DIREKTE DEMOKRATIE IN DEN GEMEINDEN

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Transkript:

DIREKTE DEMOKRATIE IN DEN GEMEINDEN Bürgerbegehren und Bürgerentscheide längst in ihrem Wert erkannt und mancherorts gut etabliert Foto: Michael von der Lohe Bürgerbegehren und Bürgerentscheide sind in den Städten und Gemeinden in ganz Deutschland möglich. Wie oft die Bürger vor Ort an die Urnen treten, ist von Bundesland zu Bundesland jedoch sehr unterschiedlich. Im Saarland gab es bisher 14 Bürgerbegehren, in Bayern rund 1.800. Nicht überall sind die Spielregeln der direkten Demokratie fair. In vielen Bundesländern wird es den Menschen schwer gemacht, direkt mitzuentscheiden. Die lebendige Praxis in anderen Ländern zeugt aber davon, dass Bürgerbegehren und -entscheide eine Chance für eine lebendige Politik in Städten und Gemeinden sind. Pro Jahr finden etwa 300 Bürgerbegehren in Deutschland statt. Themenvielfalt bei Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden: Bauleitplanung ist häufig Tabu für Bürgerbegehren Die Anliegen der Menschen, die in Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden Ausdruck finden, sind vielfältig. 2001 entschieden sich die Münchner für ein neues Fußball-Stadion. Mehrere Bürgerbegehren in elf Bayerischen Gemeinden konnten 2001 den Konzern E.ON zum Verzicht auf Strom aus dem umstrittenen tschechischen Atomkraftwerk Temelin bewegen. Immer häufiger wehren sich die Wähler per Bürgerbegehren auch gegen Privatisierungen. So stimmten die Bürger in Düsseldorf und Münster gegen den vom Rat geplanten Verkauf der Stadtwerke. Im ersten kreisweiten Bürgerentscheid Schleswig-Holsteins sicherte das Wahlvolk den Verbleib von vier Kliniken in der öffentlichen Hand. In Hamburg stimmten die Bürger 2009 für den Neubau einer IKEA-Filiale in der Innenstadt, in Stuttgart war ein Bürgerbegehren erfolgreich, wonach die Wasserversorgung zu 100 Prozent von EnBW zurückgekauft werden muss. Bürgerbegehren gegen Windkraftanlagen gehören ebenso zum Alltag der direkten Demokratie in den Gemeinden. Insgesamt gibt es die meisten Bürgerbegehren zu öffentlichen Sozial- und Bildungseinrichtungen, also zu Schulen, Kindergärten und im Gesundheitswesen (rund 18 Prozent). Direkt dahinter folgen mit 17 Prozent Verkehrsprojekte wie beispielsweise Umgehungsstraßen. Ebenfalls wichtig sind den Menschen die öffentliche Infrastruktur und Versorgungseinrichtungen, wie zum Beispiel die Wasserversorgung oder auch ein Rathausneubau (14 Prozent). Gleichauf damit sind Wirtschaftsprojekte, wie zum Beispiel Supermärkte. Wenn es um Bürgerbegehren zu Bauprojekten geht, wird es aber schwierig. Denn in neun von 16 Bundesländern ist die Bauleitplanung in Städten und Gemeinden von der direkten Mitbestimmung ausgenommen. Entsprechende Bürgerbegehren sind nicht erlaubt. In den sieben Bundesländern, wo die Bauleitplanung zugänglich ist, in Hessen, Sachsen, Bayern, Hamburg, Berlin, Thüringen und Sachsen-Anhalt, sowie in der Stadt Bremen, finden viele Bürgerbegehren dazu statt. Bisher waren insgesamt rund 43 Prozent der Begehren mit Fragen der Bauleitplanung verknüpft. Fast die Hälfte aller Bürgerbegehren ist erfolgreich Rund 40 Prozent aller bisherigen Bürgerbegehren waren erfolgreich im Sinne der Vorlage. Für den Erfolg ist nicht unbedingt ein Bürgerentscheid nötig. Zirka 14 Prozent der Initiativen konnten den Gemeinderat oder das Stadtparlament davon überzeugen, ihren Vorschlag zu übernehmen. Kommt es zur Abstimmung, mehr demokratie grundlagenheft 2010 37

