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Abitur 2007 Philosophie Grundkurs Seite 2 Hinweise für den Schüler Aufgabenwahl: Ihnen werden drei Prüfungsarbeiten vorgelegt (Block A, B und C). Wählen Sie einen Block aus und bearbeiten Sie diesen. Bearbeitungszeit: Die Bearbeitungszeit beträgt 210 Minuten. Zusätzlich werden 30 Minuten Einlesezeit für die Wahl der Aufgaben gewährt. Hilfsmittel: Wörterbuch zur deutschen Rechtschreibung Sonstiges: Alle Prüfungsunterlagen sind geschlossen zurückzugeben. Entwürfe zur Reinschrift können ergänzend zur Bewertung nur herangezogen werden, wenn sie zusammenhängend konzipiert sind und die Reinschrift etwa ¾ des erkennbar angestrebten Gesamtumfangs umfasst.

Abitur 2007 Philosophie Grundkurs Seite 3 Block A Thema: Textgrundlage: Metaphysik der Antike Platon, Über die Seele. In: Phaidon oder von der Unsterblichkeit der Seele, nach der Übersetzung v. F. Schleiermacher, Reclam, Stuttgart 1984, S. 56 ff. Aufgaben: 1. Arbeiten Sie aus dem Text die Kernaussagen heraus. Leiten Sie das Verhältnis von Platon/Sokrates zum Tod ab. 2. Sokrates behauptet:...solange Seele und Leib beisammen sind, gebietet die Natur dem letzteren zu dienen und zu gehorchen... (Zeile 27 f.) Erörtern Sie diese These im Vergleich mit einer weiteren Ihnen bekannten philosophischen Auffassung. 3. Manche sagen, Metaphysik sei zweifelhaft spekulativ, unwissenschaftlich, sinnlos oder Gedankenspielerei. Diskutieren Sie diese Position kritisch. Überlegen Sie dabei, was eine philosophische Beschäftigung mit Metaphysik heute leisten kann. Gewichtung der Aufgaben: 3 : 4 : 3 5 10 15 20 Sokrates: Wollen wir also zwei Arten der Dinge annehmen, eine sichtbare und eine unsichtbare? Kebes: Das wollen wir. Sokrates: Und die unsichtbare als immer sich gleichbleibend, die sichtbare aber als niemals sich gleichbleibend. Kebes: Auch das wollen wir annehmen. Sokrates: Wohlan denn, ist nicht von uns selbst das eine der Körper und das andere Seele? Sokrates: Welcher von jenen beiden Arten wird nun wohl unser Körper ähnlicher und verwandter sein? Kebes: Das ist doch wohl jedem klar, der sichtbaren. [...] Sokrates: Was sagen wir nun von der Seele? Ist sie sichtbar oder nicht sichtbar? Kebes: Nicht sichtbar. Sokrates: Also unsichtbar. Kebes: Ja. Sokrates: Die Seele ist also dem Unsichtbaren ähnlicher als der Körper, dieser aber dem Sichtbaren. Kebes: Unbedingt, mein Sokrates. Sokrates: Haben wir nicht auch das vorhin schon gesagt, dass die Seele, wenn sie sich des Leibes bedient, um etwas zu betrachten, sei es durch das Auge oder das Ohr oder irgendeinen anderen Sinn [...], dass sie dann selbst schwankt und irrt. [...] Wenn sie aber durch sich selbst

