Der glückliche Prinz Nach einer Erzählung von Oscar Wilde Das Standbild des glücklichen Prinzen thronte auf einer großen Säule hoch über der Stadt. Es glänzte im Sonnenlicht, denn es war von oben bis unten mit Blattgold überzogen. Ein strahlender Rubin zierte den Schwertgriff des Prinzen und zwei funkelnde Saphire bildeten seine Augen. Die Leute in der Stadt schauten oft hoch zu dem glücklichen Prinzen und seufzten, denn sie bewunderten ihn wegen seiner Schönheit und beneideten ihn um sein zufriedenes Lächeln. Eines Abends kam eine kleine Schwalbe angeflogen und landete zwischen den goldenen Füßen des Prinzen. Der Sommer ging zu Ende und es wehte ein kalter Wind. Die Freunde der Schwalbe hatten schon vor Wochen die Reise in ein wärmeres Land angetreten. Die Schwalbe aber war zurückgeblieben, denn sie hatte sich in ein schlankes Schilfrohr am Fluss verliebt und konnte sich nicht von ihm trennen. Doch der Wind wurde immer kälter und der erste Frost lag in der Luft. Die 449
Königliche Abenteuer zitternde Schwalbe sah ein, dass sie nicht länger bleiben konnte, denn das wäre ihr sicherer Tod gewesen. Sie bat das Schilfrohr mit ihr zu kommen. Doch es schüttelte nur den Kopf und so flog die Schwalbe allein und traurig davon. Am nächsten Tag würde sie ihren Freunden folgen. Der kleine Vogel vergrub seinen Kopf unter den Flügeln, um sich etwas auszuruhen, bevor es auf die lange Reise ging. Als die Schwalbe gerade in einen schönen Traum glitt, fielen große Regentropfen auf ihren Kopf. Erstaunt blickte sie hinauf in den klaren Nachthimmel und sah, dass die Statue über ihr weinte. Wer bist du und warum weinst du?, fragte die kleine Schwalbe, als die Tränen der Statue im Mondlicht wie Diamanten funkelten. Die Leute nennen mich den glücklichen Prinz, antwortete die Statue. Aber in Wahrheit bin ich sehr traurig. Sie haben mich so hoch oben aufgestellt, dass ich über die ganze Stadt blicken und all das Elend sehen kann. Heute Nacht sehe ich eine arme Frau in einem Haus am Rande der Stadt sitzen. Sie ist dünn vor Hunger und blass vor Müdigkeit, aber sie arbeitet noch immer und stickt Blumenmuster 450
Der glückliche Prinz auf den Mantel einer königlichen Hofdame. In der Ecke des Raumes liegt ihr schwer krankes Kind und bittet um Orangen. Aber die Frau hat kein Geld und kann ihm nur Wasser geben. Der glückliche Prinz seufzte. Kleine Schwalbe, kannst du den Rubin aus meinem Schwert picken und ihn der Frau bringen, damit sie ihn dem Juwelier verkaufen kann? Meine Füße sind an diesen Sockel gefesselt und ich kann mich nicht bewegen. Der glückliche Prinz sah so traurig aus, dass die Schwalbe zustimmte. Der kleine Vogel pickte den Rubin aus seinem Schwert und flog mit ihm im Schnabel über die Dächer. Er flog durch ein Fenster in das Haus der Frau und fand sie schlafend über ihrer Stickarbeit. Die Schwalbe legte den Rubin neben ihren Fingerhut. Dann umkreiste sie leise das Bett und fächelte dem fiebernden, kranken Kind mit seinen Flügeln Luft zu, bis es etwas besser aussah. Schließlich flog die Schwalbe zu dem glücklichen Prinzen zurück und erzählte ihm, was sie gemacht hatte. Es ist seltsam, sagte sie. Ich fühle ein warmes Feuer in mir, obwohl es hier draußen so kalt ist. Das kommt, weil du eine gute Tat vollbracht hast, erklärte der glückliche Prinz, als die müde Schwalbe die Augen schloss. Am nächsten Tag flog die Schwalbe über die Stadt und verabschiedete sich von allen. Heute fliege ich nach Ägypten!, rief sie. Aber als sie sich am Abend von dem glücklichen Prinz verabschieden wollte, weinte er wieder. Auf der anderen Seite der Stadt sehe ich eine Dachkammer, in der ein junger Mann am Schreibtisch sitzt. Er will ein Theaterstück beenden, aber es ist zu kalt zum Schreiben. Sein Feuer ist ausgegangen und er hat kein Geld, um sich Holz oder etwas zu essen zu kaufen. Eine dicke Träne fiel der Schwalbe auf den Kopf. Kleine Schwalbe, kannst du noch eine Nacht bleiben und etwas für mich tun? Pick bitte eins meiner Saphiraugen aus und bringe es zu ihm. 451