2009 Der Bundestag stimmt über Gesetzentwürfe von Grüne, FDP und Linke zur Einführung bundesweiter Volksabstimmungen ab. Die Parteien votieren jeweils gegeneinander. Auch die SPD lehnt ab, da sie in der Großen Koalition an den Partner CDU und dessen Nein gebunden ist. 2009 Das Bundesverfassungsgericht betont in seinem Urteil zum Lissabon-Vertrag, dass die Einführung bundesweiter Volksabstimmungen in Deutschland durch eine Verfassungsänderung möglich ist. sind etwas weniger als die Hälfte der Initiativen mit ihrem Anliegen erfolgreich (48 Prozent). Legt der Gemeinderat eine Frage zur Abstimmung im Bürgerentscheid vor (Ratsreferendum), ist eine Erfolgsquote von rund 61 Prozent zu verbuchen. Fast ein Drittel aller Bürgerbegehren (28 Prozent) wird für unzulässig erklärt. Das ist ein ernstzunehmendes Problem, das einen wesentlichen Grund in zu engen gesetzlichen Bestimmungen hat: Viele wichtige Themen sind von Bürgerbegehren ausgeschlossen, die Initiativen müssen einen Kostendeckungsvorschlag vorlegen, was ihnen teils nicht gelingt, die Fristen sind zu kurz, die Beratung von Bürgerbegehren ist nicht ausreichend. Am häufigsten werden Bürgerbegehren in Mecklenburg- Vorpommern für unzulässig erklärt (57 Prozent), am seltensten in Hamburg und Bayern (15 bis 16 Prozent). Viele Bürgerbegehren und -entscheide scheitern aber auch an den zu hohen Quoren. Initiativen müssen in der ersten Stufe, also im Bürgerbegehren, eine bestimmte Anzahl von Unterschriften (Unterschriftenquorum) sammeln und dies innerhalb einer bestimmten Frist, wenn sich das Bürgerbegehren gegen einen Organbeschluss richtet, zum Beispiel einen Beschluss des Gemeinderates. In Bayern, Berlin und Hamburg gibt es diese Frist für Korrekturbegehren nicht. Ist der Weg zum Bürgerentscheid durch ein erfolgreiches Bürgerbegehren freigeräumt, sind weitere Hürden bei der Abstimmung zu überwinden. Außer in Hamburg, müssen bestimmte Quoren erreicht werden. Das bedeutet, dass im Entscheid ein bestimmter Anteil der Wahlberechtigten zustimmen oder sich beteiligen muss. Es genügt also nicht, wie bei Wahlen, die Mehrheit der Stimmen, um Erfolg zu haben. Zirka 17 Prozent der Initiative ereilte das Schicksal des sogenannten unechten Scheiterns. Sie scheiterten nicht an der Ablehnung der Bevölkerung, sondern am Quorum, da sie zwar die Mehrheit im Bürgerentscheid erreichen konnten, die Ja-Stimmen aber nicht der gesetzlichen Mindestzustimmung entsprachen. Wenig, aber immer mehr Seit 1956 gab es rund 5.000 direktdemokratische Verfahren in deutschen Städten und Gemeinden. Bis Ende 2007 haben etwa 4.600 Bürgerbegehren und 2.200 Bürgerentscheide stattgefunden. Der große Siegeszug für die direkte Demokratie kam aber erst nach der Friedlichen Revolution. Vorher waren nur in Baden-Württemberg Bürgerbegehren möglich. Mit der Demokratisierungswelle nach 1989 wurde das Recht auf kommunale direkte Mitbestimmung in ganz Deutschland verankert teilweise unter Mithilfe von Mehr Demokratie: 1995 haben wir in Bayern ein erfolgreiches Volksbegehren initiiert. Im dadurch ermöglichten Volksentscheid stimmten die Bayerinnen und Bayern für die Einführung von Bürgerbegehren