Abitur 2007 Philosophie Grundkurs Seite 4 25 30 35 40 45 50 55 60 65 70 betrachtet, wendet sie sich nach jener Seite hin zu dem Reinen, Ewigen, Unsterblichen und sich stets Gleichbleibenden.[...] Und eben dieser Zustand der Seele heißt doch Vernunfterkenntnis. [...] Betrachte die Sache auch von dieser Seite: solange Seele und Leib beisammen sind, gebietet die Natur dem letzteren zu dienen und zu gehorchen, der ersteren aber zu befehlen und zu herrschen. Welches von beiden dünkt dich nun, die Sache von dieser Seite betrachtet, dem Göttlichen ähnlich zu sein und welches dem Sterblichen? Oder scheint dir nicht das Göttliche von Natur zum Herrschen und Regieren, das Sterbliche aber zum Gehorchen und Dienen bestimmt zu sein? Sokrates: Welchem von beiden gleicht nun die Seele? Kebes: Die Seele, mein Sokrates, offenbar dem Göttlichen, der Leib aber dem Sterblichen. Sokrates: Sieh nun zu, mein Kebes, ob sich für uns aus alldem, was gesagt ist, nicht Folgendes ergibt: Dem Göttlichen, Unsterblichen, Geistigen, Eingestaltigen, Unauflöslichen und immer sich völlig Gleichbleibenden ist die Seele am ähnlichsten, dem Menschlichen, Sterblichen, Ungeistigen, Vielgestaltigen, Auflöslichen und niemals sich selbst Gleichbleibenden dagegen der Leib. Können wir, mein lieber Kebes, etwas dagegen einwenden, dass dem also sei? Kebes: Nein. Sokrates: Wie nun? Wenn dem so ist, kommt es dann nicht dem Körper zu, sich rasch aufzulösen, der Seele dagegen, ganz und gar oder nahezu unauflöslich zu sein? Kebes: Natürlich. Sokrates: Und du bemerkst doch, dass nach dem Tode des Menschen dem Sichtbaren an ihm, [...] dem Leichnam, wie wir es nennen, dem es doch zukommt, sich aufzulösen und zu zerfallen und verweht zu werden, nicht gleich etwas hiervon widerfährt, sondern dass er noch eine ziemlich lange Zeit so bleibt, und zwar recht lange, wenn ein Mensch in der Anmut und Schönheit der Jugend stirbt. Und wenn ein vor Alter bereits eingefallener Körper einbalsamiert wird, wie es die Ägypter tun, so hält er sich fast undenkliche Zeit. Ja, einige Teile des Leibes, wie Knochen, Sehnen und alles dergleichen sind, wenn auch der übrige Leib schon verfault ist, sozusagen unsterblich. Oder nicht? Sokrates: Und die Seele, das Unsichtbare, die nach einem ihrem Wesen ähnlichen Orte hinzieht, einem edlen, reinen und unsichtbaren Orte, dem wahren Hades, zu dem guten und weisen Gotte, wohin, so Gott will, alsbald auch meine Seele zu gehen hat diese Seele, die so beschaffen und geartet ist, sollte nach ihrer Trennung vom Körper sogleich verweht werden und untergehen, wie die meisten Menschen behaupten? Weit gefehlt, mein lieber Kebes und Simmias! Vielmehr verhält es sich so: Wenn die Seele sich lauter und rein vom Körper trennt, ohne etwas von ihm mit sich zu ziehen, da sie ja im Leben freiwillig nichts mit ihm gemein hatte, sondern ihn floh und sich auf sich selbst zurückzog und immer darauf bedacht war, was doch nichts anderes heißen will, als dass sie recht philosophierte [...], hieße dies nicht auf den Tod bedacht sein? Sokrates: Ist sie nun in dieser Verfassung, geht sie doch zu dem ihr ähnlichen Unsichtbaren, dem Göttlichen, Unsterblichen und Vernünftigen. Wenn sie aber dorthin gelangt, wird ihr Glückseligkeit zuteil, und sie ist von Irrtum und Unwissenheit, Furcht und wilder Liebesglut und allen anderen menschlichen Übeln befreit, indem sie wirklich, wie es von den Eingeweihten heißt, die übrige Zeit mit den Göttern vereint lebt. Wollen wir uns dahin erklären, mein Kebes, oder anders? Kebes: So, beim Zeus. [...]

Abitur 2007 Philosophie Grundkurs Seite 5 Block B Thema: Textgrundlage: Anthropologie Thure von Uexküll (1908-2004): Die menschliche Welt. In: Der Mensch und die Natur, Francke, Bern 1953, S. 245 f. Aufgabe: Schreiben Sie einen Essay, in dem Sie sich mit der Auffassung des Autors auseinander setzen. Stellen Sie dazu Ihre eigene philosophische Vorstellung vom Menschen begründet dar. Beziehen Sie in Ihre Argumentation weitere anthropologische Positionen ein. Text: 5 10 Sobald wir nach unserer menschlichen Welt fragen, steht uns immer wieder die Geschlossenheit und Sicherheit der tierischen Welten vor Augen, die wir bewundern und nach denen uns eine vergebliche Sehnsucht ergreift. Die Tiere leben, wie J. von Uexküll 1 uns gezeigt hat, in ihren artgemäßen Umwelten. Der Mensch aber muss sich seine Welt aufgrund von Entwürfen aufbauen, die er selber erfindet. Darum hat der Mensch keine Umwelt. Doch was hat er dann? Hat er Welt? Die einzige Welt, die er besitzt, ist aus seinen Entwürfen gebaut. Diese Entwürfe sind jedoch, wie wir gesehen haben, nicht etwa auf Erfahrung gegründet, sondern sie dienen der Erfahrung und werden mit jedem Erfahren von neuem infrage gestellt; denn ihr letzter Sinn besteht ja darin, sich ihr eigenes Gelingen oder Versagen widerfahren zu lassen. Sie bleiben Hypothesen, die in jedem Augenblick durch andere Hypothesen ersetzt werden können. Nur so ist der Mensch für den Zugriff des Objektiven gerüstet, nur so ist er offen. Verschließt er sich aber in seine Hypothesen, indem er sich mit ihnen identifiziert, so wird sein Leben bei der nächsten Gelegenheit zerschlagen. 1 Jakob von Uexküll (1864-1944) gilt als Begründer der biologischen Umweltforschung

