte Seite, zu der ich einige Anmerkungen machen möchte. 65 Jahre nach der Gründung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks Realität tatsächlich noch abbilden. Ich möchte auf drei Punkte aufmerksam machen: Erstens: Die Integrationsleistung des Bundes der Vertriebenen, beispielsweise beim muss meines Erachtens überprüft werden, ob die Zusammensetzungen der Gremien die gesellschaftliche Aufbau der Bundesrepublik nach dem zweiten Weltkrieg, steht außer Zweifel. Daraus noch heute die Berechtigung 11

abzuleiten, im Fernsehrat des ZDF vertreten zu sein, ist jedoch schwer zu vermitteln. Zweitens: Gremien von ARD und ZDF ignorieren bis auf wenige Ausnahmen wichtige Gruppen: z. B. Migranten, Menschen mit Behinderung oder Religionsgruppen. Obwohl diese, wie alle anderen auch, Rundfunkgebühren bezahlen, sind sie von der Kontrolle und Selbstverwaltung des öffentlich-rechtlichen Rundfunks faktisch ausgeschlossen zumindest nicht offiziell vertreten. Drittens: Das öffentlich-rechtliche Fernsehen hat in vielen Fällen die Jugend verloren einige Intendanten räumen diesen Generationenabriss selbstkritisch ein und drängen auf Gegenmaßnahmen. Doch wie sieht es eigentlich in den Gremien aus? Auch hier muss man jüngere Menschen mit der Lupe suchen. Wenn aber der öffentlich-rechtliche Rundfunk die Jugend wieder gewinnen will und von jungen Menschen weiter auch als ihr Medium wahrgenommen werden soll, muss sich das ändern. Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, die Gewerkschaften haben schon vor einem Jahr auf eine Problematik aufmerksam gemacht, die meines Erachtens in der Diskussion zu kurz kommt. Durch die digitale Entwicklung und die damit einhergehende mediale Konvergenz sind neue Konkurrenzsituationen entstanden. Die Verlegerverbände sind wie die Journalistengewerkschaften traditionell in den Gremien von ARD und ZDF vertreten. Doch nun klagen die Zeitungsverleger gegen die Tagesschau -App der ARD, fordern ihre Verbände lautstark von der Politik weiter Beschränkungen für ARD und ZDF in der digitalen Welt. Das tun sie öffentlich aber sitzen gleichzeitig in deren Gremien. Beim Westdeutschen Rundfunk ist seit einiger Zeit der Telekommunikationsund Neue Medien-Verband BITKOM im Rundfunkrat vertreten auch keine ganz einfache Beziehung. Ich weiß, dass in vielen Rundfunkräten engagiert Gremienarbeit geleistet wird. Aber es ist auch nicht zu übersehen, dass sie immer häufiger an Grenzen stößt. 12

Verehrte Gäste! Meine Damen und Herren! Staatsferne und unabhängiger, kritischer Journalismus im öffentlichrechtlichen Programm sind die Garanten für dessen Glaubwürdigkeit. Doch einige Gremien stehen nicht ganz zu unrecht unter dem Generalverdacht, dass zu oft Parteibücher mitentscheiden. Nach dem erzwungenen Ab schied des ZDF-Chefredakteurs Nikolaus Brender überprüft jetzt das Bundesverfassungsgericht die Zusammen - setzung der Gremien. Unabhängig von der Entscheidung steht für mich fest: Die Parteien, aber auch die entsendenden Verbände und gesellschaft - lichen Gruppen gefährden die Glaubwürdigkeit der öffentlich-rechtlichen Sender, wenn parteipolitisches Denken weiter das Handeln bestimmt. Voraussetzung für wirkungsvolle Gremienarbeit ist Fachkompetenz, gute Vorbereitung, Themensicherheit und auch Mut, Fehlentwicklungen als solche klar anzusprechen. Aber auch Beharrlichkeit ist gefragt und Hartnäckigkeit wird gebraucht! Verehrte Gäste! Ich wünsche uns allen eine spannende Preisverleihung und einen schönen Abend! Ich danke für die Aufmerksamkeit! Herr Bundestagspräsident Prof. Lammert! Sie haben das Wort wir freuen uns auf Ihre Festrede! Im Kern muss es bei Gremienbesetzungen und deren Arbeit um etwas anderes gehen: Im Vordergrund müssen Begleitung, Kontrolle und Weiterentwicklung des öffentlichrechtlichen Rundfunks im Geiste kritischer Loyalität stehen. Berthold Huber, Verwaltungsratsvorsitzender der Otto Brenner Stiftung und Jury-Mitglied 13