und Bürgerentscheiden in den Gemeinden. Heute finden fast die Hälfte aller Bürgerbegehren in Bayern statt. Für die Hamburger Stadtbezirke gelang Entsprechendes im Jahr 1998; in Thüringen war ein Volksbegehren zur Erleichterung von Bürgerbegehren und -entscheiden im Jahr 2009 erfolgreich. Über diese erfreuliche Entwicklung gilt es jedoch nicht zu vergessen, dass Bürgerbegehren und Bürgerentscheide noch in den Kinderschuhen stecken: 80 Prozent der deutschen Städte 38 mehr demokratie grundlagenheft 2010

2009 Nach gewonnener Bundestagswahl hält Schwarz-Gelb im Koalitionsvertrag lediglich fest, das Petitionsrecht ausbauen zu wollen. 2010 Aufgrund von Volksentscheiden in Hamburg und Bayern sowie langanhaltender Proteste gegen das Bauprojekt Stuttgart 21 wird die Forderung nach bundesweiten Volksentscheiden immer lauter. Die Medien diskutieren direkte Demokratie wie nie zuvor. Führende Politiker von SPD, Grünen und Linken plädieren für bundesweite Volksentscheide. 2010 Im Bundestag wird ein Antrag der Linken zur Einführung bundesweiter Volksentscheide mit 400 zu 61 Stimmen abgelehnt. Die Fraktionen von CDU/CSU, SPD und Grünen stimmen geschlossen mit Nein. und Gemeinden haben noch nie ein direktdemokratisches Verfahren erlebt! Spitzenreiter ist Erlangen, wo es bisher 13 Bürgerentscheide gab. Saarland ganz hinten Berlin, Hamburg und Bayern ganz vorn Nicht überall gibt es eine lebendige Praxis der kommunalpolitischen Mitbestimmung. Im Saarland gab es bisher 14 Bürgerbegehren und keinen Bürgerentscheid. In Bayern gab es bisher 1.759 Bürgerbegehren und 995 Bürgerentscheide. Grund dafür ist nicht das immense Desinteresse der Saarländer an Kommunalpolitik, sondern die vergleichsweise schlecht geregelten Verfahren. Nirgendwo sonst wird es Bürgerinnen und Bürgern so schwer gemacht, politisch mitzuentscheiden. Spitzenreiter bei den gesetzlichen Spielregeln ist Berlin. Am meisten Bürgerbegehren und Bürgerentscheide gab es mit rund 40 Prozent der Verfahren in Bayern. Am häufigsten schreiten die Hamburgerinnen und Hamburger an die Urne, um kommunalpolitische Entscheidungen zu fällen. Im Schnitt einmal im Jahr erlebt ein Hamburger Bezirk ein direktdemokratisches Verfahren. Zum Vergleich: Eine Gemeinde in Mecklenburg-Vorpommern erlebt statistisch gesehen alle 143 Jahre ein direktdemokratisches Verfahren, eine Gemeinde in Baden-Württemberg alle 101 Jahre. In einer bayerischen Gemeinde kommt es im Schnitt alle 14 Jahre zu einem solchen Verfahren. Es ist unverkennbar, dass die direkte Demokratie zwar mancherorts schon zum Alltag gehört, in einigen Landstrichen aber noch großen Seltenheitswert besitzt. Das ist durchaus nicht unproblematisch. Denn die kommunale Mitbestimmung gilt vielen als Schule der direkten Demokramehr demokratie grundlagenheft 2010 tie. Hier entscheiden Menschen über Dinge, die sie unmittelbar vor der Nase haben ein gutes Übungsfeld, um Verantwortung für das Gemeinwesen zu übernehmen und sich mit eigenen Interessen einzubringen. Direkte Demokratie ist keine Nischenveranstaltung Im Schnitt beteiligen sich 50,4 Prozent der Stimmberechtigten (entspricht den Wahlberechtigten) an einem Bürgerentscheid. Bessere Regeln, bessere Praxis Um Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in ganz Deutschland aufleben zu lassen, müssen in vielen Bundesländern die Gesetze geändert werden. Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachen, Baden-Württemberg, Sachsen-Anhalt und das Saarland sind die Schlusslichter. Im Kern geht es um drei Punkte, die Mitbestimmung verhindern und deshalb geändert werden müssen: 1. Themenausschluss Oft sind gerade die spannendsten und wichtigsten Themen für Bürgerbegehren nicht zugelassen, zum Beispiel die Bauleitplanung. Sogenannte Negativ- und Positivkataloge, die Themenverbote festschreiben, müssen abgeschafft werden. Meint man es ernst mit dem Recht auf Mitbestimmung, ist es unaufrichtig, die wichtigsten kommunalpolitischen Fragen zum Tabu zu erklären. 2. Unterschriftenquorum In manchen Bundesländern ist die Anzahl der Unterschriften, die für ein Bürgerbegehren zu sammeln sind, zu hoch. Das ver- 39

hindert die politische Teilhabe. Deshalb müssen die Quoren je nach Gemeindegröße auf drei bis zehn Prozent gesenkt werden oder besser noch auf einheitlich sieben Prozent und maximal 7.000 Unterschriften, wie in Thüringen. 3. Abstimmungsquorum Bei Bürgerentscheiden soll die Mehrheit der abgegebenen Stimmen entscheiden. Das Abstimmungsquorum, das eine bestimmte Mindestzustimmung vorschreibt, ist abzuschaffen. Bei Wahlen entscheidet die Mehrheit der abgegebenen Stimmen, das gleiche muss für Bürgerentscheide gelten. Weitere wichtige Punkte für Reformen: Der Kostendeckungsvorschlag, also der Vorschlag, wie entstehende Kosten zu decken sind, soll kein Grund für die Unzulässigkeit von Begehren sein. Er kann ebenso von der Verwaltung erarbeitet werden. Die Verwaltung sollte verpflichtet sein, Bürgerbegehren zu beraten und ihnen benötigte Auskünfte zu erteilen. In Baden-Württemberg und Hessen fehlen Bürgerbegehren noch auf der Ebene der Landkreise. Bürgerbegehren, die einen Beschluss des Gemeinderates korrigieren wollen, sollten keiner Frist für die Unterschriftensammlung unterworfen sein, so wie es bereits in Bayern, Berlin und Hamburg der Fall ist. Zumindest müsste die Frist vielerorts verlängert werden. Ein Bürgerbegehren soll eine aufschiebende Wirkung entfalten, das heißt, die Gemeinde- beziehungsweise die Landkreisverwaltung darf keine vollendeten Tatsachen während des laufenden Begehrens schaffen. Vor einem Bürgerentscheid soll ein Abstimmungsheft umfassend über Vor- und Nachteile des Vorschlages informieren. In Veröffentlichungen und Veranstaltungen der Gemeinde oder des Landreises sollen die Pro- und die Contra-Seite gleichberechtigt zu Wort kommen. Wir haben uns getraut! Die Liste der Bundesländer, die sich zu Reformen bei der direkten Demokratie in Städten und Gemeinden durchgerungen haben, wird immer länger. Häufig hilft Mehr Demokratie dabei, Reformen auf den Weg zu bringen, wie zuletzt in Thüringen und in Rheinland-Pfalz. NRW senkt im Jahr 2000 das Unterschriftenquorum bei Bürgerbegehren und die Abstimmungshürde beim Bürgerentscheid. 