Königliche Abenteuer Lieber Prinz, ich werde dir nicht das Auge auspicken, sagte die Schwalbe, selbst mit Tränen in den Augen. Bitte, kleine Schwalbe, tu es für mich, bat der Prinz inständig und sah so traurig aus, dass die Schwalbe hochflog und eines seiner Saphiraugen auspickte. Dann flog sie damit zu dem jungen Mann in der Dachkammer. Als sie zum Prinzen zurückkam, setzte sie sich erleichtert zwischen seine Füße und plusterte ihr Federkleid auf, denn es war wirklich sehr kalt geworden. Am nächsten Tag flog die Schwalbe zum Hafen und beobachtete all die Schiffe, die in fremde Länder segelten, wo die Tage lang und warm waren. Heute Abend reise auch ich los!, sang sie laut und munter jedem zu, der ihr begegnete. Als die Sonne unterging, flog sie zu dem glücklichen Prinzen, um sich zu verabschieden. Unten auf dem Platz steht ein kleines Mädchen, sagte er. Sie weint, weil ihre Steichhölzer ins Wasser gefallen sind. Jetzt hat sie nichts mehr, was sie verkaufen kann. Wenn sie mit leeren Händen nach Hause kommt, wird ihr Vater sie bestrafen. Der glückliche Prinz lächelte traurig. Kleine Schwalbe, pick mein anderes Auge auch aus und bring es zu dem Mädchen, damit sie sich etwas freuen kann. Aber dann wirst du blind sein!, rief die Schwalbe. Bitte, kleine Schwalbe, tu es für mich, flüsterte der glückliche Prinz und sah so traurig aus, dass der Vogel tat, was der Prinz wollte. Nun kannst du nicht mehr sehen, sagte die Schwalbe, als sie zu dem Prinzen zurückkam. Ich bleibe von jetzt an bei dir. Aber deine Freunde warten auf dich an den schönen Ufern des Nils, protestierte der glückliche Prinz. Ich bleibe immer bei dir und sehe für dich mit, versprach die Schwalbe und schlief zwischen den Füßen des Prinzen ein. Am nächsten Tag flog die Schwalbe über die ganze Stadt und 452
Der glückliche Prinz erzählte dem glücklichen Prinzen, was sie gesehen hatte. Ich habe die reichen Leute in ihren schönen Häusern gesehen, bei denen es lustig zuging, und die Bettler, die ganz in der Nähe auf der Straße lagen, murmelte die Schwalbe. Ich habe alte Leute gesehen, die den ganzen Tag allein dasitzen und frieren, und kleine Kinder, die sich vor gemeinen Kerlen fürchten. Ich habe viel Leid und Elend gesehen. Kleine Schwalbe, sagte der Prinz, löse bitte mit deinem Schnabel das Blattgold von mir ab und flieg damit zu den armen Leuten meiner Stadt. Die kleine Schwalbe seufzte tief, tat aber, was der Prinz gesagt hatte. Die Statue des glücklichen Prinzen war nun stumpf und grau. Als der treue Vogel sich schließlich zwischen den Füßen seines Freundes niederließ, fing es in dicken, weißen Flocken an zu schneien. Die Straßen glänzten silbrig im Frost und Eiszapfen hingen wie Scherben aus Glas von den Dächern. Die kleine Schwalbe saß zitternd zu Füßen des glücklichen Prinzen und versuchte sich durch Flügelschlagen warm zu halten. Doch sie wusste, dass sie sterben würde. Mit ihrer letzten Kraft flog sie auf die Schultern des Prinzen. Leb wohl, glücklicher Prinz. Wir werden uns nicht wiedersehen. Ich bin froh, dass du dich endlich aufmachst in ein wärmeres Land, sagte der Prinz. Ich fliege nicht nach Ägypten, sagte die Schwalbe leise. Ich gehe für immer schlafen. Und sie küsste den 453
Königliche Abenteuer glücklichen Prinzen auf den Mund und fiel tot zu seinen Füßen nieder. In dem Augenblick kam ein seltsames Knacken aus dem Inneren des glücklichen Prinzen. Es war so laut, dass der Bürgermeister es hörte, der unten stand. Zum ersten Mal seit Monaten schaute er zu der Statue hoch. Ach du lieber Gott!, rief er. Wie ist der glückliche Prinz nur so schäbig geworden? Wir müssen ihn durch etwas anderes ersetzen. Schon am nächsten Tag zogen Arbeiter den glücklichen Prinzen von seiner Säule und warfen ihn in den Brennofen. Sie räumten die tote Schwalbe weg und setzten eine Statue des Bürgermeisters auf die Säule. Der glückliche Prinz merkte von all dem nichts, denn sein Herz war gebrochen. Und als die Arbeiter die Tür des Brennofens öffneten, sahen sie sein gebrochenes, bleiernes Herz dort liegen, denn es wollte nicht schmelzen. So warfen sie es auf den gleichen Abfallhaufen, auf dem auch die tote Schwalbe lag. Und als Gott zu seinen Engeln sagte, sie sollten ihm die zwei wertvollsten Dinge aus der Stadt bringen, da nahmen sie das Herz des glücklichen Prinzen und die kleine Schwalbe und brachten sie in den Himmel. 454