FESTREDE

Prof. Dr. Norbert Lammert Festrede zur Verleihung der Otto Brenner Preise für kritischen Journalismus 2011

Sehr geehrter Herr Huber, meine Damen und Herren, ich bedanke mich für die freundliche Einladung, die liebenswürdige Begrüßung und ganz besonders für die Großzügigkeit, eine Festrede 1 anzukündigen, die Sie eigentlich gar nicht erwarten. Das macht mir den Einstieg leichter, denn die Anfrage in der damaligen Ein ladung, ob ich einige medien - politische oder medienkritische Be - merkungen bei der Verleihung des Otto Brenner Preises machen könnte, war ohne größeres Nachdenken positiv zu be scheiden die gleichzeitige Vor stellung, das in den Rahmen einer Festrede zu bringen, ist beinahe in - kompatibel. Ich bitte Sie um Nachsicht, wenn ich selber jedenfalls nicht mehr ankündigen und versprechen möchte als zwei, drei aus gewählte medien politische und damit notwendigerweise natürlich auch kritische Anmerkungen, die das, was man zur Rolle von Medien in einer modernen Gesellschaft und zum Verhältnis von Medien und Politik vielleicht sagen könnte und vielleicht bei anderer Gele genheit auch sagen müsste, natürlich nicht annähernd vollständig zum Ausdruck bringen. Ich will mich im Wesentlichen auf zwei Aspekte konzentrieren, die beide eine auch selbstkritische Betrachtungsweise lohnen. Den einen Aspekt hat Herr Huber in seiner Begrüßung bereits angesprochen, nämlich die direkten und indirekten Wirkungen, die sich aus der gründlichen Veränderung der Medienlandschaft der letzten Jahre ganz offensichtlich und an manchen Stellen vielleicht auch nicht ganz so offensichtlich ergeben. Und der andere Aspekt, zu dem ich ein paar Bemerkungen machen möchte, betrifft das besonders schöne, sicher delikate, ganz gewiss nicht spannungsfreie Verhältnis von Politik und Medien, auch und gerade unter dem Gesichtspunkt des Verhältnisses von Politikern zu Journalisten. Die Veränderung der Medienlandschaft Zur Veränderung der Medienlandschaft muss nicht mehr vorgetragen werden, dass sich mit der Digitalisierung von Daten und mit der Etablie- 1 Wir danken Prof. Dr. Norbert Lammert für die Abdruckgenehmigung seiner Rede aus Anlass der Verleihung der Otto Brenner Preise 2011 16