2007 wird der Ratsbürgerentscheid und die aufschiebende Wirkung für Bürgerbegehren eingeführt. Schleswig-Holstein verbesserte 2003 die direktdemokratischen Regelungen für die kommunale Ebene geringfügig zugunsten der Bürger. Baden-Württemberg reformierte 2005 die Regeln für Bürgerbegehren und -entscheide und machte sie anwendungsfreundlicher. Berlin führte 2005 als letztes Bundesland den Bürgerentscheid in den Bezirken ein. Die Hauptstadt hat heute eine der bundesweit bürgerfreundlichsten Regelungen. Bürgerbegehren und Bürgerentscheide in den Gemeinden bis 2010 Bundesländer Zahl der Gemeinden Einführung Bürgerbegehren Bürgerentscheide Ratsreferenden Baden-Württemberg 1146 1956 485 367 91 Bayern 2057 1995 1.759 995 77 Berlin (Bezirke) 12 2005 30 8 0 Brandenburg 450 1993 102 130 99 Bremen 2 1994 6 1 0 Hamburg (Bezirke) 7 1998 86 12 0 Hessen 426 1993 322 108 0 Mecklenburg-Vorpommern 976 1993 77 39 26 Niedersachsen 1201 1996 212 69 2 Nordrhein-Westfalen 426 1994 539 154 9 Rheinland-Pfalz 2493 1994 134 50 0 Saarland 58 1997 14 0 0 Sachsen 547 1990 196 131 47 Sachsen-Anhalt 1215 1990 127 155 91 Schleswig-Holstein 1135 1990 275 126 16 Thüringen 1006 1993 86 25 0 Summe 13.157 4.450 2.330 458 Quelle: Mehr Demokratie Datenbank Bürgerbegehren, Stand Juli 2010 40 mehr demokratie grundlagenheft 2010

Thüringen reformierte 2009 aufgrund eines erfolgreichen Volksbegehrens vom Bündnis für Mehr Demokratie in Thüringen die direkte Demokratie in den Kommunen. Der Landtag hatte das Volksbegehren komplett angenommen. Damit ist Thüringen im Volksentscheids-Ranking vom Schlusslicht auf Platz 4 unter den Bundesländern aufgerückt. Neben den beteiligungsfreundlich geregelten Bürgerbegehren gibt es nun auch einen Einwohnerantrag, den Jugendliche ab 14 Jahren und auch ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger unterzeichnen können. Bremen verbessert 2009 die direkte Demokratie auf Landesebene, wodurch auch die Bürgerbegehren in der Stadt Bremen erleichtert wurden. Rheinland-Pfalz verbesserte im Rahmen der Kommunal- und Verwaltungsreform 2010 die Regelungen deutlich. Unter anderem wurden die Quoren für Bürgerbegehren und -entscheide gesenkt und der Positivkatalog abgeschafft. Niedersachsen wird ab 2011 einführen, dass Bürgerentscheide unter den gleichen Bedingungen wie Wahlen stattfinden. Schummeln, wie der Verzicht auf die Briefabstimmung, gilt dann nicht mehr. Regelungen in den Gemeinden Bundesländer Note für zulässige Themen Bürgerbegehren Unterschriftshürde 1 Bürgerentscheid Zustimmungsquorum Gesamtnote Ranking 2010 Baden-Württemberg 4 5 10 % / 6 Wochen / F 25 % Zustimmungsquorum 4,5 Bayern 2+ 3 10 % / keine Frist/ F 10-20 % Zustimmungsquorum 1,7 Berlin (Bezirke) 1 3 % / 6 Monate / F 15 % Beteiligungsquorum 1,3 Brandenburg 5 10 % / 8 Wochen / F 25 % Zustimmungsquorum 4,1 Bremen (Stadt) 2+ 5 % / 3 Monate F +A 20 % Zustimmungsquorum 3,4 Hamburg (Bezirke) 1-2 3 % / 6 Monate / F Nein 1,5 Hessen 2 10 % / 6 Wochen / F 25 % Zustimmungsquorum 3,5 Mecklenburg-Vorpommern 5+ 2,5 10 % / 6 Wochen / F 25 % Zustimmungsquorum 4,3 Niedersachsen 5+ 10 % / 3 bzw. 6 Monate / F 25 % Zustimmungsquorum 4,5 Nordrhein-Westfalen 5+ 3 10 % / 6 Wochen / A oder 3 Monate / F 20 % Zustimmungsquorum 3,2 Rheinland-Pfalz 5+ 6 10 % / 4 Monate / F 20 % Zustimmungsquorum 3,7 Saarland 5+ 5 15 % / 2 Monate / F 30 % Zustimmungsquorum 5,0 Sachsen 2 5 15 % / 2 Monate / F 25 % Zustimmungsquorum 3,5 Sachsen-Anhalt 5 6 15 % / 6 Wochen / F 25 % Zustimmungsquorum 4,8 Schleswig-Holstein 4+ 10 % / 8 Wochen /F 20 % Zustimmungsquorum 3,1 Thüringen 2 7 %, max. 7.000 / 4 Monate / F oder 6 % / 2 Monate / A 10 20 %-Zustimmungsquorum 1,8 1 Freie Sammlung (F) oder Amtseintragung (A) Quelle: Volksentscheids-Ranking 2010 von Mehr Demokratie mehr demokratie grundlagenheft 2010 41