Abitur 2007 Philosophie Grundkurs Seite 6 Block C Thema: Textgrundlage: Aufgaben: Naturphilosophie Ilya Prigogine, Isabelle Stengers: Natur als offener Prozess. In: Dialog mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens, Piper, München 1981, S. 10-18, 176f., 197, 284 Isabelle Stengers ist Philosophin und Schülerin des Chemie- Nobelpreisträgers Ilya Prigogine (1917-2003). 1. Fassen Sie den Gedankengang der Autoren thesenartig zusammen. 2. Erläutern Sie, welche Konsequenzen sich aus den jeweiligen Positionen im Text für den Menschen als erkennendes und als handelndes Wesen ergeben. 3. Diskutieren Sie die Idee der von Prigogine geforderten Kommunikation mit der Natur. Gewichtung der Aufgaben: 2 : 4 : 4 5 10 15 20 Die großen Begründer der abendländischen Wissenschaft betonen Universalität und den ewigen Charakter der Naturgesetze. Ihnen ging es um die Formulierung allgemeiner Schemata, die geradezu mit der Definition der Rationalität identisch sein sollten. In der Einleitung zu Berlins 1 Against the Current ist es sehr schön ausgedrückt: Sie suchten nach allumfassenden Schemata, nach universellen einheitlichen Rahmen, innerhalb derer gezeigt werden konnte, dass alles, was existiert, systematisch d. h. logisch oder kausal miteinander verknüpft ist, sie suchten nach umfassenden Strukturen, in denen es für spontane, unerwartete Entwicklungen keine Lücken geben sollte, in denen alles, was geschieht, zumindest im Prinzip vollkommen durch unwandelbare allgemeine Gesetze erklärbar sein sollte. Es ist eine dramatische Geschichte. Es gab in der Tat Augenblicke, als dieses ehrgeizige Programm kurz vor seiner Vollendung zu stehen schien. [ ] Die Naturwissenschaften haben sich somit auf der makroskopischen wie auf der mikroskopischen Ebene von einer Konzeption der objektiven Realität befreit, die glaubte, das Neue und das Mannigfaltige im Namen eines unwandelbaren universellen Gesetzes leugnen zu müssen. Sie haben sich von einer Faszination freigemacht, die uns die Rationalität als etwas Geschlossenes und die Erkenntnis als etwas Abschließbares erscheinen ließ. Dadurch sind sie offen geworden für das Unerwartete, das sie nicht länger zum Resultat einer unvollkommenen Erkenntnis oder einer unzureichenden Kontrolle erklären. Sie haben sich dem Dialog mit einer Natur geöffnet, deren Inhalt nicht durch eine alles beherrschende Rationalität erschöpft werden kann. [ ] Wir gehen einer neuen Synthese entgegen, einer neuen Naturauffassung, in der die abendländische Tradition, die das Experiment und die quantitative Formulierung betont, sich mit der chinesischen Tradition verknüpft, in deren Mittelpunkt die Auffassung von einer

Abitur 2007 Philosophie Grundkurs Seite 7 25 30 spontan sich selbst organisierenden Welt steht. Jede große Epoche der Wissenschaft hat ein bestimmtes Modell der Natur entwickelt. Für die klassische Wissenschaft war es die Uhr, für die Wissenschaft des 19. Jahrhunderts, der Epoche der industriellen Revolution, war es der Motor, der irgendwann nicht mehr weiterläuft. Was könnte für uns das Symbol sein? Wir stehen vielleicht den Vorstellungen Platons näher, der die Natur mit einem Kunstwerk verglich. Statt die Wissenschaft durch den Gegensatz zwischen Mensch und Natur zu definieren, sehen wir in der Wissenschaft eher eine Kommunikation mit der Natur. 1 Isaiah Berlin lehrte Sozialphilosophie und politische Theorie in Oxford.