rung des Internets zu einem bis dahin so nicht bekannten, schon gar nicht verfügbaren Medium, die Medienlandschaft grundlegend verändert hat, und dass sich seit dieser Zeit nicht nur Proportionen im Angebot und in der Nachfrage signifikant verschoben haben und dies weiter tun werden. Diese gründlich veränderte Wettbewerbssituation zwischen verschiedenen Medien hat erhebliche Folgen nicht nur für die je - nigen, die Medienangebote machen und für diejenigen, die Medienangebote nutzen, sondern auch und gerade für das Informationsniveau und das Urteilsvermögen einer Gesellschaft. Der letztere Punkt scheint mir nicht in gleicher Weise regelmäßiger Gegenstand all - gemeiner Aufmerksamkeit zu sein, weswegen ich dazu ein paar Bemerkungen machen will. Ich beginne mit dem statistischen Hinweis, dass wir inzwischen eine Internetnutzung in Deutschland haben, die die 80-Prozent-Marke überschritten hat. Und dass von den vier Fünfteln der in diesem Land lebenden Menschen, die überhaupt das Internet nutzen, etwa 60 Prozent täglich von diesen Ange - boten Gebrauch machen. Dass wir uns dabei in einer außerordentlich dynamischen Entwicklung befinden, wird auch daran deutlich, dass sich die tägliche Internet-Nutzungsdauer eines Erwachsenen in den letzten zehn Jahren von durchschnittlich 30 Minuten auf jetzt 95 Minuten pro Erwachsen und Tag mehr als verdreifacht hat. Für diesen Durchschnitt gilt das, was für jedes statistische Mittel gilt: Jedem fallen Beispiele ein, die deutlich davon ab weichen. Auch wenn man berücksichtigt, dass die Internetnutzer vielleicht über eine noch ausgeprägtere Begabung zu gleichzeitiger Nutzung verschiedener Medien verfügen, gibt es irgendwo natürliche Kapazitätsgrenzen, vor allem unter dem Gesichtspunkt des ernsthaften Umgangs mit denselben, sodass sich folgerichtig mit dem Ausdehnen der Nutzung des Mediums Internet die Relationen mit Blick auf andere Medien verschoben haben. Und am meisten ausgeprägt ist die Verschiebung, die es zwischen den elektronischen Medien auf der einen Seite und den Printmedien auf der anderen Seite gegeben hat. Informationsverhalten und Urteilsvermögen Spannender finde ich die Frage, ob dies für das Informationsniveau und damit auch das Urteilsvermögen einer 17

Gesellschaft wie unserer eher nachrangig oder doch eher signifikant ist. Ich habe jedenfalls den Eindruck, dass diese Veränderung in der Nutzung verschiedener Medien signifikante Wirkungen für das Informationsverhalten hat und damit tendenziell auch für das Urteilsvermögen unserer Gesellschaft. Deswegen hat es nicht nur ganz offenkundig beachtliche kommerzielle Implikationen, es hat auch erhebliche politische Implikationen, was sich im Übrigen durch das ja wiederum auffällig starke Nutzungsverhalten der jüngeren Generationen mit Blick auf die elektronischen Medien im Allgemeinen, das Internet im Besonderen, tendenziell eher verstärkt und keineswegs abbaut. Der wesentliche Unterschied, auf den ich aufmerksam machen möchte, ist die Art des Nutzerverhaltens. Wer das Internet als seine Quelle für das Be - schaffen von Informationen nutzt, der hat einen prinzipiell anderen Zugang zu Informationen als beispielsweise der klassische Zeitungsleser oder Zeitschriftenleser. Der Nutzer des Internets nutzt dieses Medium, um sich Dingen zu widmen, an denen er Interesse hat. Er findet mit Stichworten eine in zunehmendem Maße gigan tische Zahl von Fundstellen, die nach bestimmten, eher quantitativ für relevant gehaltenen Kriterien für ihn sortiert werden, mit denen er sein Informations- und oder Unterhaltungsbedürfnis bedient. Um den Aspekt der Festrede mindestens im Charakter zu wahren, erspare ich uns den Hinweis, für welche Art von Informationen die Recherchen besonders häufig genutzt werden. Der typische Leser einer Tageszeitung nutzt ein Medium in der Erwartung, mindestens in der akzeptierten Vermutung, mit Informationen konfrontiert zu werden, die andere für wichtig halten. Mir kommt es im Augenblick gar nicht darauf an, ob man das Eine für anachronistisch und das Andere für modern hält, das Eine für sympathisch und das Andere für unsympathisch. Ich will schlicht darauf hinweisen: Es ist nicht dasselbe, ob ich auf dem einen oder anderen Wege meine Informa - tionen suche und beziehe. Ich glaube, dass es auch kein unfreund licher Akt gegenüber dem einen oder anderen Medium ist, wenn man darauf hinweist, dass das Internet da, wo es sorgfältig ist, eher lexikalisch als analytisch ist, während umgekehrt eine Zeitung, wenn sie sorgfältig arbeitet, eher analytisch als lexikalisch ihre Nutzer erreicht. 18

Noch einmal: Man kann das eine oder andere spannender finden dass es nicht dasselbe ist, halte ich für offensichtlich. Deswegen ist es naheliegend, dass es Folgen für das Informations - niveau und damit tendenziell für das Urteilsvermögen einer Gesellschaft hat, ob die Art der Informationsbeschaffung ganz oder überwiegend sich durch das eine oder das andere Medium oder durch beide gleichzeitig und in welchen Relationen zueinander vollzieht. Zu den Veränderungen, die mit dem Internet die Medienlandschaft natürlich nicht nur in Deutschland, sondern weltweit betreffen, gehört, dass sich damit die Wettbewerbsbedingungen im Allgemeinen einmal mehr, und zwar gründlich, verändert haben. Zu den Veränderungen gehört genauso, dass nicht mehr länger die Printmedien die Wettbewerbsbedingungen der Medienwelt bestimmen, sondern die elektronischen Medien dies tun. Was wiederum unter vielen anderen Aspekten, die auch spannend sein mögen zur Folge hat, dass die Präferenzen, die die elektronischen Medien gegenüber den Printmedien haben, zunehmend von dem einen auch auf das andere Medium durchschlagen. Bild vor Text, Personen vor Sachverhalten, Schnelligkeit vor Gründlichkeit Weil ich ausdrücklich zu medien - kritischen Anmerkungen eingeladen worden bin, will ich nun sagen, was mich als Mediennutzer besorgt, gelegentlich nervt und manchmal auch ärgert: Es gibt in meiner Wahrnehmung eine Reihe großer Trends, die wie mir scheint, mit dem Internet als Medium in einer ursächlichen Weise zusammenhängen und sich über die elektronischen Medien und ihren naturgemäß besonders starken Verflechtungen mit dem Internet auf die Medienlandschaft im Ganzen niederschlagen. Da ist zum Beispiel der Trend des zunehmenden Vorrangs von Bildern gegenüber Texten. Es ist der schwer übersehbare Trend des Vorranges von knappen Botschaften gegenüber ausführlichen Analysen, von Schlagzeilen gegenüber Sachverhalten. Es gibt seit langem den Trend zur Personalisierung von allem und jedem, und richtig schön medienwirksam ist ein Thema, wenn es sich mit Personen verbinden lässt. Ohne Personalisierung fehlt ihm tatsächlich oder scheinbar die Mindest- 19

attraktivität, die mediale Verwendungsoptionen brauchen. Es gibt in einer nach meiner Wahrnehmung auffällig gesteigerten Form in Verbindung mit dem Triumphzug des Internets quer durch die Medienlandschaft den immer stärkeren Vorrang der Schnelligkeit gegenüber der Gründlichkeit der Informationsbeschaffung und Infor - mationsvermittlung. Den Luxus, eine Information auf ihre Richtigkeit zu prüfen, bevor man sie potenziellen Nutzern anbietet, glauben sich immer mehr Journalisten gar nicht mehr erlauben zu können, weil die Konkurrenzbedingungen so sind, wie sie sind. Und das Ganze ist schließlich verbunden mit einer geradezu gnadenlosen Dominanz der Unterhaltung gegenüber der Information, die sich quer durch die Medienlandschaft beobachten lässt. Und sie ist natürlich im elektronischen Bereich ausgeprägter als im Printbereich. Dass sie dort nicht zu beobachten sei, scheint mir eine allerdings verharmlosende Vermutung. Die Otto Brenner Stiftung hat neben anderen Verdiensten den lobenswerten Vorzug, sich immer wieder mit besonders relevanten Fragestellungen unserer Medienwelt auseinanderzusetzen. Und dazu gehört etwa aus diesem Jahr nicht nur die interessante Studie über Talkshows und deren Prominenz und Relevanz, sondern auch über die Entwicklung von Nachrichten im Fernsehen. Im Ergebnis dieser Studie steht die ebenso plausible wie für mich jedenfalls erschreckende Demonstration einer zunehmenden Entpolitisierung auch von Nachrichtensendungen. Wobei mir niemand erläutern muss, dass nicht alles, was politisch ist, eo ipso nachrichtenrelevant sein muss, und umgekehrt in Nachrichten nichts Unpolitisches vorkommen dürfe. Aber wenn man davon ausgeht, dass Nachrichten eigentlich ein klassisches Format für die Vermittlung politisch relevanter Sachverhalte sein könnten, vielleicht auch sein sollten, finde ich schon nicht unerheblich, dass nach Medienanalysen, die nicht ich angestellt habe, der mit Abstand größte Politik-Anteil in einer deutschen Fernsehnachrichtensendung bei lediglich 48 Prozent liegt. Selbst bei keinem öffentlich-rechtlichen Medium haben wir in den Nachrichtensendungen einen Politik-Anteil, der die 50 Prozent-Grenze erreichte oder gar überböte. Bei den privaten Anbietern liegt dieser Anteil bei unter 20, teilweise sogar bei unter 20

10 Prozent. Dass die bei der jungen Generation am stärksten gesehene Nachrichtensendung nicht mehr von öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten angeboten wird, komplettiert das Bild. Der Vorrang der Unterhaltung Ich halte mich natürlich nicht für einen unbefangenen oder gar neutralen Be - oba chter der Szene. Jeder hat seine besonderen Empfindlichkeiten, das will ich nicht bestreiten. Aber zu der immer noch nicht ganzen Wahrheit der Medienentwicklung der letzten Jahre gehört, dass aufgrund des Wettbewerbs auch und gerade öffentlich-rechtliche Rundfunk- und Fernsehanstalten sich aus den besonderen Verpflichtungen, die sich aus ihrer Gebührenfinanzierung ergeben, weitgehend zurückgezogen haben. Oder aber entsprechende An - gebote in Nischenprogramme outgesourct haben, um die Hauptprogramme für den Wettbewerb freizubekommen, denen man sich unter den gegebenen Bedingungen unserer Mediengesellschaft stellen zu müssen glaubt. Heute, am 22. November 2011, ist es auf den Tag genau sechs Jahre her, dass mit Angela Merkel die erste Frau in das Amt der Bundeskanzlerin gewählt wurde. Wiederum heute auf den Tag genau vor 21 Jahren trat die erste britische Premierministerin von diesem Amt zurück. Und vor 48 Jahren, 1963, wurde John F. Kennedy in Dallas ermordet. Alles herausragende Politik - ereignisse, die natürlich auch und gerade die Medien begleitet und verfolgt haben. Mit einem vergleichbaren Ereignis kann und will die Politik heute sicher nicht dienen. Aber heute Morgen hat beispielsweise im Deutschen Bundes tag die Debatte über die Frage stattgefunden: Wie geht eigentlich dieses Land in Gestalt seiner verantwortlichen politischen Institutionen mit dieser ebenso unglaublichen wie unerträglichen Serie von Mord - anschlägen einer neonazistischen Bande um? Natürlich hat, wie in der Regel, Phoenix Bundestagsdebatten im Programm. Bei ARD und ZDF findet business as usual statt: Rote Rosen, Folge 1.152, war heute morgen in der ARD zu sehen, während sich der Deutsche Bundestag mit einem Thema beschäftigt, das nun wiederum nach der überwiegenden Mehrheit der deutschen Medienprominenz eigentlich das zentrale Thema dieser Republik sein müsste. Das ZDF brachte Volle Kanne und lässt sich auch nicht 21

weiter irritieren. Und so setzt diese Gesellschaft in Gestalt ihrer Medien die Prioritäten, die sie für richtig hält. Um nicht missverstanden zu werden: Ich halte ausdrücklich an dem Prinzip fest, dass über die Relevanz auch und gerade von Nachrichten nicht die Politik zu entscheiden hat. Aber ich erlaube mir den Hinweis, dass man sich nicht über das politische Bewusstsein einer Gesellschaft beklagen soll, wenn man selber als Medienvertreter die Priori - täten so setzt und der Unterhaltung einen gnadenlosen Vorrang gegenüber allem und jedem gewährt. Mir ist zugegebenermaßen auch erst vor ein paar Jahren die Weisheit eines schlichten Satzes von Neil Postman aus seinem 1986 erschienenen und damals viel zitierten Bestseller Wir amüsieren uns zu Tode so richtig zu Bewusstsein gekommen: Das Problem des Fern - sehens ist nicht, dass es zu viel Unterhaltung bringt. Das Problem des Fernsehens ist, dass es aus allem und jedem Unterhaltung macht. Die Talkshows sind für mich gewissermaßen die An wendung dieses Prinzips auf alles und jedes, beispielsweise auf die Politik. Und ich widerstehe jetzt tapfer der Ver suchung, meine ohnehin hinreichend bekannte Begeisterung für dieses bekannte Format einmal mehr in ganzer Pracht und Schönheit auszubreiten. Ich begnüge mich mit einem einzigen, wiederum statistischen Be - fund. Die vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen in Deutschland im Hauptprogramm im Jahr übertragenen Bundestagsdebatten machten addiert im vergangenen Jahr 28 Stunden aus. Das ist etwa eine halbe Stunde pro Woche. Die im öffentlich-rechtlichen Fernsehen pro Woche angebotenen Talkshows ma chen 22 Stunden aus, über das Vierzigfache, zusammen 1.000 Stunden im Jahr. Noch einmal: Dürfen die das? Ja, die dürfen das! Für eine Errungenschaft halte ich das aber nicht. Zumal ja jeder seine eigenen Beobachtungen machen kann, im Übrigen auch machen muss, welche Aussichten durch diese Formate für die Erläuterung, Vermittlung gerade auch zunehmend komplexer Sachverhalte gegeben sind. Das Verhältnis von Politikern und Journalisten Aufgrund des begrenzten Zeitrahmens beschränke ich mich auf einige wenige Bemerkungen zum Verhältnis von Politikern und Journalisten: Dass dieses ein ganz besonderes ist, muss nicht 22

erläutert werden. Dass diese beiden Berufe eine Reihe von erkennbaren Unterschieden aufweisen, ist auch im Einzelnen nicht erläuterungsbedürftig. Dass es auf der anderen Seite auch eine Reihe von Gemeinsamkeiten gibt, sollte mindestens nicht unterschlagen werden. Das gilt beispielsweise mit Blick auf das jeweils relativ ausgeprägte Selbstbewusstsein. Weder bei meinen Kolleginnen und Kollegen in der Politik, noch bei den Journalisten, treffe ich regelmäßig auf ausgeprägte Minderwertigkeitskomplexe. Beide scheinen mir gelegentlich, die Politiker wie die Journalisten, von der Versuchung ge - plagt, sich für eine besondere Kategorie der Menschheit zu halten, denen Dinge, die für den Rest der Menschheit gelten, eigentlich nicht zugemutet werden dürfen. Und zu den Gemeinsamkeiten gehört auch, dass sie beide interessanterweise einen relativ hohen Einfluss und beide einen relativ schlechten Ruf haben. Beides ist grob ungerecht, wie sich versteht das muss ich nicht erläutern. Mein größter Trost, wenn ich diese konstant gleich deprimierenden Reputationsskalen lese, besteht darin, dass noch hinter Journalisten und Politikern, inzwischen nicht nur Banker rangieren, was ich ja fast verstehe, sondern auch Buchhändler, was ich völlig unbegreiflich finde. Und da ich mir das überhaupt nur mit einem frei schwebenden Ressentiment erklären kann, neige ich dazu, die ganze Untersuchung für offenkundig unseriös zu halten, um mit auf diesem Wege gestärkten Selbstbewusstsein den übertragenen Aufgaben weiter nachzukommen. Ich möchte Sie jedoch gerne auf einen interessanten Befund aufmerksam machen, den ich in einer Studie von Hans Matthias Kepplinger vor einiger Zeit gefunden habe, in der er dieses natürlich spannungsreiche Verhältnis zwischen Politikern und Journalisten untersucht. Er kommt dabei unter anderem zu dem Ergebnis, dass fast die Hälfte der Journalisten beklagt, es sei kaum noch möglich, etwas über die Ziele von Politikern zu erfahren, während fast die Hälfte der Politiker findet, es werde regelmäßig falsch berichtet. Dabei gehen fast 80 Prozent der befragten Journalisten und Politiker davon aus, dass die jeweils andere Gruppe ohnehin nur eigene Interessen verfolgt. Politiker verfolgen persönliche Interessen und Parteiinteressen, Journalisten hätten nur Auflage und Quote 23